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Das „wie alles begann“ – Kapitel
ОглавлениеDas war nicht so toll, eher so eine Art Studentengag, der allerdings nach hinten losging und mich teuer zu stehen kommen sollte. Sehr teuer. Ich war damals noch ganz jung. Gerade zwanzig. Ich hatte eine Berufsausbildung zum Speditionskaufmann erfolgreich hinter mich gebracht, ich hatte einen gut bezahlten Job in der Export-Abteilung eines internationalen Logistik-Unternehmens. Ich kam viel rum, reiste beruflich durch ganz Europa, hatte hier und da was am Laufen und hätte glücklich sein können.
Vielleicht hätte ich es sogar sein sollen. War ich aber nicht. Ich war unzufrieden. Ich wollte nicht ein Leben lang irgendwelche Waren von irgendwelchen Herstellern in irgendwelche Länder exportieren, damit sie dort von irgendwelchen Menschen konsumiert werden. Ein Leben lang im Büro sitzen, auf Bildschirme starren, mich mit dem Zoll herumschlagen und stapelweise Formulare ausfüllen. Ich hasste Papier schon damals. Das wollte ich nicht. Da musste noch mehr sein. Ich wollte noch einmal ganz von vorne beginnen, etwas ganz Anderes machen. Und wenn nicht jetzt, wann dann? Noch war ich jung, noch hatte ich keinerlei Verpflichtungen oder Verbindlichkeiten, die mich fesseln konnten.
Dem Speditör ist nix zu schwör, aber Harry mag nicht möhr.
Also beschloss ich, zu studieren.
Aber was? Was lag mir? Wofür interessierte ich mich? BWL? Jura? Physik?
Für Jura bin ich zu intelligent, für BWL nicht korrekt genug und für Physik einfach zu blöd. Obwohl gerade Astrophysik mich wahnsinnig interessierte. Das fand ich unheimlich spannend. Immer schon. Allein die schier unendlichen Dimensionen des Weltalls, die Unfassbarkeit von Raum und Zeit überforderten meinen damaligen Vorstellungshorizont schon gewaltig. Dafür war ich zu blöd.
Geschichte, Politik, Soziologie oder Philosophie, das konnte ich mir vorstellen. Daran war ich schon immer interessiert und in der Rolle des nachdenklichen und etwas abgerockten Philosophen gefiel ich mir auch ganz gut. Diskutieren konnte ich schon immer. Mein Vater nannte das Labern.
Zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Was konnte es Spannenderes geben? Was konnte es Verlockenderes geben, als im schwarzen Rollkragenpullover bei Rotwein und selbst gedrehten Zigaretten über die existentiellen Fragen des Lebens zu sinnieren? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Wo ist der Sinn? Was, bitte, denke ich denn, was ich bin? Fragen über Fragen..., und warum, verdammt nochmal, ist Abkürzung eigentlich ein so langes Wort? Ja, Philosophie, das wäre genau das Richtige für mich.
Zumal mich seit dem tragischen Tod meiner Freundin Claudia die Frage nach Sinn und Unsinn des Lebens schon ziemlich umhertrieb. Claudia war doch tatsächlich als Austauschschülerin in Frankreich nach einer Gehirnerschütterung, die sie sich bei einem Basketballspiel zuzog, in der Badewanne nach einem Kreislaufkollaps ertrunken. Einfach so. Sie wurde nur sechzehn Jahre alt. Ich war siebzehn. Klammer auf: Echt wahr! Klammer zu. Ich war so unendlich traurig, so erschüttert, so wütend und vor allem so fassungslos. Ja, ich war vollkommen fassungslos. Ich wusste nicht, ob das alles ein schlechter Scherz sein sollte, was das Leben mir - und natürlich vor allem ihr - da zugemutet hat. Oder war das alles nur ein blöder Unfall? Gab es so etwas wie Zufall oder steckte ein dunkles Fatum dahinter? War das alles Bestimmung? Und wenn, wer hat das bestimmt? Das Schicksal? Ein allmächtiger Gott? Und wenn Gott, was ist denn das für einer, der so einen Scheiß bestimmt? Wenn der so allmächtig ist, hatte er dann nichts Besseres zu tun? Weltfrieden, Hunger, Ungerechtigkeit, Abschaffung der Wehrpflicht und des Dosenpfands? Da gab es doch in dieser Welt nun wirklich genug zu tun für einen allmächtigen Gott. Musste er mich doch nicht drankriegen! Aber wenn er allmächtig ist, nur mal angenommen - ich wusste ja, dass es gar keinen Gott gibt - hat er dann auch bestimmt, dass ich mit drei Jahren vor unserer Haustür überfahren wurde und das, wenn auch schwer verletzt, überleben sollte? Oder dass ich mit dreizehn Jahren nach einem Fahrradunfall einen Schädelbasisbruch erlitt, den ich auch - wiederum nur mit Not - überlebt habe? Klammer auf: Leider auch wahr! Klammer zu. Warum hat er das so bestimmt? Wie kommt er auf sowas? Und warum sollte ich das alles überleben? Hatte Gott, dessen Existenz ich mit Nachdruck vehement verneinte, etwas mit mir vor? Oder wollte er es mir nur mal zeigen? Nur mal so? Oder war mein Überleben vielleicht nur der verzweifelten Gegenwehr des nicht sterben wollenden Lebens gegen einen bösartigen Gott geschuldet? Was sollte das alles? Ja, das Leben hat mich innerlich schon früh in den schwarzen Rollkragenpullover gesteckt. Fragen hatte ich also genug. Fehlten noch die Antworten.
Philosophie also. Dem Philosoph‘ ist nix zu doof. Die Entscheidung stand. Ich werde Philosoph.