Читать книгу Einstein, Gott und meine Brüder - Harry Flatt-Heckert - Страница 12
Neues Kapitel
ОглавлениеMeine Eltern redeten auf mich ein, versuchten mich von meinem Entschluss abzubringen, zählten mir all die wunderbaren Vorteile auf, die mein Verbleiben in meinem Beruf haben würde, inklusive Firmenwagen und Weihnachtsgeld. Sie malten mir einerseits meine Zukunft in den hellsten Farben aus, wenn ich mir doch bloß diesen Schwachsinn aus dem Kopf schlagen würde, und sagten mir andererseits eine überaus bedrohliche und düstere Zeit voraus für den Fall, dass nicht. Finanzielle Armut, moralische Verwahrlosung und gesellschaftliche Isolation würden mir im günstigsten Falle drohen. "Wovon willst du denn leben, Junge!? Glaubst du denn, du kannst uns dann jahrelang auf der Tasche liegen? Du stellst dir das alles so einfach vor!" Das stimmte. Ich stellte mir das alles so einfach vor. Ganz einfach.
Für meinen Vater war das alles schlicht Stuss. Das war übrigens eine seiner Lieblingsaussagen, wenn er mal wieder meinte, dass ich - oder mein kollektiviertes wir - irgendeine "falsche" Meinung vertraten. "Red' nich' so'n Stuss!" Überhaupt war alles Stuss, was nicht in sein Weltbild oder seinen Horizont passte.
Aber ich wollte mich nicht beirren lassen. Ich wollte studieren. Philosophie. Jetzt. Am liebsten an der Augustana in Rom, oder in Oxford oder von mir aus auch in Paderborn. Aber ich wollte studieren, nein, ich musste studieren, endlich herausfinden, was wieso, weshalb und warum diese Welt am Drehen hält. Koste es, was es wolle.
Ich wollte einen schwarzen Rollkragenpullover, ich wollte Rotwein trinken, selbstgezwirbelte Zigaretten rauchen, ein Buch in der Hand und ein ernstes Gesicht machen. So stellte ich mir das vor. Vor allem das mit dem ernsten Gesicht fand ich sehr reizvoll und natürlich auch wichtig. Nicht so dumm aus der Wäsche gucken wie die Anderen. Nicht so gleichgültig und ignorant mit offenem Mund das Weltgeschehen an mir vorüberziehen lassen, wie die meisten meiner Mitmenschen. Ich wollte nicht sein wie die, denen man durch die Augen direkt auf die Rückwand der Schädeldecke schauen konnte. Nein, ich würde künftig den Lauf der Dinge kritisch betrachten, mit hellwachem Blick auf das, was um mich herum und in der großen weiten Welt geschieht.
Apropos Blick! Ich brauchte eine neue Brille. Die Brille, die ich mir zu Beginn meiner Lehre gekauft hatte, ging gar nicht mehr. Viel zu businesslike, viel zu modern und angepasst, viel zu sehr dem Establishment geschuldet, dem ich ja nun zu entfliehen plante. Die ging jetzt gar nicht mehr. Ich brauchte eine andere, eine, die zu meinem künftigen Gesichtsausdruck passen würde. Ein Gesichtsausdruck, der mein fragendes Fragen, mein wissendes Wissen und meine düsteren Ahnungen wiederspiegeln sollte. Eine Goldrandbrille. Das war es. Eine Goldrandbrille wie Jean-Paul Sartre sie hatte - obwohl der nie eine Goldrandbrille trug, sondern Rundbrillen aus Horn -, Hermann Hesse oder Albert Camus, - der übrigens nie eine Brille brauchte -. Aber so stellte ich mir das eben vor. Ich stellte mir das sowieso alles so einfach vor. Ich sollte das noch bereuen. Später.
Was bräuchte ich noch? Die Brille hatte ich nun. Noch ein paar schwarze Rollis, und natürlich eine Pfeife, auch wenn ich viel lieber selbstgedrehte Zigaretten rauchte. Das hatte ich übrigens von meinem Opa gelernt. Der verachtete Filterzigaretten als unsinnlich und pflegte zu sagen: Filterzigaretten rauchen, das ist so, als würde man eine Frau durch einen Strohhalm küssen. Ich liebte meine Oma, aber hätte in ihrem Fall wahrscheinlich den Strohhalm vorgezogen. Also eine Pfeife. Ich hasste Pfeiferauchen, das brannte so auf der Zunge, aber ich hielt die Pfeife für einen unverzichtbaren Ausrüstungsgegenstand für jeden Philosophen. Was noch? Eine alte, abgewetzte Ledertasche, in der ich meine Bücher und kryptischen Aufzeichnungen in ein möglichst französisches Bistro tragen konnte, und natürlich Rotwein. Französischen Rotwein, versteht sich.
Ich wusste sehr genau was ich wollte. Damals im Mai 1982. Das nächste Wintersemester, mit dem ich mein Studium beginnen wollte, war noch weit weg. Zeit genug, um mich als Freizeitphilosoph zu betätigen.
Ich suchte einschlägige Studentenkneipen in Hannover auf, saß wichtig und mit meinem neuen, zugegebenermaßen noch zu perfektionierenden Gesichtsausdruck, in der Gegend herum. Ich breitete wahlweise demonstrativ das Feuilleton der FAZ oder die ganze taz vor mir aus, sprach geheimnisvolle und mehr oder minder klug klingende Sätze laut vor mich hin, als befände ich mich in einem inneren Dialog mit mir selbst oder dem Autor des Buches, das ich gerade las, rauchte die Zigaretten, die kein Strohhalm sein sollten Klammer auf: Die Pfeife bekam ich einfach nicht durch den Hals. Klammer zu., trank Rotwein oder schwarzen, starken Kaffee - natürlich würde ich lieber behaupten können: ich trank Espresso, aber den gab es damals in Hannover noch gar nicht - und mischte mich ungefragt in Gespräche anderer Leute ein. Erstaunlich eigentlich, dass ich fast nie ein Arschvoll bekommen habe.
Meine Wohnung glich in dieser Zeit - ich war schon mit Beginn meiner Lehre von zuhause ausgezogen - dem Bild "Der arme Poet" von Carl Spitzweg. Nur, dass in meiner Wohnung mehr Rotweinflaschen zu sehen waren. Vor allem leere. Ja, ich war bereit für mein neues Leben. Ich glaube, meine Freunde bewunderten mich damals. Oder sie hielten mich für schlichtweg bekloppt.