Читать книгу Einstein, Gott und meine Brüder - Harry Flatt-Heckert - Страница 23
Ein Ernüchterungskapitel
ОглавлениеPaul war nicht mein Sohn. Er war das Kind eines anderen, wie sich herausstellte. Sie hatte einen anderen Mann kennengelernt und dann ist es wohl irgendwann passiert. Aber nun war er da, der Paul, mein Sohn, und da er in eine bestehende Ehe hineingeboren wurde, war er nun mal rechtlich mein Sohn. Und das sollte er auch bleiben. Bis heute. Gott sei Dank.
Heike ist dann irgendwann abgehauen, wollte sich mit ihrem neuen Lover ein neues Leben aufbauen und ließ das Kind bei mir. Mitten im Examen. Tolle Nummer. Aber so war das nun. Ich musste lernen, ich musste arbeiten, ich musste Rasen mähen und das Haus clean halten und ich musste mich um meinen Sohn kümmern.
Der war damals gerade ein halbes Jahr alt und noch nicht mal abgestillt. Heike war einfach weg. Von einem auf den anderen Tag. Schmiss das Studium, ließ alles stehen und liegen und war weg. Ich wusste nicht mal, wo. Wo ist weg? Niemand, wenn wir ehrlich sind, weiß wo das ist.
Und ich war allein. Ursel und Wolf-Johann hielten den Stress bei uns im Haus nervlich irgendwann nicht mehr aus und zogen zurück ins Studentenwohnheim. Sie wollten, sie mussten sich jetzt ganz auf ihr Examen konzentrieren. Christliche Nächstenliebe kam für sie wohl erst nach dem Examen dran, vielleicht erst dann, wenn sie endlich ihr heiß ersehntes Pfarramt innehätten. Nächstenliebe von Amtswegen sozusagen. Wer wollte es ihnen verdenken? Ich habe sie nach dem Studium nie wiedergesehen.
Ich war also ganz auf mich selbst gestellt. Aber ich wollte das alles schaffen, wollte es allen zeigen, dass ich das alles schaffen konnte.9 Mein Studium beenden, meinen Sohn versorgen, den Haushalt schmeißen, ordentliches Bier zapfen, ich selbst bleiben, alles.10
Vor allem meinen Eltern wollte ich es zeigen, denn sie meinten doch ernsthaft, ich solle gefälligst dafür sorgen, dass Paul wieder zu seiner Mutter kommt. Wie ich mir das denn alles vorstellen würde, so als alleinerziehender Vater? Ich müsste doch jetzt an meine Zukunft denken, an mein zukünftiges Leben als Pfarrer in einer Kirchengemeinde. Das geht doch so nicht. Und außerdem, ein Kind gehört zu seiner Mutter und für meinen weiteren Weg wäre so ein Kind doch nur ein Klotz am Bein. Ich würde mir das alles so einfach vorstellen.11
Dabei stimmte das diesmal gar nicht. Ich stellte mir das gar nicht einfach vor. Ich wollte mir am liebsten gar nichts vorstellen. Im Gegenteil. Ich hatte sogar einen Riesenschiss. Davor, wie ich das alles wuppen sollte, wuppen konnte, wuppen würde. Ich hatte keinen Plan. Gar keinen. Und Pastor werden? Das wollte ich immer noch nicht. Auf gar keinen Fall. Ich war schließlich Student. Ich wollte nicht irgendetwas werden. Ich war doch schon etwas. Klar, ich wollte mein Studium beenden, aber doch nicht, um anschließend Pastor in irgendeiner verstaubten Kirchengemeinde zu werden. Ich doch nicht! Ich war doch ein Suchender!
Aber irgendwie hatte ich in der Zeit auch gar keinen Bock mehr auf meinen schwarzen Rollkragenpullover. Der war gar nicht schwarz genug, um meine Stimmung auszudrücken. Die war unten, ganz unten.
"Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühen.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor."
Heißes Bemühen. Pah! Goethe konnte mich mal. Statt zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält musste ich erkennen, was es heißt, einen kleinen Kackarsch zu säubern, ohne mich zu übergeben, blöde Kinderlieder zu singen und Eititei zu machen.
Zum Glück hatte ich noch meinen Kneipenjob. Wenn ich in der Bier-Akademie arbeiten durfte, war die Welt wieder in Ordnung. Dann roch die Welt nach Bier und Zigarettenrauch. Das war mir vertraut. Hier war ich Mensch, hier wollt' ich sein. Bei mir zuhause roch es nach Windeleimer und erbrochenem Babybrei. Wo war ich bloß hingekommen? Da wollt' ich nie hin, das macht doch kein' Sinn, was, bitte, denken die denn, wer ich bin? Aber es half ja nichts. Ich war nicht mal mehr so klug als wie zuvor, ich war eindeutig der Dumme. Goethe stellte sich das alles so einfach vor. War es aber nicht. Aber Goethe war schon tot und was sollte ich ihn heute noch mit meinen Gedanken verunsichern? Also Augen zu und durch.
Als erstes musste ich meinen Sohn abstillen. Dass erwies sich glücklicherweise als nicht annähernd so schwierig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Das hatte ich mir nämlich gar nicht einfach vorgestellt. Aber offenbar war es Paul vollkommen egal, was man ihm da in den Mund schob. Hauptsache, es gibt was zu essen.
Klammer auf: Das ist übrigens bis heute so. Der Bengel kann essen, essen, essen, essen und bleibt dabei dennoch gertenschlank. Beneidenswert. Das macht der bis heute so. Auf Familienfeiern isst er alles auf, was die anderen Gäste einfach nicht mehr durch den Hals kriegen. Alles. Er ist immer erst dann satt, wenn es nichts mehr gibt. Klammer zu.
Das Abstillen war also gar kein Problem. Milchfläschchen in den Hals und fertig. Der kleine Hosenscheißer verschlang sein Fläschchen, pupste vergnügt und schlief dann immer hochzufrieden ein.
Dennoch hatte ich es nicht leicht mit ihm. So ein Kind macht dann doch viel Arbeit. Das hatte ich mir leichter vorgestellt.
In dieser Zeit hielten eigentlich nur zwei Menschen zu mir. Max, ein Kommilitone, der zum Glück so ganz anders war, als meine anderen Mitstudenten. Und Suse. Auch Max wollte eigentlich gar nicht Pastor werden. Er studierte der reinen Erkenntnis wegen. Wie ich. Er war genauso ein Freibeuter der Geisteswissenschaften, wie ich mich dafürhielt. Max war großartig. Er war mit Sanne, einer rothaarigen und entsprechend temperamentvollen Tänzerin verheiratet, die ständig in ihrer gemeinsamen Wohnung auf ihn wartete. Und wartete. Max war blitzintelligent und chronisch schlecht gelaunt. Die Bürde der Erkenntnis lastete meist schwer auf seinem Gemüt. Er drehte, wie ich, seine Zigaretten selbst, er trank Unmengen Rotwein, er las viel und trug schwarze Rollkragenpullover. Wie ich. Ein Bruder. Und Max war ein Dösbaddel. Wie ich. Ich war also doch nicht allein auf dieser Welt.
Er schmiss alles um, stieß fortwährend irgendwo gegen, riss mit dem Hintern um, was er mühsam mit den Händen aufgebaut hatte, verletzte sich ständig selbst und empfand sowieso seinen Körper als reines Machwerk des Teufels, der dem reinen Denken nur hinderlich im Wege stand. Am liebsten hätte Max nur aus seinem Kopf bestanden. Und Max war der Patenonkel von Paul und mein bester Freund.
Suse war eine, etwas abgehalfterte Prostituierte, vielleicht Mitte, Ende Dreißig, die zufällig in mein Leben stolperte. Honni soit qui mal y pense. Nee, nee, wir hatten nix. Das und die hätte ich mir auch gar nicht leisten können. Wir lernten uns in der Bier-Akademie kennen. Und sie passte hervorragend in mein Leben und zu meinem Selbstbild. Suse war eine wunderbare Frau. Witzig, spontan, über alle Maßen fröhlich, herrlich versaut und nahm das Leben, wie es kam. Sie hatte eine Tochter von damals vielleicht achtzehn Jahren. Silvia oder so. Das war mir nicht wichtig. Das war ihre Sache. Vor allem war Suse unglaublich verlässlich. Sie war oft für mich da, passte auf Paul auf, wenn ich über meiner Examensarbeit grübelte oder in der Akademie arbeiten musste, sie ging für uns Einkaufen und war einfach immer zur Stelle, wenn ich sie brauchte. Und ich brauchte sie damals oft. Leider haben wir uns irgendwann, später, viel später, aus den Augen verloren. Schade. Aber noch war sie ja da. Sie half mir, wo sie konnte und war aus meinem damaligen chaotischen Leben nicht mehr heraus zu denken, Ohne sie wäre ich wohl durchgedreht.