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Paul, Frauen und Vikariat
ОглавлениеUnd so beendete ich trotz aller inzwischen angesammelten Widrigkeiten mein Studium im Sommer 1989 mit dem ersten Staatsexamen. Mein Philosophicum hatte ich schon zwei Jahre vorher abgelegt. Ich hatte es geschafft. Ich war examinierter Aushilfs-Philosoph und halbvoller Theologe12. Ich hatte es geschafft, allen Unkenrufen zum Trotz. ich hatte es sogar ganz gut geschafft. Gesamtnote: 1. Dank Max und Suse habe ich das alles irgendwie geschafft.
Und dank Pauls, dann doch recht unkomplizierten Art. Er war nie wirklich krank, er schlief viel, ließ mich arbeiten, lernen und wenn er satt war, dann war er einfach zufrieden mit sich und der Welt. Und ein bisschen wohl auch mit mir. Wir waren ein gutes Team. Und ich fand, er stand mir. Er stand mir wirklich gut.
Wenn wir beide mit dem Kinderwagen durch die Stadt zogen, ins Café oder in irgendeine Kneipe gingen, dann zogen wir schnell die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen auf uns. Vor allem die Aufmerksamkeit der Frauen. Ja, die Frauen standen auf uns. Sie fanden uns unheimlich süß. Mittlerweile hatte ich die Goldrandbrille gegen eine echte Jean-Paul-Sartre-Gedächtnis-Brille eingetauscht - ich war ja nun schlauer - trug wieder selbstbewusst und selbstzufrieden meinen schwarzen Rollkragenpullover und vermittelte einen souveränen und abgeklärten Eindruck. Ich war einer, der nicht anders konnte, als er konnte. Ich war das fleischgewordene Pendant zum Protagonisten aus Max Frischs "Homo Faber", der sich in sein eigenes, zum Machen verdonnertes Dasein, völlig verstrickt hatte. So wie ich. Zumindest sah ich das so. Aber man braucht ja so etwas wie ein Selbstbild. Meins war nun also Faber. Ich war zufrieden und so wollte ich auch rüberkommen. Zufrieden, weise - aber doch hungrig. Hungrig auf Sabeth, das Leben, Fabers unbekannte Tochter - die er in seiner Liebe zu ihr verloren hatte. Und sich selbst. Aber das wusste er ja nicht.
Klammer auf: Das schien mir damals das Wesen der Tragödie zu sein. Keiner weiß, warum, aber gelitten wurde auf allen Seiten. Klammer zu.
Sollte das Leben doch kommen! Mich konnte nichts mehr erschüttern. Die Frauen mussten mich lieben. Und wenn sie mich beißen wollten, tödlich vielleicht sogar, dann jetzt. 13
Vor allem Paul entpuppte sich als echter Womanizer. Mit seiner fröhlichen Art machte er so manche Frau schwach und damit für seinen Papa klar. Dafür muss ich mich bei Gelegenheit noch mal bei ihm bedanken.
Von Heike hatten wir beide schon lange nichts mehr gehört. Ich hatte keine Ahnung, wo sie steckte oder was sie machte. Ich wollte das auch gar nicht wissen. Viel schlimmer war, dass ich auch überhaupt keine Ahnung hatte, was ich denn nun machen sollte. Examen in der Tasche, und nun? Normalerweise schließt sich ja an das erste Staatsexamen das Vikariat an. So etwas Ähnliches wie das Referendariat bei Lehrern. Da geht man quasi ein Jahr lang bei einem Pastor, dem Vikariatsvater, in die praktische Ausbildung. Man kauft sich so einen lächerlichen schwarzen Mantel, den Talar, der die Würde des Amtes betonen soll, wickelt sich ein reines, weißes Beffchen um den Hals, das für die unbefleckte Reinheit steht, übt sich im Predigen, Beerdigen, Trauen, Taufen, Konfirmanden nerven und darin, diesen merkwürdig erlösten und beseelten Gesichtsausdruck, wie nur Pfarrer ihn haben, einzustudieren. Wie kriegen die das bloß hin? Mein Gesichtsausdruck war nie beseelt. Wovon auch? Und wozu? Und natürlich musste man diese gestelzte Sprache lernen, die die Pfaffen gleichsam mit dem Talar anzuziehen scheinen. All das, was ich nicht wollte. Auf gar keinen Fall. Und noch einen "Vater" wollte ich schon gar nicht. Davon hatte ich die Schnauze voll.
Auf der anderen Seite wollte ich natürlich mein Studium richtig zu Ende bringen, also auch noch das zweite Staatsexamen machen. Sonst wäre es nix Halbes und nix Ganzes. Ich wollte endlich mal etwas zu Ende bringen. Das setzte aber nun mal das Vikariat voraus. Zumal sich daran noch das Hauptstudium II anschließt, in dem man zwei Semester lang seine praktischen Erfahrungen reflektiert und zu seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Hauptstudium I ins Verhältnis setzt. Das reizte mich, hoffte ich doch, genau in dieser Reflektionsphase nun endlich - und dann wohl auch hoffentlich ein für alle Mal - den heiligen Gral der Erkenntnis, der sich bisher so vehement vor mir versteckte, zu finden. Ich hatte ja damals überhaupt keine Ahnung davon, wer den schon alles erfolglos gesucht hatte und der Welt - wahrscheinlich aus blanker Verzweiflung heraus - irgendeinen billigen Becher als eben jenen Gral verkaufte. Eine große Hausarbeit und die mündliche Prüfung krönen das Ganze dann.
Außerdem verdiente man als Vikar schon Geld. Und zwar nicht zu knapp. Gut tausendsiebenhundert Mark winkten monatlich. Was also sollte ich, verdammt nochmal, tun? Auf der einen Seite wollte ich nicht in den kirchlichen Dienst. Die Vorstellung, für die Kirche zu arbeiten, roch mir einfach zu moderig und verursachte mir Übelkeit. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch den kleinen Nimmersatt an meiner Seite, den es zu füttern galt. Und ich musste ja auch von irgendetwas leben. Wissen allein ist dann doch ein karges Brot. Max steckte indes im gleichen Dilemma. Auch er wusste nicht so recht, was er tun sollte. Vikariat oder nicht? Knechtschaft in der Kirche oder Freiheit des Geistes? Tausendsiebenhundert Mark oder nix? Sekt oder Selters? Nach langen Diskussionen, tiefen Blicken in die Verborgenheiten unserer Seelen, nach unendlichen Gesprächen, Selbstprüfungen, Bestätigungen und erneutem Alles in Frage stellen, nach vielen Flaschen Rotwein entschieden wir uns für Sekt, obwohl uns beiden der Rotwein deutlich lieber gewesen wäre. Aber der war nun alle.
Ich erinnerte mich an meine Gespräche mit Edgår im Sommer vor meinem Studienbeginn. Vielleicht könnte ich die Kirche ja von innen her auf den Kopf stellen? Aus der Mitte des Systems heraus zerstörerisch wirken? Der Spaltpilz sein, der die heilige Mutter Kirche ins Wanken bringt, diese uralte, marode und moralinsaure Mutter. Das war doch damals mein Plan, meine Entschuldigung, mein Trost. Nun denn also, so sollte es nun sein.
Max trat eine Vikariatsstelle in der Nähe von Hamburg an, Da kam er her, dort lebte seine Frau. Ich konnte ihm diese Entscheidung nicht verübeln, obwohl ich es zunächst nach Kräften versuchte. Einen Versuch war es wert. Offensichtlich war ihm aber letzten Endes die Verlockung des heimischen Schoßes mehr wert als die Treue zu seinem Bruder. Seinem Bruder im Herrn oder im Trunke. Das durfte er sich aussuchen. Er ging. So ist der Mensch.
Ich blieb in Celle. Eine Arbeitergemeinde sollte meine neue Wirkungsstätte sein. Unkonventionell, modern, links. Genau wie mein neuer "Vater". Gerd. Der war auch links. Ganz weit links. Und er liebte Rotwein. Wenigstens das.
Ich war Vikar. Ich wusste zwar noch nicht genau, wie sich das für mich anfühlte, aber nun war es so. Und ich hatte auch gar keine Ahnung davon, wie ich das alles unter einen Hut bringen sollte. Die neue Arbeit im Reich des Bösen, das Kind, mein Sexualleben, den Haushalt. Aber irgendwie würde ich das schon schaffen. Vor allem mein Sexualleben war anstrengend. Ich hatte ja keine Freundin. Ich wollte auch keine. Ich fand Frauen ja doof. Aber ich wollte ein Sexualleben. Da die Erfüllung dieses Wunsches nicht zuhause auf mich wartete, musste ich also los. Und das war anstrengend, zumal meine Jagd nicht mit meiner neuen Rolle als heiliger Mann kollidieren durfte. Auf gar keinen Fall durften die Frauen aus heimischen Gewässern stammen. Ich musste also im Trüben fischen, irgendwo, draußen in den Weiten der Weltmeere, weitab der mir nun heimatlichen Gemeinde. Das war die Angelordnung. Die Kirche verstand unter Menschenfischer wahrscheinlich etwas Anderes. Ich engagierte regelmäßig einen Babysitter, der sich um Paul kümmerte, wenn es in mir mal wieder zum Fischzug blies. Irgendwie hat das jedenfalls immer funktioniert. Ich kriegte das alles hin. Es lief besser als gedacht und ich vikariierte und schlawinerte so fröhlich vor mich hin. Außerdem hatte ich Kontakte zu einem Schwesternwohnheim des Krankenhauses Burgwedel. Mein lieber Scholli. Da lernte ich, was es heißt, Privatpatient zu sein. Das Leben war schön. Bis mich ein Anruf erreichte.
Ich war vielleicht vier Wochen im Job, hatte organisatorisch alles so einigermaßen auf der Reihe, fummelte mich so allmählich in diese komische kirchliche Arbeit hinein und fand sogar Gefallen daran. Mit Gott konnte ich immer noch nichts anfangen. Aber ich konnte gut mit Menschen. Das konnte ich schon immer. Ich hatte in meinem jungen Leben schon so Manchem die Beichte abgenommen. Irgendwie hatte ich wohl ziemlich große Ohren. Ich konnte wirklich gut zuhören, ich konnte, je nach Situation verständnisvoll, mitleidsvoll, vorwurfsvoll oder einfach erstaunt gucken, und selbst das Schreiben von Predigten und Reden ging mir flott von der Hand. Und ich verstand mich gut mit Gerd, meinem neuen linken Interimsvater. Wir hatten viel Spaß miteinander. Nur vor dem Betreten des Kirchenkreisamtes musste ich immer noch - zur Sicherheit - ein Kreuz schlagen. Alles Amtskirchliche machte mir immer noch irgendwie Angst. Aber dahin hatte ich, zum Glück, nur selten Kontakt. Ja, wider Erwarten machte mir mein Vikariat Freude. Hätte ich mir nie vorstellen können. Ich konnte mir ja so Einiges nicht vorstellen. Und was ich mir vorstellen konnte, das stellte ich mir eben oft so einfach vor.
Das Telefon klingelte. Morgens um acht. Mein Sohnemann und ich waren noch im Bett. Wir waren um diese Zeit immer im Bett. Der Kleine hatte sein Fläschchen, ich süppelte genüsslich meinen Kaffee und las Zeitung. Das machten wir jeden Morgen so. Ich fand sowieso immer, dass niemand so früh arbeiten sollte. Und auch nicht so früh bei anderen Leuten anrufen. Heike war dran. Sie wollte Paul holen. Ich war platt. Sie machte unbeirrt weiter. Sie sei jetzt wieder im Land, habe sich ausgetobt, berappelt, eine neue Wohnung bezogen und die Scheidung eingereicht. Und wolle jetzt eben Paul. Ich fragte, ob sie noch alle Latten am Zaun habe, worauf sie mir kurz und knapp versicherte: Ja! Ich konterte, dass sie doch nicht einfach, mir nix dir nix, verschwinden könne, das Kind zurücklassen, sich nie melden und jetzt einfach wiederauftauchen und das Kind haben wolle!!! Sie erwiderte knapp: Doch! Und das konnte sie tatsächlich. Sie erwirkte eine einstweilige Verfügung beim zuständigen Familiengericht, das mich obendrein auch noch zu Unterhaltszahlungen (nicht nur für Paul, nein, auch für sie!) verdonnerte und dann war er weg. Mein Sohn. Samt Kinderwagen und Spielzeugkiste, samt Anziehsachen und Wickelauflage. Einfach weg. Einzig sein leeres Bettchen, ein angeknabberter Keks und der müffelnde Windeleimer erinnerten noch an ihn. Ich musste weinen. Und den Keks aufessen. Ich war am Ende. Das Leben ist ein Arschloch!
Zu meinem großen Bedauern konnte ich nicht mal Gott die Schuld an meiner Misere geben. Ich glaube ja nicht an Gott. Und ich kann niemandem die Schuld geben, den es nicht gibt. Heike konnte ich auch keine Schuld geben. Sie hat ja nur gemacht, was sie als Mutter tun musste. Ich hätte an ihrer Stelle wahrscheinlich auch nicht anders gehandelt. Ich konnte sauer auf sie sein, ich konnte sie sogar hassen, und das tat ich auch, aber ich konnte ihr keine Schuld geben. Also musste ich selbst schuld sein. Weil ich mir das vielleicht doch alles zu einfach vorgestellt hatte. Viel zu einfach.
Die folgenden Monate waren schlimm. Ich dümpelte so vor mich hin, tat meine Arbeit recht leidenschaftslos und sah furchtbar aus. Unrasiert, dunkle Augenränder, zerzauste Haare. Und eine zerzauste Seele. Aber die konnte ja niemand sehen. Außer Suse. Max war in Hamburg und wir sahen uns nur selten. Aber Suse war da und baute mich allmählich ganz behutsam wieder auf. Sie war einfach umwerfend. So weh mir das Herz in dieser Zeit auch war, sie brachte mich immer mal wieder zum Lachen. Und sie bekochte mich. Suse konnte kochen. Und wie. Sie war nämlich gar keine gelernte Prostituierte, sondern eine gelernte Köchin. Sie kochte, ich trank Wein, wir aßen, wir tranken Wein, sie spülte ab, ich trank Wein. Sie hat mich gerettet.
Während dieser Zeit lebte ich immer auf die Wochenenden hin, an denen ich Paul sehen durfte. Alle vier Wochen. Mein Lieblingsvater Gerd sorgte dafür, dass ich an diesen Wochenenden frei hatte. Ich musste dann nicht in die Bütt und konnte mich ganz auf meinen Strahlemann konzentrieren. Er wohnte jetzt mit seiner Mutter in einem kleinen alten Haus in der Nähe von Celle. Zumindest ist sie in der Nähe geblieben. Zunächst.
Ich habe die wenige Zeit mit meinem Sohn sehr genossen. Wir haben gespielt, rumgetobt, gekuschelt und wenn ich ihn am Sonntag-Abend wieder abliefern musste, habe ich geheult wie ein Schlosshund. Das Leben war immer noch ein Arschloch.
1991 wurden wir geschieden. Heike bekam das Sorgerecht. Ich hatte gekämpft. Ich wollte das Sorgerecht für Paul. Aber ich bekam es nicht. Heike und ihr blöder Anwalt pochten auf ihr natürliches Mutterrecht. Auf meine Vorhaltung, sie hätte das Kind verlassen, es einfach bei mir gelassen, einen Säugling von einem halben Jahr, der noch nicht einmal entwöhnt war, um mit diesem Kerl weiß-der-Himmel-was zu treiben und damit habe sie ihre Mutterpflichten aufs Gröbste verletzt, antwortete der blöde Anwalt: Ja. Aber sie habe ihre Mutterpflichten nicht verletzt, denn sie hätte eine schwere Zeit gehabt, war schwer verstört, musste sich darüber im Klaren werden, was sie wolle und außerdem habe sie ihr Kind ja bei jemandem gelassen, von dem sie wusste, dass es gut aufgehoben sei. So. Das fand der Familienrichter auch. Ich war sprachlos. Ich wurde zum Babysitter degradiert. Das Leben war sogar ein ausgesprochen großes Arschloch. Und der Richter auch. Und Heike auch. Und ihr Anwalt auch. Und mein Anwalt auch, denn der zuckte nur hilflos mit den Achseln.
Da stand ich nun, ich armer Tor und war noch ärmer als zuvor. Ein verwaister, aber unterhaltspflichtiger Vater. Unglücklich, hoffnungslos, verzweifelt und unendlich einsam. Schlimmer konnte es nicht kommen. War natürlich Quatsch. Es konnte natürlich schlimmer kommen. Schlimmer geht immer. Und es kam schlimmer. In dieser Zeit wurde Hiob mein Bruder. Und er blieb es bis heute.
Kurz nach der Scheidung eröffnete mir meine frisch gebackene Ex-Frau, dass sie mit Paul nach Osnabrück ziehen werde. Neue Umgebung, neues Haus, neues Glück. Und meinen Sohn dürfe ich nun auch nicht mehr sehen. Er könne ja, wenn er wolle und volljährig ist und mich wiedersehen möchte, den Kontakt zu mir suchen. Ich war völlig perplex. Aber diesmal stellte sie sich das zu einfach vor. Auch wenn ich damals das Vertrauen in unser Rechtssystem verloren hatte, das konnte ich nicht zulassen. Also verklagte ich Heike und bekam letztlich zumindest ein Umgangsrecht. Alle vier Wochen durfte ich ihn holen. Aus Osnabrück. Was für ein Mist. Aber ich holte ihn. Immer. Ich habe nicht ein Besuchswochenende ausfallen lassen, auch wenn ich mir so manches Mal den Wolf organisieren musste, um diese Termine einzuhalten. Aber ich wollte das tun, ich musste. Ich wollte meinen Sohn nicht verlieren. Zu meiner Familie hatte ich in dieser Zeit so gut wie keinen Kontakt. Die Nummer mit dem Klotz am Bein hatte ich meinen Eltern noch nicht verziehen. Außerdem meinten sie immer noch, dass ich in meinem Unglück, nämlich meinen Sohn nicht bei mir zu haben, auch das Positive sehen sollte. Was das sein sollte, erschloss sich mir nicht. Ich wollte sie nicht sehen. Ich war sauer. Und meine Brüder zogen ihre eigenen Kreise und waren mittlerweile über das ganze Land verstreut. Nur Hiob war da, der war immer treu an meiner Seite.
Das Vikariat hatte ich mittlerweile beendet, mein Ziehvater Gerd entließ mich in die Freiheit und ich war endlich wieder Student. Student im Hauptstudium II, in der Reflektionsphase. Unser Haus hatte ich aufgegeben und war wieder ins Studentenwohnheim gezogen. Ich wollte mich in Ruhe auf das zweite Examen vorbereiten. Außerdem konnte ich mir das alles allein auch gar nicht mehr leisten. An den Wochenenden, an denen Paul bei mir war, war es zwar eng, aber auch irgendwie gemütlich. Max war auch wieder da. Was für ein Glück. Wir lernten viel, wir diskutierten, wir gingen in die Kneipen der Stadt, trafen uns mit Suse, die es sich inzwischen zu einer Herzensaufgabe gemacht hatte, ihre verlotterten Jungs, wie sie uns beide nannte, zu bekochen, damit wir nicht nur geistige Nahrung zu uns nähmen. Oder vergorene. Es lief also ganz gut.
Aber was sollte ich denn nun nach dem zweiten Examen machen? Pastor werden wollte ich immer noch nicht, auch wenn mir die Arbeit mit den Menschen in meiner Vikariatsgemeinde mit der Zeit immer besser gefallen hatte. Aber dennoch. Ich wollte nicht Pastor werden. Die Kirche war mir immer noch zuwider. Zu eng, zu klein, zu muffig und zu oll. Besonders die Amtskirche hasste ich immer noch.
Eigentlich wollte ich mein Leben in diesem Elfenbeinturm gar nicht aufgeben. Am liebsten wäre ich einfach Student geblieben. Für immer. Aber mein Lieblingsprofessor meinte, ich könne nicht immer nur fressen, ich müsse auch mal scheißen.14 Er meinte damit, ich hätte nun lange genug studiert, genügend Wissen angehäuft und in mich hineingefressen und solle nun das Examen machen und ins richtige Leben gehen. Das sei irgendwo da draußen. Meinte er. Aber was wusste der schon?!
Ich wollte das Studium ja auch abschließen. Aber ich wollte auch irgendwie nicht. Es war zum Heulen. Aber ich hatte ja meinen Prof. Meinen Lieblingsprof. Er brachte mich auf den rechten Pfad. "Dann promovieren Sie doch!", sagte er. Ich solle doch einfach irgendwo promovieren. Nur nicht an der Theologischen Akademie, das konnte man da nicht. Aber ich könnte ja irgendwo anders promovieren, meinen Doktor machen. An einer Hochschule arbeiten, Studenten unterrichten, meinen geliebten schwarzen Rollkragenpullover für immer anbehalten. Was für eine grandiose Idee. Ich werde Doktor der Theologie. Wenn auch nicht der Philosophie, dann doch wenigstens der Theologie. Und zwar der Systematischen Theologie, der theologischen Königsdisziplin, die Erkenntnisgewinn vor Bibeltreue setzte. Eigentlich genauso gut wie Philosophie. Ich musste gar nicht Pastor werden. Heureka. Ich hatte die Lösung. Die Lösung.
Ich nahm Kontakt zu einem Professor für Systematische Theologie an der Christian-Albrecht-Uni in Kiel auf. Da hatte mein Vater übrigens auch studiert und seinen Doktor gemacht. Und meine Mutter kennen gelernt. Kiel war großartig. Und dort könnte ich sogar wieder segeln. Das hatte ich in all den Jahren gar nicht mehr gemacht. Der Wind blies mir ja auch auf dem Festland mehr als kräftig genug ins Gesicht. Und meistens direkt von vorn. Promovieren und segeln. Das gefiel mir. Vor allem aber gefiel mir, dass ich nicht Pastor werden musste. Dachte ich. Denn ich musste. Sagte das Gericht. Wieso überhaupt Gericht? Ganz einfach.
Meine Ex-Frau hatte mich auf Erfüllung des Ehegatten- und Kindesunterhaltes verklagt und Recht bekommen. Ich war ja unterhaltspflichtig und durfte nicht einfach so, nur, weil ich promovieren wollte, einen sicheren Arbeitsplatz aufgeben und damit meine Unterhaltspflicht umgehen. Sagte das Gericht. Häh? Wie bitte? Ich hatte doch gar keinen Arbeitsplatz. Dachte ich. Ich hatte aber doch einen. Das hatte ich nur vergessen.
Die Landeskirche hatte sich verpflichtet, allen erfolgreichen Studienabgängern eine Pfarrstelle zu geben, obwohl sie gerade eine Pfarrerschwemme hinter sich hatte. Sie hatte sich verpflichtet. Manch ein Absolvent musste vielleicht eine gewisse Wartezeit hinnehmen, Kandidaten aber, die ein besonders gutes Examen hingelegt hatten, bekamen sofort eine Anstellung. Ich bekam leider sofort eine. Aus der Traum. Ich musste Pfarrer werden. Da führte kein Weg dran vorbei, schließlich bereitete das Studium eben genau darauf vor. Ich kam mir vor, als hätte ich eine Wette verloren. Eine Wette mit dem Teufel. Und schon wieder klingelte Goethes Faust in meinen Ohren. Die Gretchenfrage stellte sich mir auf einmal bedrohlich ernst: Wie hältst du's mit der Religion? Und ich hatte keine Antwort darauf. Ich wusste nicht, wie ich es mit ihr halten sollte.
Ich wusste auch nicht, wofür ich Heike nun mehr hassen sollte. Dafür, dass sie mir meinen Sohn weggenommen hatte oder dafür, dass sie mich ins Pfarramt klagte. Was mir eigentlich auch egal war, ich hasste sie für beides. Und ich hasste mich selbst. Ich war ein Idiot. Und ich würde Pastor werden. Ich wusste auch nicht, was sich schlimmer anfühlte. Ich wusste gar nichts mehr. Mein Leben war zu Ende. Mit neunundzwanzig.