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ERSTES KAPITEL I.
ОглавлениеAlfred Esch wusch sich in der Küche die Hände und folgte seiner jungen Frau in das Zimmer am Ende des Korridors. Auf dem Ecktisch dampfte die Mittagssuppe in den Tellern. Schweigend setzten sich die beiden hin, während einer guten Weile war kaum etwas zu hören als ab und zu das spröde Aufschlagen eines Suppenlöffels auf dem Geschirr.
Seit er vor bald fünf Jahren Erna, die Tochter seines Arbeitgebers, des Malermeisters Steinmeyer, geheiratet hatte, bewohnte Alf, wie er meist genannt wurde, mit ihr dieses behagliche kleine Einfamilienhaus in einem gartenreichen Viertel in der Nähe der Stadtgrenze. Das Gebäude, das durch seine warmgelbe Farbe von Weitem in die Augen stach, gehörte seinem Schwiegervater, der die im Erdgeschoss unmittelbar an der Straße gelegenen beiden Garagen für sich benutzte. Die Wohnräume – neben der großen Stube das Schlafzimmer, Ernas Lesekammer und Alfs stets nach Farbe duftendes Privatatelier – befanden sich im ersten Stock, den man über eine steinerne Außentreppe erreichte.
Auch als Erna die Kalbsschnitzel auftrug, die sie mit Bratkartoffeln und lang geschnittenem Endiviensalat servierte, sagte keiner ein Wort. Obwohl sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit meist eine Brille trug, war die dunkelhaarige, braunäugige Erna mit ihren siebenundzwanzig Jahren eine recht hübsche Frau von gutem Wuchs, mit ebenmäßigen, vielleicht etwas zu strengen Zügen. Sie verstand sich auch aufs Kochen – jedenfalls waren diese Schnitzel wieder ausgezeichnet geraten. Nichtsdestoweniger blickte Alf vor sich hin, als säße er allein, und als gäbe es wenig Erheiterndes in seinem Leben.
«Vater hat wieder einen schönen Ärger gehabt mit diesem Esslinger», unterbrach Erna schließlich die Stille. Durch ihre von hellem Horn umrandeten Gläser blickte sie ihrem Gatten hart und geradewegs in die Augen.
«Ich weiß», sagte Alf, ohne aufzusehen. Blut unterlief die sportliche Bräune, die auf seinem schmalen, mit spielerischer Feinheit gezeichneten Gesicht lag, und die bläuliche Ader, die seine schöne Stirn von der linken Schläfe schied, schwoll zu einem Umfang an, der Unheil verkündete.
«Aber diesmal hat’s ihm gereicht, der hat seinen letzten Pinselstrich bei uns getan!», fuhr die Frau in gereiztem Ton fort.
«Er überredete Fritz Hutter zum Eintritt in den Verband», wagte sich Alfred hervor. «Das ist nicht verboten, soviel ich weiß. Obwohl er gescheiter nicht vor Kern gesprochen hätte, diesem Angeber.»
Erna fuhr auf: «Wie, du getraust dich, den Kerl zu verteidigen? Eine regelrechte Streikpredigt hat er gehalten. Kern hat ihm erklärt, er sei zufrieden mit seinem Lohn. Weißt du, was Esslinger geantwortet hat?»
«Wahrscheinlich, dass Kern ein Arschlecker sei!»
Alf sprach nun laut, ja herausfordernd und erhobenen Hauptes.
«Red nicht so ordinär!», herrschte Erna ihn an. «Vater versteuere ein Vermögen von zweieinhalb Millionen und ein Einkommen von hundertsechzigtausend Kronen, das hat er verkündet, und –»
«Nichts als die Wahrheit!», fuhr Alf dazwischen.
«Wirklich, du nimmst ihn in Schutz, diesen Intriganten!», regte sie sich auf. «Diesen schäbigen, kleinen Neidling, der sich nicht schämt, mit Vorbedacht ins Finanzministerium zu laufen und im Steuerregister herumzuschnüffeln, um unsere Leute – am Arbeitsplatz! – mit solch gemeinen Argumenten aufhetzen zu können! Er, der bei uns, nach dir, am meisten verdient hat!»
«Weil er der Tüchtigste war. Der Meister wird Mühe haben, ihn zu ersetzen!»
«Alf, es ist höchste Zeit, dass du dem Verband den Rücken kehrst», erklärte Erna, ruhiger plötzlich, doch mit Festigkeit. «Du hättest längst austreten sollen. Du machst dich bloß lächerlich, du, in dem alles den künftigen Meister der Firma sieht. Und du weißt genau, wie raffiniert dieser Esslinger deine Mitgliedschaft bei seinen Wühlereien auszuspielen verstand.»
«Meine Mitgliedschaft besteht seit Jahren gerade noch darin, dass ich die Beiträge bezahle», wandte Alfred ein. Es klang kraftlos, unsicher; mit unfehlbarer Witterung spürte die Frau ihren Gefechtssieg heranreifen.
«Alf», befahl sie, «nach dem Skandal mit Esslinger gibst du den Austritt innerhalb von drei Tagen! Und ich möchte dich gewarnt haben, in aller Freundschaft: Du weißt, ich habe dich bis jetzt immer bei Vater verteidigt, auch wenn du im Unrecht warst. Aber wenn du diesmal nicht austrittst – Alf, ich sage dir, dann hast du’s nicht nur mit Vater zu tun!»
Alfred senkte seinen Blick. Warum war er so närrisch gewesen, hier zu sprechen, wo er sich letzten Endes doch nicht durchzusetzen vermochte?
«Franz kam zu mir ins Atelier nach der Szene, die ihm der Meister im Büro gemacht hatte», sagte er mit beengter Stimme. «Ich habe ihm erklärt, dass ich nichts für ihn tun kann. Ich habe ihm rein gar nichts versprochen. Kann euch das nicht genügen, dir und dem Meister?»
Erna erhob sich – die Mahlzeit war längst beendet. «Nichts versprochen!», warf sie verächtlich hin. «Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass du ihm etwas versprochen hättest! Zum Teufel hättest du ihn jagen müssen, du Waschlappen! Ich erkläre dir nochmals, Alf, drei Tage hast du Zeit – Wenn du bis dahin nicht gescheit wirst, wirst du deine Wunder erleben!»
Auch Alf stand auf. Er war von schlanker, eher kleiner Gestalt; obwohl er stets sehr aufrecht ging, überragte ihn Erna um eine halbe Stirn. Unsicheren Schrittes begab er sich an das Fenster an der hinteren, von der Straße abgekehrten Seite der Stube. Von hier fiel der Blick auf einen vom nächtlichen Regen feuchten, fleckenweise noch mit Schnee bedeckten kleinen Garten und auf das Stück des etwa fünfzig Meter tiefer liegenden lang gezogenen Sees, das sich nicht hinter benachbarten Häusern verbarg. Doch Alfred sah kaum den Schnee und den See und den wolkengrauen Himmel. Er sah Franz vor sich, den breitschultrigen Franz Esslinger mit dem kraftatmenden gedrungenen Haupt eines Stiers und den mit überlegener Ruhe blickenden dunklen Augen. Eindringlich hatte der Gekündigte, dem der Meister mit sofortiger Wirkung jeden weiteren Zutritt zu den Werkplätzen der Firma verboten, an seine Solidarität appelliert. «Es geht nicht um mich», hatte er Alf versichert. «Ich finde schon Arbeit, auch wenn der Alte mich bei sämtlichen Verbandsfirmen denunziert. Aber als Gewerkschafter können wir uns das nicht einfach bieten lassen. Es geht ums Prinzip, verstehst du? Und du weißt genau, wenn du einmal richtig auf die Hinterbeine stehst, wird der Alte sich die Sache dreimal überlegen.»
Und dann, als Alfred seine Ausflüchte vorgetragen, hatte ihm Franz seine schwere Hand auf die Schulter gelegt und ihm nochmals zugesprochen: «Ich versteh deine Schwierigkeiten, Alf. Trotzdem: Mach mit! Du wirst dich ohnehin bald entscheiden müssen. Du weißt ja, wie die Verhandlungen mit dem Meisterverband stehn. Seit drei Monaten sind wir keinen Schritt weitergekommen. Ich glaube nicht, dass die Maler sich dieses Spiel noch lange gefallen lassen. Und wenn es zu einem offenen Bruch kommt, wie willst du da noch deine Farbe verbergen? Du willst doch nicht, dass dich alle Welt einen Waschlappen nennt!»
Viel freundlicher als Erna hatte er ihm die wenig schmeichelhafte Bezeichnung serviert, und dennoch flossen die gleich klingenden Urteilssprüche, die Frau und Freund in entgegengesetzter Absicht über ihn gefällt hatten, zu einer niederdrückenden Einheit zusammen.
In einer Hinsicht war ja Franz nicht ganz im Unrecht. Der Meister war von seinem Schwiegersohn gewiss nicht abhängig, aber er verdiente an dem einzelnen Esch bestimmt so viel wie an zehn, ja zwölf seiner übrigen Arbeiter zusammen.
Alfred arbeitete fast ausschließlich in dem Atelier der Firma, das sich – fünf Minuten von dem gelben Haus entfernt – auf einem Nebengelände von Steinmeyers großer Villa befand. Tag für Tag bemalte er dort papierene Lampenschirme mit dekorativen Ornamenten, Landschaften, Figuren und Szenen von solcher Gefälligkeit, dass die Artikel in allen Warenhäusern und Lampengeschäften des Landes reißenden Absatz fanden. Und er arbeitete aus freier Phantasie, ohne jede Vorbereitung gestaltend, so ungeheuer rasch, dass er im Tagesdurchschnitt das Vierfache an Schirmen abzuliefern vermochte wie der flinkste seiner Vorgänger. Sicher hätte der Meister im Ernstfall vieles getan, um eine derart einträgliche Arbeitskraft nicht irgendeinem Konkurrenten in die Hände zu spielen.
Allein, wie sollte Alfred es fertigbringen, dem Meister offen und hart auf hart entgegenzutreten, in einem Handel, in dem Steinmeyer sein ganzes Ansehen in die Waagschale legte? Verdankte er dem Alten nicht fast alles, was er heute war, seine gesellschaftliche Stellung, aber auch, soweit Bildung die Persönlichkeit zu heben vermag, sein eigentliches menschliches Wesen?
Er war aufgewachsen in der Schlachthofstraße, im ausgeprägtesten Arbeiterviertel der Stadt, als das vierte Kind eines begabten, aber trinkenden Holzbildhauers, der vorzeitig einem Unfall zum Opfer gefallen war. Als Sekundarschüler war er stets einer der drei Ersten seiner Klasse gewesen: Am liebsten hätte er in seinen Jünglingsjahren gelernt und wieder gelernt, und lange hatte er heimlich davon geträumt, eines Tages den Beruf eines Architekten ausüben zu können. Trotzdem hatte er noch mit fünfundzwanzig Jahren, nachdem auch die Mutter, eine einfache, stille Frau, einem Krebsleiden erlegen war, als ganz gewöhnlicher Malergeselle bei Steinmeyer gearbeitet. Wie viele seiner Kollegen hatte er sich allerdings in seiner Freizeit, neben eifriger Lektüre, mit Zeichnen und Bildermalen beschäftigt, doch er hätte nie zu denken gewagt, dass ihn jemand als Künstler ernst nehmen könnte.
Erst seine Begegnung mit Erna hatte der ersten Beschränktheit seines Daseins ein Ende bereitet. Der stille, doch anziehende junge Mann war dem Mädchen aufgefallen. Ihre Aufmerksamkeit, die sich vorerst mehr in ermunternden Blicken als in Worten geäußert, hatte ihn berührt und allmählich ein Gefühl des Begehrens in ihm geweckt, zu dem er die Kühnheit kaum gefunden hätte, hätte nicht sie ihn als Erste beachtet. Gegen den anfänglichen Widerstand des Meisters, der sich als Schwiegersohn eine vermögende Persönlichkeit von geschäftlicher Bedeutung oder zum Mindesten einen Studierten vorgestellt, hatte Erna ihre Heirat durchgesetzt. Von diesem Augenblick an hatte sich Steinmeyer jedoch sehr großzügig zu Alfred verhalten. Drei Jahre lang hatte ihn der Alte in einem teuren Privatinstitut Mittelschulkurse besuchen lassen, zeitweise abends, zeitweise auch tagsüber. Vor zwei Jahren hatte Esch mit gutem Erfolg die Reifeprüfung bestanden. Als der Meister von Alfreds künstlerischen Neigungen erfahren, hatte er ihn nicht nur in die Lampenschirmabteilung der Firma versetzt, er hatte ihn auch zum Besuch der Zeichen- und Malkurse an der Kunstgewerbeschule veranlasst. Und obwohl dem Schüler der konservative Geist des Unterrichts wenig behagt hatte, war sein technisches Können sehr gefestigt worden, und der Kontakt mit jungen, ebenso begeisterungsfähigen wie kritischen Graphikern hatte ihm große Anregung und nicht zuletzt das sichere Wissen um sein künstlerisches Talent gegeben. Drei Monate, «um richtig Französisch zu lernen», hatte er mit Erna in Paris verbringen können – eine unvergessliche, von menschlichen, sozialen und kulturellen Eindrücken überfüllte Zeit. Und dann: Er verdiente heute schon mehr als ein Sekundarlehrer – gewiss, er war nicht überbezahlt für das, was er leistete, aber war es sicher, dass ein anderer als der Meister es verstanden hätte, seine außergewöhnlichen Fähigkeiten in dieser Weise auszuwerten? Er wohnte bürgerlich-komfortabel und dabei ziemlich nach seinem eigenen, empfindlichen Geschmack. Er aß Schnitzel oder gebratene Leber, wenn seine Kollegen sich mit einer Cervelatwurst oder einem Teller voll Teigwaren zu begnügen hatten. Und – da hatte Erna schon recht – er war fast für jedermann Alfred Esch, des reichen Malermeisters Ernst Steinmeyers Schwiegersohn, der einst ein Vermögen von mehr als einer Million erben sollte und der einem der drei, vier bedeutendsten Malergeschäfte der Stadt vorstehen würde – wenn er nur wollte.
Der See war glanzlos wie Blei und von der Farbe grünlich grauen Alpenschiefers. Warum starrte er auf diese trostlose Landschaft? Erna stand mit einem Male hinter ihm. Er hielt den Atem an. Sacht legte sie ihre Hände auf seine Schultern. «Du musst mir nicht böse sein», bat sie lieb und leise. «Ich weiß, ich war gemein; ich bin ja sicher, du wirst Vater und mir den kleinen Gefallen tun. Du bist ja mein Liebster, du weißt das wohl; ich werde nie mehr so hässlich zu dir sprechen …»
Sie konnte sich auch heute noch verführerisch geben, wenn sie wollte. Und sein Gewissen war nicht fleckenfrei … Doch war es nicht sein Gewissen der Frau gegenüber, was ihn erstickend anfiel in dieser Sekunde.
Sie presste ihre Lippen in seinen Nacken.
«Lass mich!», stöhnte er. «Ich werde tun, was du verlangst!»
Nein, jetzt nicht kämpfen in dieser Stunde, in der er ausweglos von einer erdrückenden Übermacht umzingelt war! Er konnte nicht mehr, doch schlug vor ihm Verheißung spendend die Flamme des Glaubens empor – des Glaubens an die Flucht aus der schändlichen Gefangenschaft des Mittags und an den alles heilenden Abendrausch, der glutvoll des Mattgehetzten harrte.