Читать книгу Am Stammtisch der Rebellen - Harry Gmür - Страница 25
III.
ОглавлениеOhne Zögern trat Esch hierauf seinen Heimweg an. Es wäre nicht nur sinnlos, es wäre jämmerlich gewesen, hätte er einer Begegnung mit Erna auszuweichen versucht, mochte sie noch so qualvoll sein – und mochte sie ausgehen, wie sie wollte. Als er freilich oben am Ende der steinernen Treppe auf der Plattform vor seiner Haustür stand, den Schlüsselbund länger als sonst mit der Rechten umklammernd, überfielen ihn jählings seltsam schmerzende Bilder und Gedanken. Wie oft noch würde er hier Ein- und Ausgang finden? Er hatte unter diesem Dache unduldbar Unduldsames allzu lange erduldet. Doch er hatte – was sollte er einen Wissenden belügen? – auch lebenswerte Stunden hier verbracht. Und selbst wenn er keines einzigen glücklichen Tages hätte gedenken können, selbst wenn ihm nichts geblieben wäre als Erinnerung an schmähliche Bedrängnis, dies wäre trotz alledem, eine gewichtige Lebensspanne lang, seine Behausung gewesen, seine erste eigene Wohnung zudem, der er willig oder aberwillig mit tausend und tausend Nervenfasern verhaftet war.
Alf hatte trotz allem auf einmal den Schlüssel ins Schloss gesteckt und herumgedreht. Gelassenen Schrittes, als wäre seine Handlung so alltäglich, wie sie es bisher gewesen, durchmaß er den Gang, ohne den knarrenden Balken zu betreten. Doch empfand er seine Beine wie Bleigewichte, wie künstlich unterbaute massige Fremdkörper, die ein ferner Wille vorwärtszwang.
Erna stand am Stubenfenster, den Blick unverwandt in den Garten gerichtet. Schön, wie er sie ehedem im Frühlingslicht gesehen, fielen ihre Locken. Gelbes Haus, goldgelber Krokus –
und dieses goldene Haar … Alfred begann sich zu fürchten, nicht vor der Härte der Frau: vor seinem eigenen weichen Sinn, sofern die Frau nicht gewillt war, ihn zu nützen …
«Erna – du weißt, dass wir im Streik stehn», hörte er dennoch seine Stimme sagen.
Sie erwiderte zunächst nichts. «Ich weiß noch ganz andres, Alfred Esch», begann sie schließlich langsam, nachdrücklich und ohne sich nach ihm umzuschauen.
«Wenn du mir etwas vorzuwerfen hast, so sprich offen, bitte!», ließ seine Stimme sich weiter vernehmen.
Sie wandte sich Alf zu, doch sah sie ihn sprechend nicht an; vielmehr blieb ihr Blick irgendwo auf der Platte des ungedeckten Tisches haften.
«Wir wissen Bescheid über alles», sagte sie dunkel, feierlich fast, doch nach wie vor ohne spürbare Erregung. «Wir wissen Bescheid über deine Rolle auf der gestrigen Versammlung. Wir wissen auch, wo und mit wem Herr Esch seinen Feierabend verbringt. Ich gedenke, meine Zeit nicht mit sinnlosen Vorwürfen an deine Adresse zu vergeuden. Es ist ohnehin nichts mehr zu retten zwischen uns. Ich habe dir hier nur eines zu sagen: Wenn du die Unverfrorenheit aufbringst, in diesem Haus, dem Haus meines Vaters, zu bleiben, bis die Behörden dich entfernen, ist dies deine Sache. Ich jedenfalls werde inzwischen bei den Eltern wohnen. Ich werde jetzt schon drüben beim Essen erwartet. Ich hoffe immerhin, dass du inzwischen deine Sachen packst. Vielleicht findest du Quartier – bei deiner Hure!»
Aufrecht verließ sie das Zimmer. Ein paar Sekunden stand sie im Korridor vor dem Wandspiegel, Frisur und Lippenrot aufmerksam musternd, worauf die Haustür kräftig ins Schloss fiel.
Darauf war Alf allerdings nicht gefasst gewesen: dass sie um alles wussten, sie und der Meister! Dass das Unausweichliche, vor dem ihm eben noch bange gewesen, obwohl er’s erst in Tagen, ja Wochen später erwartet hatte, auf einmal als unabwendbare Forderung des Augenblicks vor ihm stand! Wie schnell dies alles plötzlich rollte! Trotz allem fühlte Alf etwelche Erleichterung. Wie immer, wenn die Frau gesprochen hatte von ihrem Recht und seinem Unrecht, war ein Schleier niedergefallen vor seinem Gesicht, der den bedrohten Blick vor allem Giftglanz schirmte. In Großmut neigte er sich vor der Würde, mit der die Herrin den kränkenden Verrat wie den offenen Aufruhr des Sklaven trug. Doch ihre Hoheit war die Waffe nicht, die ihn je zurück in das hündische Dasein selbst des bestgefütterten Knechts gezwungen hätte. Auch jetzt, in dieser Stunde, kannte er seine Schuld. Allein ein Kniefall, er hätte nicht nur Totes nicht zum Leben erweckt, er hätte den Schuldigen mit neuer Sünde beladen. Nein, dieser Abschnitt seiner Lebensgeschichte war geschrieben, und es war gut, dass er zu Ende war.
Alf holte einen kleinen, schwarzen Handkoffer von der Diele, füllte ihn prall, doch ohne viel Überlegung mit den unentbehrlichsten Gegenständen. Etwas mehr Sorgfalt verwandte er auf die Zusammenstellung eines aus mannigfach geformten Bestandteilen bestehenden, von kräftigen Schnüren umfassten Gepäckstücks, in dem sein wichtigstes Arbeitsgerät, zwei Aquarelle von seiner Hand, die ihm nicht übel gefielen, und eine große Kartonmappe voller Entwürfe Platz fanden. Auch seinen Regenmantel vergaß er nicht vom Haken zu hängen. Vieles ließ er notgedrungen zurück, man durfte ihm ja auch später sein unbestreitbar persönliches Eigentum nicht vorenthalten.
Belastet wie ein Maultier, ohne sich umzusehen, entfernte er sich von dem gelben Haus, nachdem er den Schlüssel in den Kasten geworfen. Von einer Telephonkabine an der nächsten Straßenbiegung aus kündigte er Doris sein Kommen an. Eine halbe Stunde später empfing ihn das Mädchen mit einer stürmischen Umarmung.