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II.

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Esch war lange nach Mitternacht nach Hause gekommen. Nahezu schlaflos, voller Unruhe, doch ohne zu sprechen, hatte er nachts neben der scheinbar schlummernden Erna gelegen. Vor sechs Uhr früh hatte er sich in aller Stille gewaschen und angezogen, hatte sich seinen Morgenkaffee bereitet und war aufgebrochen zu einem Rundgang durch Dutzende von Straßen des Quartiers, in denen milder Wind und Sonnenfarben ihr freudelockendes Wesen trieben.

Doch auch im Freien wandernd, fand er keine Ruhe. Er bereute nicht, was er gestern getan. Und doch war Hässliches an der heimlich so lange ersehnten Trennung, nun, da sie fast unvermeidlich geworden war. Der Sonne spottend, ragte vor ihm ein großer Schatten, der Alfred Esch schuldig sprach: schuldig der Schwächlichkeit, da er nicht die Kraft besessen, die Frau, mit der er Verbindung fürs Leben gesucht, von seinem wahren Wesen zu überzeugen; schuldig der Feigheit, ja der Feigheit, da er so lange gezaudert hatte, vor dem Manne, dem er gar manche Wohltat verdankte, offen und fest zu seinem höheren Recht zu stehen. Gewiss, wenn Alf sich mühte, wie ein Unbeteiligter über sich zu richten, billigte er sich hundert mildernde Umstände zu. Allein auch wenn er sich freisprach, auch wenn er urteilte, dass er gar nicht im Stande gewesen wäre, anders zu handeln, vermochte er den Schatten nicht zum Verstummen zu bringen, geschweige denn in Licht zu lösen.

Außerdem war der Gedanke unerträglich, jetzt, da die Würfel gefallen waren, auch nur einen weiteren Tag mit Erna unter einem Dache zu weilen. Die Aussichten waren umso trüber, als die Frau zum Mindesten bemerken musste, dass er mittat bei dem Streik wie alle anderen. Wie er’s fertigbringen sollte, ihr tagelang zu verschweigen, dass seine Wahl endgültig getroffen war, blieb ihm ein Rätsel. Und dennoch konnte er es sich im Augenblick im Grunde einfach nicht leisten, sich mit den zusätzlichen Spesen zu belasten, die ein Auszug aus dem alten Heim, selbst wenn er vorübergehend bei Doris Quartier fand, zwangsläufig mit sich bringen musste. Es war schon Pech, dass just in diesen Tagen der großen Wende seine Einkünfte auf einen Bruchteil der längst gewohnten zusammenschmolzen. Und dies bei Doris’ Schulden und bedrohlichen Ansprüchen, die ihn ohnehin mit wachsender Bangigkeit erfüllten! Der einzige Lichtschimmer in diesem Sektor war seine Verabredung mit der Direktion der Magazine zur Metropole, dieser Erfolg, der ihm wahrhaftig im richtigen Augenblick gespendet war!

Alf bewegte sich seit geraumer Zeit, eilig, als hätte er sich verspätet, durch eine lang gezogene, von den hässlichen Fassaden älterer Mietskasernen begrenzte Straße, die aus dem Viertel ziemlich tief ins Stadtinnere führte. Ihm fiel ein, dass Kollege Paul Brunner in einem dieser Häuser wohnte. Vielleicht war er zu Hause, vielleicht wusste er Neues von der eröffneten Fehde. Vielleicht konnte wenigstens seine Frau Nachrichten geben. Es war wohl möglich, dass die Streikleitung heute früh schon telephonisch oder durch einen mündlich berichtenden Vertrauensmann Alf in seiner Wohnung zu erreichen suchte, doch verspürte er geringe Neigung, aus diesem Grunde jetzt schon nach Hause zu wandern.

Auf knarrenden, ausgetretenen hölzernen Treppenstufen stieg Esch ins oberste Stockwerk hinauf, wo er neben der Tür rechts auf den vergilbten Knopf drückte. Er hatte Glück: Paul öffnete in eigener Person. Kameradschaftlich reichte er dem Kollegen die Hand. Er hatte ein grobfasriges, braun-weiß kariertes, doch frisches Hemd angezogen, trug ein sorgfältig gebügeltes graues Rauhaargewand und hatte sein dichtes, leicht gekräuseltes, offensichtlich mit Wasser befeuchtetes Haar auf der linken Seite schnurgerade gescheitelt: Im Sonntagsstaat wollte Brunner diesen ersten Streiktag begehen, wollte er jedenfalls auf dem ersten Patrouillengang sich zeigen! Ja, Alf hatte wirklich Glück gehabt: Paul hatte eben aufbrechen wollen. Man traf sich, soweit man die Kollegen des Viertels hatte erreichen können, unten bei der Post, mit dem Auftrag, sich ein Bild von der Streiklage im eigenen Sektor zu verschaffen.

Nach einem Marsch von zehn Minuten stießen die beiden zu der annähernd zwanzig Mann starken Gruppe, die in der Hauptstraße des Stadtteils, dem Postgebäude schräg gegenüber, vor einer kleinen Arbeiterwirtschaft versammelt war. Franz Esslinger unterhielt sich eben mit dem hochgewachsenen, schmalköpfigen Jakob Matter. Ob vom Standpunkt der Streikführung etwas dagegen einzuwenden sei, wenn er sich für die Dauer des Ausstands hinauf in sein Bergtal zu einer seiner Schwestern begäbe, hatte dieser gefragt. Sie war mit einem Obst- und Gemüsepflanzer verheiratet, und es gab dort zu dieser Jahreszeit Arbeit in Hülle und Fülle zu verrichten. Auch hatte Jakob seine Verwandten seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen. Da Matter während seiner Abwesenheit selbstverständlich auf den Bezug der Streikunterstützung verzichtete, erklärte sich Esslinger einverstanden mit seinem Plan. Franz erteilte hierauf der Gruppe im Auftrag der Streikleitung die erforderlichen Anweisungen. Es musste mit einer Anzahl von Streikbrechern gerechnet werden. An diesem ersten Vormittag galt es vor allem festzustellen, wo und in welchem Ausmaß gearbeitet wurde. Esslinger hatte eine Liste der Werkplätze mitgebracht, wo nach den Angaben der Kollegen bis gestern gearbeitet worden war. Man hatte jedoch auch sonst die Augen offen zu halten. Die Liste mochte Lücken aufweisen, insbesondere von kleinsten Betrieben fehlten vielfach Informationen, und es war denkbar, dass einzelne Meister am heutigen Tag ihre zur Arbeit erschienenen Leute zur Ausführung eines besonders dringlichen Auftrags zu einem neuen Kunden geschickt hatten. Gegenüber auf der anderen Straßenseite, gleich neben der Post, stand einsam vor dem Schaufenster einer Metzgerei ein weiß gewandeter Maler auf seiner Leiter. Er pinselte eifrig den Fensterrahmen grün, anscheinend, ohne sich jemals nach der eigenartigen Straßenversammlung umzuschauen. Es war zu beachten, dass es sich nicht um einen Streikbrecher, sondern um einen kleinen Meister handelte, der gestern noch mit zwei Gesellen hier gearbeitet hatte, und dass man nicht befugt war, derartigen Meistern wegen ihrer Tätigkeit Vorwürfe zu machen. Und vor allem natürlich, und das galt auch für alle kommenden Tage, war alles zu vermeiden, was dem Gegner Gelegenheit gab, der Gewerkschaft irgendwelche Gewalttätigkeiten nachzuweisen. Was nicht hieß, dass man nötigenfalls nicht entschieden aufzutreten oder gar Gemeinheiten einfach einzustecken gesonnen war.

Zwei behelmte Polizeileute waren schon vor einem Weilchen drüben an der Post vorbeimarschiert, eine auffallende Erscheinung in dieser Stadt, wo die Polizei normalerweise nur nachts zu zweit zu patrouillieren pflegte. Nun tauchte gar eine Dreierstreife auf. Einer neben dem anderen marschierten die Uniformierten in geschlossener Reihe, wodurch sie die recht zahlreichen Fußgänger zu ärgerlichen Ausweichmanövern zwangen.

Eben war vor dem Hause neben der Wirtschaft der imposante Wagen der städtischen Kehrichtabfuhr vorgefahren. Drei stämmige Männer, hemdsärmelig und mit vorgebundener brauner Schürze, waren in erstaunlichem Tempo damit beschäftigt, den Inhalt der zehn oder zwölf vor der Haustür zusammengestellten Kehrichtkübel scheppernd oder schmetternd in den Bauch des gefräßigen Ungetüms zu schlagen.

«Sorgen haben die!», rief einer von ihnen den Malern zu, indem er mit dem Daumen rückwärts über die Schulter hinweg auf die Polizeileute zeigte. «Der Mörder des kleinen Louis Probst läuft frei herum, der Mörder des Taxichauffeurs – wie hieß er gleich? – läuft frei herum, auch von dem Mörder jener Flöte, der Rossi, von der sie am Anfang flunkerten, sie habe sich selber aufgehängt, fehlt jede Spur. Tut alles nichts, die Herren haben keine Zeit – die Maler streiken!»

«Die regen sich eben mehr auf über einen Pinsel, der nicht streicht, als über einen geladenen Revolver, wenn er nicht gerade gegen einen Obergestopften gerichtet ist!», höhnte einer aus der Schar.

«Mut habt ihr schon», sagte der Beschürzte, «alle Achtung, ich hätte es euch kaum zugetraut, ehrlich gestanden.»

«Wär mir auch nie eingefallen, für den Streik zu stimmen, wenn wir seit Jahren euren Zapfen hätten und keinen arbeitslosen Tag und drei Wochen Ferien und eine gestopfte Pensionskasse wie ihr Städtischen!», rief ein jüngerer blonder Kollege, der unweit von Esch stand.

Esslinger schüttelte ärgerlich, wie ein von Fliegen und Bremsen gepeinigter Stier, den schweren Kopf. «Es gibt auch unter uns Kollegen», sagte er zu dem Mann vom Abfuhrwesen, «die das Wichtigste nicht begreifen wollen und auf die gemeinsten Schlagworte des Gegners hereinfallen. Hans» – er wandte sich unmittelbar an den jungen Blondschopf –, «was du da gesagt hast, das würde unsern Meistern das größte Vergnügen bereiten, wenn sie davon vernähmen. Sie werden ohnehin keine Mühe scheuen, uns von der übrigen Bevölkerung zu isolieren. Die Städtischen haben sich allerhand erkämpfen können, und das wissen sie genau, dank unsrer Solidarität. Aber auch wir können nur siegen, wenn die ganze Arbeiterschaft zu uns hält. Und ich bin überzeugt, die Städtischen werden in der vordersten Linie für uns marschieren!»

Der Abfuhrarbeiter drückte Esslinger kräftig die Hand. Die Runde musste vor Mittag beendet sein, er konnte unmöglich länger verweilen.

Die Maler verteilten sich nunmehr auf drei kleinere Gruppen, von denen jede ihren Kontrollsektor übernahm. Alf kontrollierte zusammen mit sechs Kollegen die Häuserblöcke, die stadtwärts zu beiden Seiten der Hauptstraße lagen. Der Erfolg der Streikparole schien bedeutend zu sein. Acht gemeldete Werkplätze zeigten sich vollkommen stillgelegt, wo tags zuvor noch mindestens zwanzig weiße Gestalten sich emsig auf den Gerüsten getummelt hatten. In einem Tea Room, dessen Renovation beinahe beendet war, konnten zwei Streikbrecher, darunter ein Mitglied der Sektion, entdeckt werden, die sich durch die Flucht in die Toilette dem lästigen Gespräch entzogen. Ein Unorganisierter wurde beim Streichen der Eingangstür eines älteren Zweifamilienhauses überrascht. Er ließ sich ohne Widerstand in eine freundschaftlich geführte Diskussion verwickeln, in deren Verlauf er sich zum Mitmachen und zum Eintritt in den Verband entschloss. Die Berichte der beiden anderen Gruppen ergaben im großen Ganzen dasselbe Bild. Wenn es in den übrigen Stadtbezirken ähnlich aussah, durfte man sich mit dem Beginn der Aktion zufriedengeben. Morgen wollte man sich wieder treffen zu früherer Stunde. Alf war entschlossen, sich pünktlich einzufinden. Es stärkte, zu wissen, was unverrückbare Pflicht war, und es half, alle Widrigkeiten gering zu achten, wenn man diese Pflicht mit beharrlichem Einsatz erfüllte.

Am Stammtisch der Rebellen

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