Читать книгу Am Stammtisch der Rebellen - Harry Gmür - Страница 13
II.
ОглавлениеSie war klein und knabenhaft schlank, selbst in ihrem nicht nach der letzten, gerade fallenden Mode, doch sehr wirkungsvoll in die Taille geschnittenen schwarzen Stoffmantel und dem schmalen Blaufuchskragen, der in reizendem Schwung auf ihren Schultern lag. Sie ging ohne Hut. Ihre Stufe um Stufe bis auf die Höhe des Nackens sinkenden Locken schimmerten in überlichtetem Blond, das bestach, auch wenn es nicht der Natur allein sein Dasein verdankte. Mit ihrem seltsam wiegenden Schritt, der von rührender Anmut war, wie der eines Rehs, und zugleich gefährlich behutsam wie jener einer Pantherkatze, strebte sie auf ihren zierlichen hohen Absätzen der kleinen Bar zu, wo sie sich gelegentlich mit Alf zu treffen pflegte.
Es war noch nicht sieben, und sie war zu früh, aber wozu sollte sie sich in ein anderes Lokal setzen? Wenn Alf nur kam! Gewiss blieb er wieder stecken, wie schon so oft, bei seiner gottverfluchten Alten! Vielleicht so wie letzten Montag, wo er es nicht einmal fertiggebracht hatte, sich telephonisch bei der verzweifelten Geliebten abzumelden! Wenn er sie wieder einfach sitzen ließ – dann konnte er sicher sein, dass sie etwas ganz Dummes und Gemeines anstellen würde. Sie würde sich erst betrinken und sich dann, sie wusste schon, wo, einen bildhübschen, gepflegten und tadellos angezogenen Jungen suchen und ihn für eine Stunde – nein, wenn er ihr passte, für eine ganze Nacht, und gratis und franko selbstverständlich – zu sich heraufnehmen! Es war schon widerlich genug, dass er fast jedes Mal, wenn er kam, nach Dreiviertelstunden auf die Uhr zu schielen begann, sich nach knapp zwei Stunden feig von ihr losriss und heimrannte wie ein sündiger Hund, der auf einen einzigen Pfiff mit eingezogenem Schwanz zu seinem Herrn läuft, obwohl er genau weiß, dass ihn Prügel erwarten.
Sie stand vor der Bar. Sollte sie überhaupt hineingehen? Besser wäre es, davonzulaufen, sich irgendwo zu verstecken – dann hätte er die Enttäuschung, und sie tröstete sich für heute mit der tiefen Genugtuung über seinen Gram!
Sie fragte sich, warum sie eigentlich die Türklinke niederdrückte. Nun, sie hatte ja reichlich Zeit, wieder zu verschwinden, beschwichtigte sie sich, als sie den schmalen, dürftig erhellten Raum betrat, der gerade groß genug war, um die länglich geschweifte Bartheke und das Dutzend hochbeiniger ledergepolsterter Hocker zu fassen. Recht zahlreiche Gäste, vornehmlich Geschäftsherren, saßen bereits vor ihrem Aperitif. Doris erspähte lediglich zwei unbesetzte Stühle in der Ecke. Vor dem einen stand zwar eine halb volle Kaffeetasse, doch auf dem zweiten gleich daneben ließ sie sich nieder.
Im gleichen Augenblick legte sich eine unsichtbare Hand auf ihre Schulter.
Sie fuhr herum. «Alf», rief sie, «du bist schon da? Das ist wirklich das Letzte, was ich erwartet hätte!» Strahlend zog sie sein Gesicht zu sich herunter. Herzhaft drückte sie ihre kräftig bemalten vollen Lippen auf seine Wangen. Er setzte sich vor seinen Kaffee, nachdem er die Zeitung, die er sich eben geholt, drüben ins Gestell zurückgelegt hatte. «Du musst dich abwaschen, ich hab dich ganz verschmiert», lachte sie, als sie ihn ansah. «Aber wie kommt’s denn, dass du schon hier bist, zu dieser Zeit?»
«Direkt vom Geschäft weg bin ich in die Stadt gefahren.»
«Dann fährst du jetzt heim zum Abendessen, Alf, du lässt mich allein, aber du wirst’s bereuen!»
Ihre herrlichen großen Augen glänzten starr und stechend, als begänne ihre Enttäuschung sich in Hass zu verwandeln.
«Ich geh nicht heim, ich bin diesen ganzen Dreck so satt, zu Hause und in der Bude, du kannst dir’s nicht vorstellen!»
Er erzählte von seinem jüngsten Streit mit Erna und dem Schwiegervater.
«Alf», sagte sie nach kurzem Nachdenken, «dein Verband ist mir so breit wie lang, aber du darfst nicht austreten. Sie behandelt dich ja wie einen Lehrbuben – es ist eine bodenlose Frechheit von der Frau, dir solche Vorschriften machen zu wollen.»
«Sprechen wir nicht mehr von dem ganzen Schrecken – ich vergesse ja alles, wenn ich bei dir bin», sagte er, fast mit dem verzauberten Lächeln eines Kindes, das nach langen winterlichen Krankentagen zum ersten Mal aus einer Stube hinaus in den sonnig erwachenden Frühling tritt.
Sie legte ihre schmale kleine Hand mit den langen, bedrohlich scharfen Purpurnägeln auf die seine und umklammerte sie fest, während sie sich bei dem Barmann ihren Kaffee bestellte.
«Wie lange hast du Zeit?», fragte sie nach einem Weilchen mit erneuter Besorgnis.
«Frag nicht danach», bat er, «heute nicht. Wir legen die Zeit aufs Eis – soll sie später auftauen!»
«Du hast dich gebessert, Alf», anerkannte sie. «Ich hätte dich zwar so oder so nicht mehr gehen lassen. Aber was wirst du Erna erzählen?»
«Ich hab ihr schon etwas erzählt, telephonisch, von einer unerwarteten Besprechung.»
«Immer diese Lügen – die telephonischen und die nichttelephonischen, statt dass du einfach zu mir stehst!»
Die Tassen waren leer. Ohne auf ihren Vorwurf einzugehen, winkte Alf die Bedienung herbei und legte einen Zwanzigkronenschein auf den Tisch. Von den ungefähr achtzehn Kronen, die der Barmann hinzählte, ließ Doris eine größere Münze liegen. Den Rest steckte sie mit flinker Hand in ihre schwarze Ledertasche.
«Ich bin stier, knochenstier», erklärte sie, indem sie ihren Blick, Verzeihung erflehend, auf den Freund richtete.
Mit einer Zartheit, als berührte sie die pulsierende Fontanelle eines Neugeborenen, strich seine Rechte über ihr weiches, fast allzu feines Haar.
«Wenn ich nur meine Wohnung endlich bezahlen könnte, wir sind schon in der Mitte des Monats!», sagte sie beim Hinausgehen.
Auf dem Quai hatten in der Zwischenzeit die Lichter der Schaufenster und Neonreklamen, der Straßenbahnzüge, Fahrräder und Automobile das trübe Grau des verebbenden Tages erwärmend in die Flucht gejagt. Es war eine der Stunden, in denen der Herzschlag der Stadt gemächlicher ging: die Stunde nach dem betäubenden Sturm, der aus Tausenden von Büros, Werkstätten und Fabriken über Straßen und Plätze hereingebrochen war; die Stunde aber auch, ehe eine neue, diesmal in Festbeleuchtung strahlende Welle wieder heranbrauste, gerade hier in der Nähe des Großen Platzes an der Quaibrücke, die das Ende des Sees von dem sanft abströmenden Flusse schied. Nirgends in der vergnügungssüchtigen Metropole lagen die großen Kinos und Theater, die Cafés, Bars und Dancings so dicht gedrängt wie hier, am rechten Ufer der beiden Gewässer, wo die breite Fahrstraße von der villenübersäten Berghalde her den wichtigsten Übergang nach der City erreichte.
Ziellos spazierten Alf und Doris an schmucken alten Hausfassaden vorbei den Quai hinunter. Auf der anderen Seite der Straße, dort, wo sie sich gabelte, um den mächtigen Häuserblock herum, der mit seiner Vorderfront eine ganze Schmalseite des Großen Platzes begrenzte, bewegten sich unter einer kleinen, noch kahlen Baumgruppe zwei Frauengestalten.
«Marietta und Susi», sagte Doris hinüberspähend.
Sie waren zuvor wohl im Kakadu gewesen, der Bar drüben in dem großen Haus, wo das Nachmittagskonzert des Tanzorchesters um sieben zu Ende gegangen war. Sie suchten nun, was sie drinnen nicht gefunden, unter jenen selben Kastanienbäumen, unter welchen Alf eines Abends im vergangenen September die kleine Doris zum ersten Mal gesehen. In bedrückter Stimmung war er damals vom Großen Platz her am Eingang des Kakadu, an dem danebenliegenden Wiener Café und an dessen eisenumgittertem, baumbestandenem Sommergarten vorüber unter das dunkelgrüne Blätterdach vorn an der Gabelung gelangt. Dort hatte sie gestanden, in leichtem gelbem Jackenkleid, wie ein unschuldiges und hilfloses kleines Kind neben der hünenhaften Susi, hatte ihre großen, dunkel glühenden Pupillen halb forschend, halb verheißend und niederträchtigen Zaubers voll auf den Fremden gerichtet, der, verwirrt vor Schrecken und seltsamer Rührung, über die Straße hinweg davongelaufen war. Für Mitleid hatte er damals seine Ergriffenheit gehalten. Dieses Mitleid hatte ihn während der folgenden vierzehn Tage fast Abend für Abend für eine gute Weile als einsam herumschlendernden Beobachter an den Quai getrieben – bis zu der Stunde, wo er, um eine Hausecke biegend, dem Mädchen so geradewegs entgegengelaufen war, dass sie ihn gleich bei beiden Armen gepackt und ihm mitten ins Gesicht gelacht hatte: «So, Sie unverbesserlicher Heiliger, wollen Sie auch jetzt wieder ausreißen?»
Er war nicht ausgerissen, hatte seine Heiligkeit reuelos zum Opfer gebracht. Sie aber hatte fortan den Kakadu wie das gegenüberliegende Eldorado gemieden, wo sie zuvor drei Monate lang tagtäglich verkehrt hatte, und nie mehr war sie auf und ab getrippelt unter Kastanienbäumen.
«Wohin gehen wir eigentlich?», fragte Doris, während sie ihren Arm unter den seinen schob und sich eng an ihn schmiegte – ein wenig deshalb, weil sie wusste, wie unbehaglich ihm dabei auf so belebter Straße zu Mute ward.
«Was weiß ich», sagte Alf. «Wohin du willst. Wie wär’s denn mit dem Schwarzen Lamm?»
Sie waren schon zwei- oder dreimal dort gewesen. Da die Wirtschaft sich ganz in der Nähe befand und Doris’ Füße in den modisch unbequemen Schuhen zu schmerzen begannen, erklärte sie sich ohne Weiteres einverstanden.
Nach wenigen Schritten bogen die beiden rechts in ein enges, düsteres Gässchen ein, das wie eine Schlucht zwischen hohen, von vereinzelten, meist lichtlosen Fenstern durchbrochenen Mauern hinanführte. Ein paar Meter weiter oben zur Linken streckte eine metallene schafähnliche Tierfigur allein und verwittert ihr unschuldiges Haupt in die feuchte Luft, unmittelbar über einer schmucklosen hölzernen Tür, die Alfred aufzustoßen sich anschickte.