Читать книгу Am Stammtisch der Rebellen - Harry Gmür - Страница 23
DRITTES KAPITEL I.
ОглавлениеDer alte Steinmeyer ging mit großen Schritten, als hätte er’s eilig, nochmals und wieder um seinen Schreibtisch herum, während Erna blass, stumm, aus völlig trockenen Augen vor sich hin starrend auf ihrem Sessel verharrte. War das ein Vormittag! Steinmeyer erinnerte sich nicht, einen Tag erlebt zu haben, an welchem alles so gründlich schiefgegangen war. Geradezu herausfordernd kam es ihm vor, wie unbekümmert draußen die Sonne schien, nur ab und zu von windgehetztem Gewölk verschleiert.
Dieser unerwartete Streikbeschluss! Die Kerle waren verrückt geworden. Man hatte sie seit Langem viel zu anständig behandelt. Man hatte Größenwahn und Anmaßung in ihnen gezüchtet. Man war wohl selber schuld, wenn sie Großzügigkeit mit Schwäche verwechselten. Man hatte sie sich leichtsinnig selbst eingebrockt, die ganze Bescherung! Auf diesen Wild, diesen doppelzüngigen Streber, war offenbar auch kein Verlass. Und was schlimmer war: Auch die katholische Sektion und selbst die evangelische, auf die man blind gezählt, hatten sich gestern in ihren gesonderten Versammlungen mit dem Streikbeschluss der roten Gesellschaft solidarisch erklärt! Ganze sieben Mann von gegenwärtig dreiundfünfzig beschäftigten Gesellen waren heute früh bei der Firma Steinmeyer zur Arbeit erschienen, «das Fähnlein der sieben Aufrechten», wie der Meister sie gleich mit scharf berechnetem Lob genannt hatte. Er hatte die kleine Schar auf drei Werkplätze verteilt; auf elf Plätzen ruhte jede Tätigkeit. Nun, man würde es den Burschen gehörig besorgen, der Größenwahn führte auch diesmal mit Sicherheit zum wohlverdienten Katzenjammer! Aber bis zum Sieg verstrichen, wenn es schiefging, zwei, drei Wochen, die gutes Geld kosteten und in denen es allerhand peinliche Schwierigkeiten zu überwinden galt.
Nicht erheiternder aber als die Enttäuschung mit der Arbeitnehmerschaft waren die eigentlich kaum überraschenden und dennoch alle Befürchtungen in den Schatten stellenden Nachrichten über das schweinische Benehmen des Schwiegersohns. Punkt sieben Uhr fünfundvierzig hatte Steinmeyer in einer benachbarten Kaffeestube Detektiv Huber zum Rapport empfangen. Der Bericht war ganz einfach niederschmetternd. Leider hatte Huber gestern kurz vor acht Uhr Alfreds Spur verloren. Dafür hatte er allerhand beobachten können, was das Bild des famosen Frauenzimmers rundete, das der liebe Alf auszuhalten schien. Steinmeyer hatte es zuerst nicht fertiggebracht, die Tochter von dem Verrat in Kenntnis zu setzen. Doch jetzt wusste sie alles. Nach halb zehn hatte sie sich für eine halbe Stunde nach Hause abgemeldet, wegen angeblicher Kopfschmerzen und weil sie ihre Tabletten daheim gelassen. Nach ihrer Rückkehr hatte sie in heller Empörung von Eschs himmeltraurigem Auftreten auf der gestrigen Malerversammlung erzählt. Daraufhin hatte auch Steinmeyer offen gesprochen. An allseitiger Klarheit wenigstens fehlte es nicht mehr über den Skandal, der sich als schlechthin beispiellos entpuppte. Die Rätsel, die der Heuchler so lange aufgegeben hatte, waren gründlich gelöst. Es blieb nur eines übrig: aus der Katastrophe die Folgerung zu ziehen, die sich mächtig aufdrängte.
«Ein Schweinehund, dein Alf, ein fertiger Schweinehund!», stieß der Alte hervor.
«Mein Alf!», erwiderte Erna voller Abscheu. «Ich entschuldige mich, dass er es jemals war!»
«Was gedenkst du zu tun?»
«Vater, das kannst du getrost mir überlassen!»
«Wirf ihn gleich hinaus, vielleicht lässt er sichs gefallen!»
«Ich gehe heute noch zum Anwalt; wen empfiehlst du mir?»
«Doktor Schwertfeger, der ist hervorragend. Nein, geh besser zu Doktor Cornelius Bolz.» Bolz besaß und verwaltete ausgedehnte Liegenschaften. Das zählte, auch wenn es um das Schicksal der Tochter ging …
«Ich werde ihn anrufen», sagte Erna nachdenklich. «Obwohl ich nicht weiß, ob ich jetzt schon klagen will.»
Steinmeyer war erstaunt. «Worauf willst du denn warten?», fragte er ungehalten. «Du glaubst doch nicht, dass hier noch etwas zu retten ist. Deine schönsten Jahre hast du an diesen Wahnsinnigen verschwendet. Jetzt, wo du endlich klarsiehst, sollte dir jede Minute zu kostbar sein!»
«Sei unbesorgt», erwiderte die Tochter mit finsterer Ruhe. «Ich halte es nur für meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass dieser Wahnsinnige dahin gelangt, wohin er gehört!»
Steinmeyer erfasste nicht ganz den Sinn der dumpfen Drohung, doch mochte er Erna nicht bedrängen. «Tu, was du willst», sagte er vertrauend. «Ich meinerseits, ich gedenke mich ein wenig um die Finanzen des Kollegen Esch zu kümmern. Der Herr verlässt sich auf einen fetten Auftrag der Magazine zur Metropole. Ich fürchte, Kollege Esch wird in der nächsten Zeit mit seinen zwölf Kronen Streikunterstützung auszukommen haben; seine Hure wird ihm dafür besonders dankbar sein …»
Erna entfernte sich, nachdem der Vater ihr erklärt hatte, er bedürfe ihrer nicht mehr. Das arme Ding! Selbstverständlich war Esch zu feige, sich dem Schwiegervater offen zu stellen; der Meister hätte sich kaum enthalten können, dem Lümmel die Faust mitten in die Zähne zu schlagen. Aber es war sinnlos, sich hier im Stillen zu ereifern. Besser war’s, statt sich selbst zu ärgern, man tat alles Erdenkliche, damit sich die anderen in den Boden grämten.
Steinmeyer telephonierte vorerst allen Kunden, die er heute im Stich gelassen hatte und die er zu dieser Stunde zu erreichen vermochte. Man möge sehr entschuldigen, die Firma könne wirklich nichts dafür, die Meister seien ihren Gesellen bis zum Alleräußersten entgegengekommen, aber die Arbeiter würden heutzutage immer unbescheidener und verwöhnter, erklärte er siebenmal hintereinander. Und man möge sich ein wenig gedulden, sehr lange werde das Ganze nicht dauern, es fehle nicht an Arbeitswilligen, und man werde Mittel und Wege finden, um Ersatzleute von auswärts heranzuziehen. Die meisten brachten Verständnis auf, ja Mitleid für den betroffenen Meister. Einzig Doktor Siebenkönig schimpfte mächtig. Sein neues Apartmenthaus – er besaß bereits deren sechs – war nun nicht zu vermieten, und dabei wäre alles fertig geworden, wenn Steinmeyer vor einer Woche auf Siebenkönigs ausdrücklichen Wunsch gehört und ein paar Leute mehr zur Verfügung gestellt hätte. Und Frau Professor Haferkorn geriet geradezu außer sich vor Entsetzen. Das Tor zum Garten ihrer Villa und viele Meter der eisernen Umfriedung prangten in entsetzlichem fleischrotem Anstrich, und für morgen Abend hatten die Herrschaften vierundzwanzig Gäste geladen! Diesen Zaun fertig zu streichen, genügte ein Mann. Der Meister erklärte sich der Frau Professor zuliebe gern bereit, jemanden von den wenigen Getreuen morgen früh vorbeizuschicken.
Nachdem er Frau Professor beruhigt hatte, suchte Steinmeyer Verbindung mit dem Sekretariat des Meisterverbandes, doch ertönte immer noch ein feindseliges Besetztzeichen. Ein Zettel lag ferner da, der Meister hatte ihn gestern vor Feierabend bereitgelegt: Farbe war dringend zu bestellen bei Rutschmann und Co. Nun, damit war’s nichts, dieses Geschäft hatte an Dringlichkeit wesentlich eingebüßt seit sechzehn Stunden! Aber für den befreundeten Kleinmeister Meier in Dörrach war es Zeit! Steinmeyer hatte ihn bereits frühmorgens zu erreichen versucht und von der Frau den Bescheid erhalten, ihr Mann werde gegen halb elf Uhr in sein Büro zurückkehren. Tatsächlich, er meldete sich selbst am Apparat. Ob er nicht Maler kenne, fragte Steinmeyer, die bereit wären, für vier bis viereinhalb Kronen die Stunde vorübergehend in der Stadt zu arbeiten. In Frage kämen vor allem kleine Meister, die allein arbeiteten oder einen einzigen Gesellen beschäftigten. Man wolle es nicht riskieren, gewisse Kunden zu verärgern. Es gebe auch einen Fall, da Steinmeyer ernstlich zu befürchten habe, eine bedeutende Schadenersatzsumme bezahlen zu müssen, die er bei Nichtfertigstellung der betreffenden Arbeit auf den dreißigsten April zu entrichten verpflichtet war. Meier verstand und versprach, Umschau zu halten und in zwei oder drei Tagen Bericht zu erstatten.
Damit hatte es mit den geschäftlichen Gesprächen für heute sein Bewenden, und es blieb nur mehr übrig, Direktor Schmid von den Magazinen zur Metropole anzurufen, mit dem der Meister, seit er bei der letzten Renovation des Geschäfts die Malerarbeiten ausgeführt hatte, auf ausgezeichnetem Fuße stand. Steinmeyer entledigte sich seines Vorhabens mit grimmigem Vergnügen.
Darauf setzte er sich den breitrandigen Hut aufs Haupt – den Mantel durfte man heute wohl hängen lassen –, kletterte behänd die Treppe hinunter und eilte hinaus zu Chauffeur Ritter, der in seine Zeitung vertieft am Steuer seines Wagens saß.
«Stellen Sie die Limousine in die Garage, Ritter», befahl der Meister, «ich möchte das Ding heute nicht unbewacht hier stehen lassen. Und holen Sie die Camionette. Wir müssen eine kleine Rundfahrt unternehmen zu unsern Werkplätzen. Fast die Hälfte unseres Materials dürfte dort einfach herumliegen – bezeichnend für das Verantwortungsgefühl, das die Herrschaften besitzen!»