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ZWEITES KAPITEL I.

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Zum dritten Mal innerhalb von fünf Minuten warf Meister Steinmeyer einen Blick auf seine goldene Armbanduhr, an die er leidlich gewöhnt war, obwohl er sie vor drei Jahren erst mit seiner mächtigen alten Taschenuhr vertauscht hatte. Acht Uhr zwanzig! Seit acht saß er hier in seinem Büro am Schreibtisch und wartete auf Erna, die jeden Vormittag während zwei, drei Stunden seine Korrespondenz zu erledigen pflegte. Auf neun Uhr hatte er sich heute mit einem Architekten verabredet, mit dem er zwecks Übernahme der Malerarbeiten in einem ganzen Komplex von vierzehn neu zu erstellenden Wohnblöcken in wichtigen Verhandlungen stand. Er hatte deshalb die Tochter um besondere Pünktlichkeit gebeten – fast überflüssigerweise, wie er geglaubt hatte, denn Erna besaß nicht die Gewohnheit, sich zu verspäten. Ihr Fernbleiben war unbegreiflich.

Steinmeyer griff nach dem Hörer, drehte sechsmal mit hastendem Finger die vor dem Nummernblatt liegende zehnfach gelöcherte Metallscheibe.

«Wie, du bist noch zu Hause? Was fällt dir denn ein! Du weißt doch, dass ich heute nicht warten kann!», rief er ungehalten, als Erna sich meldete.

«Du musst entschuldigen, Papa, ich komme gleich», antwortete die Tochter. Sie sprach leiser als sonst, das schlechte Gewissen schien auf ihrer Stimme zu lasten.

«Ich entschuldige gar nichts», rief Steinmeyer mit Schärfe. «So etwas darf einfach nicht vorkommen, hast du verstanden?»

«Ich habe verstanden», tönte es von der anderen Seite her.

«Aber ich bin nicht schuldig. Ich habe mich verschlafen – bis vier Uhr hab ich kein Auge zugedrückt. Frag Alfred, warum, falls er sich unten befindet!»

Steinmeyer legte den Hörer auf den Apparat zurück. Der Fall wurde immer rätselhafter! Ob wirklich auch der Schwiegersohn diese erste Morgenstunde zu schwänzen sich getraute? Der Meister erhob sich, ein leicht angegrauter Sechziger von mittlerer Größe und beträchtlicher Körperfülle und dennoch, stolz aufrecht, wie er nun dastand, bis auf das übermäßig vorstehende Bäuchlein nicht von schlechter Figur. Mit erstaunlicher Behändigkeit stieg er die steile Holztreppe hinunter, die aus seinem Arbeitsraum unmittelbar ins Freie führte. Dann überquerte er den Hof zwischen der Villa und dem einstöckigen Werkstattgebäude und öffnete nach kurzem Zögern die Tür zu dem Atelier, in dem die Lampenschirme ihre malerische Verzierung fanden.

Alfred Esch stand da, mit Pinsel und Palette, in seinem Malerkittel, mit abgewandtem Gesicht. Ohne sich umzusehen, fuhr er gemächlich fort, Farbstrich um Farbstrich auf den eben bearbeiteten Schirm zu setzen. Auf seinem Nacken, vom Ende der Wirbelsäule bis nahezu unter das linke Ohr – täuschte sich Steinmeyers schattengedämpfte Sicht? –, schien sich ein breiter, blutroter Striemen hinzuziehen …

«Guten Morgen», grüßte der Alte in aller Kürze. Dann zog er die Tür ins Schloss zurück, ohne irgendein Echo abzuwarten. Stufe um Stufe kletterte er wiederum hinauf in seinen Arbeitsraum. Vor zwei Jahren noch hatte er zwei Stufen auf einmal genommen, aber was büßte er ein, wenn er heute auf derartige Zwecklosigkeiten verzichtete, die nur geeignet waren, sein Herz in übertriebene Aktivität zu versetzen?

Acht Uhr siebenundzwanzig! Wie das Raubtier in seinem Käfig ging Steinmeyer auf und ab in seinem Büro, das ohne Schmuck lediglich mit ein paar einfachen älteren Gebrauchsmöbelstücken ausgestattet war; er benutzte das Lokal nicht zuletzt auch für seine Unterredungen mit den Gesellen. Noch wusste er nicht, was sich zugetragen hatte, doch spürte er wohl, dass sein erneut aufsteigender Ärger über den Schwiegersohn kaum der Berechtigung ermangelte. Er hatte irgendwie Pech gehabt mit seinen Töchtern, sagte er sich mit Bitterkeit. Sylvie, die ältere, war mit ihrem Gatten, gewiss einem tüchtigen, unternehmungsfreudigen Ingenieur in hoch bezahlter Stellung, nach den Vereinigten Staaten ausgewandert, ihre beiden Kleinen hatte er nur auf Photographien bewundern können. Erna hatte leider das Kind, das sie erwartet, durch eine Frühgeburt verloren und es seither nicht mehr gewagt, sich ähnlichen Gefahren auszusetzen. Und Esch – der Schwiegervater hatte ihm sicher mehr als guten Willen bewiesen, und er war auch nicht ungerecht, er kannte und anerkannte die Fähigkeiten, die der Junge besaß. Und dennoch trug es der Vater der Tochter nach, dass sie seinerzeit von seinen ehrlich gemeinten Warnungen nichts hatte wissen wollen. Dennoch war er böse auf sich selbst, weil er sich damals von Erna, seinem Liebling, hatte erweichen lassen. Bedauerte nicht auch sie heute im Stillen ihren einstigen Sieg? Sie, die in ihrem ganzen stolzen Wesen dem Vater so ähnlich war, musste nicht auch sie sich krank ärgern über die verbohrte und dennoch quallige, kaum greifbare Widerspenstigkeit, die Alf, man wusste nicht immer, gegen wen und weswegen, an den Tag legte? Steinmeyer jedenfalls konnte die spitzen Bemerkungen nicht leiden, mit denen der Schwiegersohn ihn zuweilen wegen irgendeiner Belanglosigkeit treffen zu müssen glaubte und die jener, sobald der Herausgeforderte aufbrauste, mit den feigen Worten zurückzog: «Entschuldige bitte, ich möchte ja gar nichts gesagt haben.» Und mehr noch ging ihm das aufreizende Schweigen auf die Nerven, das so häufig Eschs giftgetränktes Fühlen dumpf verkündete, wo klare Zustimmung fällig war, jenes einmalig verhöhnende Zucken der Nasenflügel über krampfhaft zusammengepressten, dem beißenden Nein den Ausgang mühsam versperrenden Lippen. Vielleicht wäre all dies zu verdauen gewesen, wenn es einen sichtbaren, halbwegs vernünftigen Grund gegeben hätte zu dem Benehmen. Aber konnte sich Steinmeyer einen Vorwurf machen, weil er im Gegensatz zu Esch lange vor seiner Heirat mit der Erbin von acht baren Hunderttausendern bereits sein eigenes, obzwar bescheidenes Geschäft sich erarbeitet hatte, weil er sein Leben lang, wenn auch nicht immer im ersten Anlauf und ohne Rückschläge, den begehrten Erfolg sich erstritten hatte, während der Junge ohne des Schwiegervaters Hilfe gewiss auf Jahre hinaus und wohl für immer ein verträumter armer Schlucker geblieben wäre? Es war eine Schweinerei, die nicht endlos andauern konnte. Und wehe, wenn es wahr sein sollte, dass die Rücksicht auf Erna, die den Vater bisher behindert hatte, mit einem Male dahinfiel, ja, dass die Rücksicht auf Erna auf irgendeine Weise zuzuschlagen befahl …!

Die Stufen der Treppe draußen knarrten, eine nach der anderen, in flüssigem Viervierteltakt. «Endlich!», rief Steinmeyer, als Erna wortlos den Raum betrat. Sie setzte sich auf den Sessel, der sich auf der Rückseite des Schreibtisches befand, und griff nach Block und Stift, während der Vater keine Miene machte, seinen Raubtierspaziergang abzubrechen.

«Alf ist unten, du wirst ihn gesehen haben», bemerkte er nach einer Weile, indem er einen forschenden Blick auf die Tochter warf.

«Wo sich Alf befindet, ist mir gleichgültig. Ich glaubte, du hättest es eilig mit deinem Diktat!», erwiderte sie scheinbar unbewegt.

«Du hast ihn schön zugerichtet, soviel ich bemerkt habe. Ist’s ein Geheimnis, warum?», bohrte er weiter.

Sie zuckte die Achseln. Ihr Blick hielt sich wohlverborgen hinter den schimmernd schirmenden Gläsern. «Um eins ist er heimgekommen, wenn du’s unbedingt wissen willst», sagte sie ruhig, wenn auch leise. «Mit einer Ausrede, die höchstens bis acht oder neun Uhr gereicht hätte. Nach Feierabend war er überhaupt nicht zu Hause.»

«Davongelaufen – aus Wut wegen der Sache mit Esslinger?», witterte Steinmeyer.

«Ich weiß es nicht. Er roch nach Alkohol und –» Sie stockte. «Bitte, dein Diktat, du wirst sonst wirklich zu spät kommen!», mahnte sie mit Entschiedenheit.

In der Tat, es war eine Viertelstunde vor neun, Steinmeyer hatte keine Minute mehr zu verlieren. Er setzte sich hin, schlug seine Mappe auf, diktierte den ungekürzten Text zweier Briefe, übergab Erna sieben Zuschriften mit den unentbehrlichsten stichwortartigen Anmerkungen für die Beantwortung. Dann ersuchte er sie, draußen nachzuschauen, ob der Wagen bereitstand, schlüpfte eilig in den grauen Überzieher, der an der Tür an einem Haken gehangen hatte, setzte den Hut aufs Haupt, seinen schönen, grauen, niedrig flachen Filzhut mit dem ungewöhnlich breiten, rundherum leicht nach oben gekrempten Rand, und begann erneut, hin und her zu wandeln, bis er plötzlich vor dem Schreibtisch stehen blieb, einen kurzen Blick in das Telephonbuch warf und die gefundene Nummer zusammendrehte.

«Informationsbüro Huber», meldete sich eine breite Bassstimme. Steinmeyer bat Huber auf halb zwölf zu einer kurzen Besprechung in ein Kaffeehaus in der Nähe des Zentralbahnhofs.

«Ritter erwartet dich, der Wagen ist in Ordnung», meldete sich Erna zurück, als das Gespräch gerade beendet war.

Sie verabschiedete sich von ihm, wie sie’s gewohnt war, mit einem Küsschen auf die linke Wange, und es schien ihm, sie sei besserer Laune als vor dem Diktat. Mit seiner unmerklich zitternden schweren Hand drückte er ihren braun umlockten Kopf an seine Brust. Als er sie fahren ließ, versetzte er ihr in aller Herzlichkeit einen ordentlich derben Schlag auf den Rücken.

«Du bist verrückt, Papa», rief ihm die junge Frau auflachend nach, während er sich entfernte.

Sich selbst überlassen, setzte sich Erna wie immer an das kleine Tischchen an der Wand, ließ ihre Finger in stetig behändem Fluss über die klappernden Tasten der großen Schreibmaschine laufen. Doch wie sie den ersten fertigen Brief von der Rolle gedreht, stand sie auf, holte ihr schwarzes kalbsledernes Handtäschchen, das sie auf das halbhohe Aktenregal gestellt hatte, entnahm ihm ein nicht ganz frisches Taschentuch, ein größeres weißes Taschentuch mit violett gemusterter Umrandung. Genau betrachtete sie es vor dem Fenster in dem grau anströmenden Tageslicht. Sie waren nicht verblasst, die roten Flecken, und sie glaubte auch nicht, dass dies grelle Karmin von ihren Lippen stammte. Gestern hatten sie sich zudem überhaupt nicht geküsst, sie und Alf, soviel sie sich entsann. Wie er ja überhaupt den ganzen Winter über daheim von Besorgnis erregender Müdigkeit gewesen war. Auch dieser veilchenhaft milde Duft, den sie gestern Abend nicht zum ersten Mal, in die alkoholischen Gase widerwärtig gemischt, an ihm gewittert hatte … Sie selbst benutzte herbere Produkte! Und es fiel ihr nicht ein, sich länger mit dem Narrenmärchen abspeisen zu lassen, der Geruch stamme von einem kompliziert gemischten, eigentümlich aromatischen mysteriösen Cocktail mit einem schwer zu behaltenden Namen, den Alf in der letzten Zeit gelegentlich zu trinken behauptete. Vielleicht übertrieb sie ihren Verdacht. Vielleicht war der gestrige Abend harmloser verlaufen, als sie ihn sich ausmalte. Aber feige und niederträchtig hätte der Bursche auch dann an ihr gehandelt, und nach seiner verstockten Weigerung, ihr eine vernünftige Auskunft zu erteilen, konnte er sich niemals über sie beklagen, wenn sie ihre Vermutungen auf die Spitze trieb.

Sie hörte draußen einen Wagen vorfahren. War Ritter zurück, Vaters junger Chauffeur, der im Sommer nebenbei den Garten besorgte, hatte er ihren vertraulichen Auftrag mit solcher Promptheit ausgeführt? Trotz allem bangte ihr ein wenig vor dem Einfall, den sie so plötzlich, wie er ihr gekommen, in die Tat umgesetzt hatte. Es war gewiss nicht schön, einem Fremden, und einem Untergebenen gar, Einblick in Geschehnisse zu gewähren, die sich in ihrem persönlichsten Lebensbezirk zutrugen. Und doch – wie hätte sie im Wesentlichen anders handeln können? Sie hatte sich zuvor geschworen, sie würde Alf heimlich nachschleichen heute Abend und morgen und so lange, bis sie mit eigenen Augen sähe, was sie vorderhand nur ahnend erfasste. Aber was sollte sie sehen mit ihrer Kurzsichtigkeit? Der Verfolgte hätte sie ja zwanzigmal bemerkt, ehe sie dazu gekommen wäre, auch nur das Geringfügigste zu beobachten. Nein, auf diese Weise hätte sie sich nur lächerlich gemacht. Und es war gut, dass Kern nun vor ihr stand im weißen Arbeitskleid, Kern, den Ritter, nachdem er den Meister abgesetzt hatte, für eine Viertelstunde von seinem Arbeitsplatz in dem Gebäude in der Seestraße weggeholt, das man gegenwärtig in ein Apartmenthaus verwandelte.

«Sie werden verwundert sein, mich hier zu finden und nicht meinen Vater», sagte Erna, indem sie ihm die Hand reichte. Ihren kurzen, doch ungewöhnlich kräftigen Händedruck vergaß wohl niemand, der ihn jemals erfahren – es gab Empfindliche, die aufschrien und ihn als schmerzhaft bezeichneten.

«Ritter hat mir unterwegs einiges berichtet», versetzte Kern, ein schlanker junger Mann mit länglich schmaler Nase und merkwürdig nahe beieinanderliegenden, leicht schielenden Augen.

«Kern», sagte sie, «Sie wissen, dass mein Vater Sie schätzt, und auch ich habe Sie immer gut gemocht, Sie sind bestimmt der Anständigste von uns jüngeren Leuten.»

Sie hatte ihn stehen lassen, halbwegs zwischen der Tür und dem Schreibtisch, auf dessen einzige freie Ecke sie sich ungezwungen zu setzen befliss. Er wusste nicht recht, was er mit der Schmeichelei der Meisterstochter anfangen sollte. Wegen nichts in Verlegenheit zu geraten, war nicht seine Gewohnheit: Schweigend und mit verschränkten Armen erwartete er bessere Aufklärung.

Sie habe ihn um einen großen Gefallen zu bitten, begann sie nach einem Augenblick letzten Zauderns. In einer recht peinlichen Angelegenheit. Aber sie besitze Vertrauen zu ihm, überhaupt und in seine Verschwiegenheit ganz besonders, auch Steinmeyer dürfe er nichts verraten, solange sie selbst nicht mit dem Vater gesprochen habe. Es handle sich um Alfred Esch, ihren Mann. Sein Betragen sei in den letzten Wochen oft sonderbar. Gestern wiederum habe er sich aufgeregt wegen der Entlassung Esslingers – und nicht zuletzt über Kern! –, in einer Weise, die geradezu krankhaft anmutete. Zuweilen laufe er auch abends weg, und niemand wisse recht, wo und mit wem er sich dann herumtreibe. Sie sei, er müsse verstehen, nachgerade in einiger Sorge um seine Gesundheit. Sie müsse erfahren, unbedingt, was hinter dem ganzen Gebaren stecke. Heute Abend würde Esch bestimmt wieder in die Stadt fahren, sie jedenfalls würde ihn nicht daran hindern. Wenn Kern nicht zufällig besetzt sei – sehr dankbar wäre sie ihm, wenn er ihm folgte! So genau wie möglich solle er beobachten, was der Mann alles anstelle. Er sei schlau und habe scharfe Augen, er würde sich von Esch überhaupt nicht erblicken lassen und sich für den schlimmsten Fall irgendeine harmlose Ausrede zurechtlegen. Sie wisse, sie mute ihm Unbequemes zu. Aber auf sie, auf ihre Dankbarkeit dürfe er in jedem Falle zählen. Nur dürfe er ihr nicht das Geringste verschweigen, auch dann nicht, wenn er sich einbilde, die Wahrheit sei ihr unerträglich. Sie sei auf alles gefasst. Und es gebe ja Taten, die beleidigend wären, wenn ein Gesunder sie beginge, die aber nur Erbarmen zu wecken vermochten, sobald sie einem Leidenden unterliefen.

Kern erklärte sich einverstanden. Zwar, ganz gemütlich war ihm die Sache nicht. Er konnte es sich nicht leisten, sich mit Esch zu überwerfen. Und, logisch, schon gar nicht mit dem Meister! Aber Frau Esch zuliebe würde er die Mission übernehmen, und er würde schon alles herausfinden, da konnte sie sicher sein!

Er lachte das Wiehern eines Pferdes – wusste der Kuckuck, warum er sich zu lachen getraute! Ein frostiger Riesel lief Erna über den Rücken, als sie bemerkte, wie sein Blick sich schief bewundernd niedergelassen hatte auf der kräftigen, doch schlank auslaufenden nylonumspannten Form ihres linken Beins, das wie absichtslos über das rechte geschlagen war. Sie sprang vom Schreibtisch hinunter, bat den Mann zu gehen, Vater könnte plötzlich den Wagen vermissen.

«Rufen Sie morgen in meine Wohnung an», trug sie ihm auf, «möglichst pünktlich um zehn, ich werde mich bemühen, zu dieser Zeit für einen Augenblick zu Hause zu sein.»

Als er gegangen war und sie sich wieder ihren stenographischen Notizen zuwandte, lösten die Zeichen der Kurzschrift wie Kopfwehtabletten sich auf in dem Nass, das ihren Blick überschwemmte. Zornig zog sie ihr Tüchlein aus dem Handtäschchen und rieb sich das Gesicht unter der Brille. Dann griff sie erneut in das Täschchen, in ein Seitenfach, in dem sich seit Langem drei abgegriffene Photographien befanden. Die Bilder von Vater und Mutter ließ sie unberührt. Alfs Passphotographie zog sie hervor, die sie so gern mochte – er hatte sie aufnehmen lassen vor ihrer Pariser Reise. Sie betrachtete sie kurz, und bitter getröstet empfand sie Widerwillen fast ob der allzu hohen Stirn, den allzu scharf gezeichneten Linien des schmalen Mundes. Auf dem Schreibtisch lag eine Schachtel gewöhnlicher Streichhölzer. Vater benutzte immer diese altmodischen Dinger, nie ein modernes Taschenfeuerzeug, um seine Zigarre anzuzünden. Erna entfachte zwei der Hölzchen auf einmal und steckte die Kante des Bildes in Flammen.

Mühevoll, doch unaufhaltsam fraß das Feuer sich im Aschenbecher vorwärts gegen die Zähigkeit des Materials. Und es war, als ob in dem Brand auch die letzte Feuchtigkeit zu Dunst vergaste, die noch schimmernd vor ihren Pupillen lag.

Am Stammtisch der Rebellen

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