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III.

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«Schön von dir, dass du dich auch wieder einmal bei uns zeigst», sagte Kollege Jakob Matter grüßend zu Alf, als sie Seite an Seite den großen Saal des Volkshauses betraten. Jakob war der älteste Sohn eines kleinen Bergbauern, der nicht weniger als elf Kinder aufgezogen hatte. Begabtester und fleißigster Schüler der ganzen Dorfschule, hätte Jakob fürs Leben gern ein Lehrerseminar besucht, doch waren die erforderlichen Mittel nicht aufzutreiben gewesen. Nach Jahren mühseliger, dabei kaum entlohnter Arbeit im väterlichen Gewerblein hatte er schließlich als Maler den Weg in die Stadt gefunden. Schon seit Jahren war er als zuverlässiger Berufsmann für Steinmeyer tätig. Er war in Begleitung Paul Brunners gekommen, eines älteren Hilfsarbeiters, dem die Erinnerung an eine freudenarme Waisenjugend und an die langen Jahre der Arbeitslosigkeit, aber auch die Sorge, die ihm sein hartnäckiges Rheumaleiden bereitete, aus dem vorzeitig von zahlreichen Furchen durchzogenen Antlitz sprachen. Auch er bot Esch die Hand, die sich schwer und rau wie Holzwolle anfühlte. Indessen sagte er nichts, und Alf bemerkte wohl den warnenden Blick, den Paul aus seinen eigenartig verkniffenen Augen Jakob zuwarf.

Er fürchtet, ich sei im Auftrag des Meisters hier!, schoss es Alf durch den Kopf. Doch fiel’s ihm nicht ein, sich gegen den stummen Zweifel zur Wehr zu setzen. Dem guten Paul hatte Erfahrung wieder und wieder beigebracht, wie viel es kostete und zu welchen Enttäuschungen es führte, wenn ein einfacher Arbeiter sein Vertrauen allzu großzügig verschenkte. Esch, der sich aus Furcht vor dem Meister so lange von jedem gewerkschaftlichen Wirken gedrückt hatte, war gewiss nicht berechtigt, Klage zu führen, wenn ihn heute nicht alles mit blindgläubigem Jubel empfing. Den Glauben aber konnte er nicht wiedererwecken durch billige Beteuerungen, er musste schon durch die Tat beweisen, dass er kein Verräter war.

Die drei ungleichen Kollegen bewegten sich vorwärts durch einen Laufgang, der zwischen den rechts und links zu zwei Blöcken zusammengefassten Stuhlreihen hindurchführte. Ungefähr in der Saalmitte setzten sie sich hin, ließen ihre Blicke gemächlich herumwandern. Der Saal bot über zwölfhundert Personen Sitzgelegenheit, doch war die Galerie im oberen Stockwerk geschlossen geblieben. Von den ungefähr siebenhundert Sesseln im Parkett waren nur wenige Dutzend nicht besetzt um acht Uhr, als der hastlos, doch beständig hereinfließende Menschenstrom wie mit einem Schlage versiegte. Etwas mehr als tausend organisierte Maler zählte die Stadt. An die siebenhundert waren Mitglieder der freigewerkschaftlichen Sektion. Es war offensichtlich, dass an diesem Abend nicht mancher zu Hause geblieben war oder sich gar durch einen vergnüglichen Anlass von dem ernsteren Geschäft hatte abhalten lassen. Am ehesten vermissen mochte man die Jungen, die wenig über Zwanzigjährigen; Alf kam es vor, als wäre er selbst einer der Allerjüngsten in der Runde. Und das war wohl keine zufällige Erscheinung. Dieses Land hatte wenig unter dem Krieg, aber auch nicht unter der Arbeitslosigkeit der Nachkriegsjahre gelitten. Gleich von der Schulbank weg hatte diese Jugend eine Lehr- oder Hilfsstelle, nach der Lehre mühelos eine voll entlohnte Beschäftigung gefunden, ohne jemals wie die Väter oder älteren Brüder vor Jahren um den Arbeitsplatz zittern, vor der Stempelstelle Schlange stehen und wegen einer schlecht bezahlten kurzfristigen Arbeit umsonst von einer Bude zur anderen pilgern zu müssen. Und wenn das Zahltagssäcklein auch jetzt noch leicht genug wog für einen jungen Mann, der nicht unbedingt für jemanden zu sorgen hatte, reichte es neben dem einfachen Zimmer, der billigen Wurst und dem Becher hell zu diesem und jenem, und wenig Eindruck machte es auf diese Bevorzugten, wenn die älteren Kollegen ihnen vorhielten, unter welchen Opfern und beharrlichen Kämpfen auch das Geringste, was man heutzutage sozusagen geschenkt wähnte, einst einem unerbittlichen Gegner abgerungen worden war. Nein, es war nicht erstaunlich, dass so mancher dieser jungen Burschen sich in seiner Freizeit auf dem Sportplatz oder auf dem Swingboden eher daheim fühlte als in einer Arbeiterversammlung. Alle anderen aber waren zur Stelle: Männer von jeder denkbaren Größe, Haar- und Hautfarbe, kaum ein Fettleibiger, doch kräftige neben schlanken, ja schmächtigen Gestalten, alle sauber gekleidet, die Bemäntelten wie die Nichtbemäntelten, jene mit der bunten Krawatte wie die Krawattenlosen, Nichtraucher, Stumpenraucher, einzelne Pfeifenraucher, viele Zigarettenraucher, seit mehr oder weniger langer Zeit in der Stadt ansässige Italiener unter den Einheimischen, auffallend viele fein gezeichnete, übermäßige Empfindlichkeit verratende Gesichter neben derbgescheiten, Männer von verschiedenstem Zuschnitt und Temperament. Und sie waren nicht aus drei, vier Großbetrieben und einem Dutzend Fabriken mittleren Umfangs herbeimarschiert. Nicht einmal die Gesellen ein und desselben Meisters hatten tagsüber, von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, an der gleichen Arbeitsstätte geweilt. Zwei, drei Mann hoch, selten in größeren Gruppen, dagegen recht häufig auch mutterseelenallein waren sie ausgezogen in der Frühe, einzig mit Spachtel, Pinsel, Farbkübel und Bockleiter bewaffnet, an einen Werkplatz, den sie zuweilen schon am anderen Tag, gewiss aber in den seltensten Fällen später als nach einer Woche mit einem neuen zu vertauschen hatten. Und dennoch waren sie in voller Zahl dem Rufe gefolgt, an diesem Abend gemeinsam darüber zu beraten, wie sie sich für ihre bescheidene Wohlfahrt zur Wehr setzen sollten.

Kein Fremder hätte eine besondere Erregung unter den Ankömmlingen feststellen können, doch schien es Esch, als würde lebhafter diskutiert als vor den letzten, ein wenig langweilig verlaufenen Routineversammlungen, die er miterlebt hatte. Am lautesten ging es in den Stehgruppen zu, die sich an den Seitenwänden entlang gebildet hatten. Was war herausgekommen heute früh in den Verhandlungen mit dem Meisterverband? Und welchen Antrag würde der Vorstand stellen? Das war jedermanns Frage, den das Gerücht noch nicht erreicht hatte oder der nicht gewillt war, ein ungeprüftes Gerücht mit erhärteter Wahrheit zu verwechseln. Und dieses Gerücht schillerte ja auch in recht verschiedenen Farben. Wohl behauptete keiner, die Meister hätten kapituliert. Aber sie hätten fünf, vier, nein, nur drei Cent die Stunde offeriert, hieß es da und dort, in jedem Falle einen Dreck, aber genug für die Sekretäre, um den Schafsköpfen von Malern einen oberfaulen Frieden aufzuschwatzen. – «Im Gegenteil», sagten andere, «der Wild, der Sekretär, der ist gar nicht so. Der ganze Vorstand ist für den Streik. Aber an uns wird alles kaputtgehn, wir sind die Scheißkerle, die in die Hosen machen, wenn die Meister nur richtig auf den Tisch klopfen.» – «Unsinn, Gemeinheit!», tönte es wiederum von der anderen Seite. «Dem Wild und den Brüdern, gar manchem vom Vorstand, ist nicht zu trauen. Vor uns sind sie die hohen Sänger, aber es klingt ganz anders, wenn sie mit den Meistern allein zusammenstecken. Unsre Bonzen sind die Letzten, die einen Streik riskieren. Aber wir, wir werden uns nicht länger am Narrenseil herumführen lassen! Wir haben genug vom ewigen Hin- und Herschwatzen! Und wenn sie es gar wagen sollten, uns einen mistigen Kuhhandel vorzuschlagen, dann werden sie ein paar kräftige Ohrfeigen einstecken müssen!»

Alex Müller, der Sektionspräsident, hatte schon ein Weilchen vor dem Rednerpult auf der Bühne oben mit seiner Eröffnungsansprache begonnen, als die letzten in ihre eigene Meinung verliebten Stehgäste den nächsten freien Sessel ereilten. Vollkommen ruhig wurde es erst im Parkett, als das Mikrophon nach anfänglichem Streik schrill pfeifend sein Erwachen verkündete, dann die Stimme des Redners gewaltig dröhnend in die Ohren brechen ließ, um sie alsbald in einem dem Raume besser angemessenen Vollklang weiterfließen zu lassen. Der Vorsitzende war ein fünfzigjähriger Arbeiter, der, wie jeder fühlte, unter weiten Rippen ein ehrlich rothin hämmerndes Herz und hinter einem vierkantigen, biederen Gesicht, wie mancher erkannt hatte, ein hübsches Maß von Schlauheit versteckte. Bevor er den Hauptreferenten, den Sektionssekretär Wild, zu Wort kommen ließ, wies er auf die außerordentliche Tragweite der heute zu fassenden Beschlüsse hin und begrüßte im Besonderen den Landessekretär Schildknecht, der mit Wild und einigen Mitgliedern des Vorstands oben neben dem Rednerpult hinter dem mit grünem Tuch verhängten Tische saß.

Bis zu diesem Augenblick hatte Esch sich in einem Zustand glücklich leichten Fiebers befunden, nicht wegen der Dinge, die hier zur Erwägung standen, nein, einfach, weil er mit dabei war, weil er nach langer Irrfahrt in üppig bedrängender Fremde den Weg zu diesem Heimatflecken zurückgefunden hatte. Doch als Müller seinen Platz mit dem Sekretär vertauschte, ergriff auch ihn die allgemeine Spannung, die der Sache galt. Er wusste, wie wenig die Meister gesonnen waren, ihren Arbeitnehmern Zugeständnisse von irgendwelchem Gewicht zu machen. Trotzdem hatte er noch einige Minuten zuvor nicht im Entferntesten auch nur an die Möglichkeit eines klipp und klaren Streikbeschlusses gedacht. Der alte Steinmeyer, wie die übrigen bedeutenden Malermeister, hatte die gewerkschaftliche Kampfdrohung zu keinem Zeitpunkt für bare Münze genommen. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren hatten die Maler auf dem Platze überhaupt nicht mehr gestreikt, und damals – wie übrigens jedes Mal, wenn sie zur Waffe der Arbeitsniederlegung gegriffen hatten – waren sie am Ende vollständig geschlagen worden. Inzwischen hatten sich die Unternehmer und der maßgebende Teil des Gewerkschaftsapparates in allen Wirtschaftszweigen während langer Perioden wohl abgewogenen Zusammenspiels scheinbar erfolgreich bemüht, den alten Gegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern seiner Schärfe zu berauben. Und ausgerechnet jetzt sollten die guten Malergesellen sich von ein paar roten Hitzköpfen in ein Abenteuer hineinmanövrieren lassen, das nur in eine neue Katastrophe münden konnte? Gewiss versetzte die Hartnäckigkeit, mit der die Gewerkschaft auf ihren Forderungen beharrte, versetzte das unverschämte Auftreten ihrer Agitatoren vom Schlage eines Esslinger Steinmeyer in Zorn. Aber das ganze Streikgerede hatte ihm in keinem Augenblick mehr als ein kräftiges Auflachen zu entlocken vermocht. Und Esch, der seinerseits die Zagheit kannte, die so mancher Kollege, auch wenn er kein Kern war, im persönlichen Gespräch verriet, hatte sich durch diese Haltung des Meisters in seinem eigenen Urteil entscheidend beeinflussen lassen. Doch nun, unerklärterweise, aber nichtsdestoweniger übermächtige Wirklichkeit, türmte sich plötzlich die Frage vor ihm, die große Frage nach Kampf oder Nichtkampf: eine Frage, die so ganz und gar nicht entschieden war, dass sie alles Fieber, das in seinem Blute schäumte, unwiderstehlich bannend an sich sog.

Egon Wild war ein jüngerer Mann mit kurz geschnittenem dunklem Haar, von bräunlicher Hautfarbe, sehniger, eher kleiner Statur und scharf umrissenem schmalem Gesicht. Es gibt schlanke Menschen, die schwächlich, zahm und lahm, wie überzüchtete Windhunde, wenn nicht gar wie todgezeichnete Seuchenkaninchen anmuten. Es gibt andererseits Energie verkündende Schlankheit, die aus der äußersten Verdichtung aller Gewebe entstanden zu sein scheint. Von dieser zweiten Art war die Schlankheit des Sekretärs. Dieser Mensch wusste denn auch gewiss zu jeder Minute seines Tages, was er beharrlich wollte. Von der Höhe der Leiter, auf der er stand, hätte er, den Blick bequem nach unten gerichtet, sich der erfreulichen Betrachtung einer schönen Anzahl von Sprossen hingeben können, die er erklommen hatte. Aber zehnmal zahlreicher waren die Sprossen, die er über sich sah und die er unverwandt im Auge behielt. Von entsprechender Einfachheit waren die Grundsätze, nach denen er zu handeln gewohnt war: alles tun, was geeignet erschien, seinen weiteren Aufstieg zu beschleunigen; alles vermeiden, was sich ihm auf seiner Kletterpartie als gefährliches Hindernis zu erweisen versprach! Niemals wurde er grob, wenn er mit den Meistern verhandelte. Er kargte nicht mit Schmeicheleien und Komplimenten, wenn sich Gelegenheit bot. Er liebte es, nach beendetem Gefecht mit der Gegenpartei bei einem Glase beisammenzusitzen und sich menschlich unterhaltsam zu geben, und er verstand es prächtig, bei solchem Anlass den Herren beizubringen, wie viel schwerer er es hatte als sie selbst mit den maß- und vernunftlosen Elementen unter den Gesellen, wie ganz anders die Meister sich ihrer Haut zu wehren hätten, wenn nicht er, der böse Gewerkschaftssekretär, alle diese Unfriedensstifter im Zaume hielte. Er zweifelte nicht daran, dass der Tag kommen musste, an dem das Kapital, das er hier zunächst ohne Erträgnisse einlegte, reichlich Zinsen abwerfen würde. Darüber vergaß er jedoch keineswegs, dass es nun einmal, und gewiss noch auf lange Zeit hinaus, die Arbeiter waren, die die Leiter stützten, auf der seine Kletterkunst sich bewährte. Er vertrat daher in den Auseinandersetzungen mit den Meistern die Begehren seines Verbandes nicht nur geschickt, sondern meist auch mit gefürchteter Zähigkeit. Und so barsch und beißend er einzelne ungedeckt vorprellende Dränger und Kritiker unter seinen Schutzbefohlenen abzufertigen wusste, so weit hätte er sich auch in gereiztester Stimmung nicht gehen lassen, dass er einer mutmaßlich nicht zu erschütternden Mehrheit der Sektionsmitglieder offen entgegengetreten wäre.

Wild sprach in kurzen, klar geformten Sätzen. Die Verhandlungen, berichtete er, die am Vormittag vor dem Schlichtungsamt stattgefunden hätten, seien gescheitert. Fünfzehn Cent Lohnerhöhung, nicht einmal ein halbes Glas Bier, habe die Gewerkschaft verlangt. Das sei nicht viel, es sei zu wenig! Die Meister hätten erklärt, die Kosten der Lebenshaltung seien seit etlichen Monaten nicht mehr gestiegen. Aber die Stadt sei größer, der Weg zum Arbeitsplatz auch wegen des ständig wachsenden Verkehrs länger geworden. Immer seltener sei es den Malern möglich, daheim anständig und doch billig zu Mittag zu essen. Immer häufiger würden sie auch in die Vororte hinaus auf Arbeit geschickt, die meisten Neubauten entstanden ja an der Peripherie, ohne dass ihnen die Fahrspesen bis zur Stadtgrenze vergütet würden. Die Ferienentschädigung sei immer noch so knapp bemessen, dass sie nicht einmal für eine zweite Ferienwoche reiche. Jedermann wisse auch, dass heutzutage kein Mensch, der nicht seit Jahren in einer verhältnismäßig wohlfeilen Altwohnung hause, eine Unterkunft zu einem einigermaßen vernünftigen Mietpreis finde; woran übrigens die Herren Malermeister mit den hübschen Profiten, die sie einsteckten, und den nahrhaften Spekulationsgeschäften, an denen sie sich beteiligten, bestimmt nicht völlig unschuldig seien. Ja und überhaupt: Habe denn der Arbeiter nur ein Recht auf besseren Lohn, wenn alle Preise in die Höhe rasten? Was ihr eigenes Einkommen betreffe, richteten sich die gestrengen Meister jedenfalls nach einer ganz anderen Theorie. Ein Blick in das amtliche Steuerregister beweise dies eindeutig. Und der Arbeiter missgönne dem Meister ja gewiss nicht seine schöne Villa und seine Limousine noch der Meistersfrau den teuren Persianermantel. Aber dann solle der Meister gefälligst auch begreifen, dass der Arbeiter einen kleinen Teil von dem Reichtum für sich und seine Familie beanspruche, den er da aufzuhäufen redlich sich abschufte. Leider aber zeigten die Herren nicht das geringste Verständnis. Wochenlang hätten sie es abgelehnt, zu einer Verhandlung zu erscheinen. Dann hätten sie ihre Delegierten geschickt, doch mit dem Auftrag, alle Begehren der Gewerkschaft und auch die Vermittlungsvorschläge des Schlichtungsamts schlankweg zurückzuweisen. Sie hätten dann schließlich, leicht beeindruckt durch die wachsende Erbitterung unter den Malern, zu verstehen gegeben, dass sie zu einem gewissen Entgegenkommen bereit wären, und so sei man bekanntlich am Vormittag zu einem letzten Verständigungsversuch zusammengekommen. Aber die Hoffnung auf einen tragbaren Kompromiss, die er selbst, Egon Wild, mehr als ehrlich gehegt habe, sei bitter enttäuscht worden. Fünfzehn Cent habe die Gewerkschaft gefordert; ganze zwei Cent offerierten die Meister, mit der formellen Erklärung, sie würden keinesfalls weiterverhandeln, dies sei ihr äußerstes und letztes Angebot!

Zuvor schon war es im Saale unruhiger geworden. Die Nachricht von der herausfordernden Haltung der Arbeitgeber brachte die Milch zum Überlaufen. Wutgeschrei wogte minutenlang auf und nieder. «Halunken!», rief’s, «Schufte!», «Gauner!», «Banditen!» – «Aufhängen, die Brüder!», forderten Einzelne in der Erregung. Und immer mächtiger setzte sichs schließlich durch: «Streik! Schluss mit dem Parlamentieren! Streik – sofort abstimmen! Ein feiger Hund, wer dagegen ist!»

«Jawohl, es gibt auf dieser Basis kein Verhandeln mehr!», rief Wild mit erhobener Stimme, als der Lärm sich einigermaßen gelegt hatte. «Der Sektionsvorstand stellt euch einstimmig den Antrag, am heutigen Abend grundsätzlich die Arbeitsniederlegung zu beschließen.»

Donnerndes Bravorufen und prasselnde Hände versetzten jedes Trommelfell in betäubende Schwingung.

Vor der Beschlussfassung jedoch, erklärte Wild, habe Diskussion zu walten.

«Diskussion überflüssig!», tönte es von da und dorther im Parkett.

«Keineswegs», erwiderte Wild. Ein Streik sei kein Frühlingsspaziergang auf der Seepromenade. Es wäre sinnlos, hier in der ersten Wut einen hochtrabenden Entscheid zu fällen, wenn nicht jeder es sich genau überlegt hätte, ob er durchzuhalten im Stande sei oder ob er nicht am Ende zu jenen gehörte, die sich heute an den großen Tönen berauschten, aber in vierzehn Tagen, wenn nicht schon morgen früh dem Hosenschlotter erliegen würden. Es sei besser, heute zu überlegen und heute sich auszusprechen. Es sei auch das gute Recht jedes Einzelnen, seiner Ansicht freien Ausdruck zu geben, solange man die Verbandsdemokratie nicht zum Teufel gehen lassen wolle, auf die sich ja gerade die heutigen Diskussionsgegner bei anderen, viel geringfügigeren Anlässen so gerne beriefen. Und auf alle Fälle sei der Vertreter des Landessekretariats, Kollege Schildknecht, anzuhören, der hier eine bedeutsame Meinung geltend zu machen habe.

Es war merkwürdig: Gegen den Standpunkt, den Wild vertreten hatte, ließ sich nichts einwenden, und dennoch fiel’s Alf unbehaglich an. Die Zwischenrufer konnten ja unmöglich im Ernst beabsichtigt haben, eine freie Aussprache zu verhindern, warum war ihnen der Sekretär mit solchem Aufwand entgegengetreten? Und warum legte sich plötzlich diese kalt begossene, von nervösem Flüstern und nutzlosem Hüsteln lästig durchritzte Stille über den Saal, als wäre alles erschrocken über die Unbesonnenheit, mit der man soeben noch auf ein mörderisches Minenfeld vorzustoßen bereit gewesen? Esch mochte sich täuschen, jedenfalls kam ihm die ganze Partie wiederum so offen vor, wie er sie vor der Rede Wilds gesehen hatte.

Der Präsident erteilte nunmehr dem Landessekretär das Wort, ohne sich persönlich zur Sache zu äußern. Schildknecht war ein hagerer, grauhaariger Mann, der in der rau-vertrauten Tonfarbe eines wetterharten Bauarbeiters die geschliffensten Sätze hinauszuschmettern wusste. Auch er empörte sich vorerst über die Halsstarrigkeit der Arbeitgeber; er beglückwünschte die Maler und ganz besonders auch den Sektionsvorstand und den Kollegen Wild zu ihrer festen Haltung und versicherte unter großem Beifall die Sektion der vollen Unterstützung durch den Landesverband. Dann aber begann er, die Gefahren eines Streiks, «wenn er wirklich nicht zu vermeiden sein sollte», in schreckhaften Farben vor seinem Publikum aufsteigen zu lassen. Er bestritt nicht, dass der Streik ein unumgängliches Übel war, wenn die Meister auf ihrem bedauerlichen Standpunkt beharrten. Aber ein allerletzter Versuch sollte seines Erachtens unternommen werden, das Äußerste abzuwenden und zu einem vernünftigen Kompromiss zu gelangen. Er empfahl daher, wie ja auch Kollege Wild sich ausgedrückt hatte, zunächst wohl den Streik «grundsätzlich» zu beschließen, den Streikbeginn jedoch auf acht Tage später anzusetzen und einen letzten Appell an die Gegenseite zu richten, eine Minute vor zwölf die Hand zur Versöhnung zu reichen.

Als Schildknecht sich setzte, klatschten mit Sekretär Wild nur die Unentwegten, die sich um der hohen Funktion des Gastes willen zuzustimmen verpflichtet fühlten. Betretenheit war in den meisten Gesichtern zu lesen. Vielleicht hatte der Redner recht, vielleicht stand man im Begriff, sich sinnlos heldenmütig auf eine Fahrt voller Schrecken zu begeben, vielleicht war man der Dumme, der an diesem Abend schon neben irgendeinem künftigen Streikbrecher und Verräter saß! Vielleicht aber führte der Landesgewaltige die Arbeiter tatsächlich an der Nase herum, wie die Ganzroten immer wieder behaupteten, vielleicht waren diese acht Tage Frist, so vernünftig der Vorschlag an sich klingen mochte, nichts als eine listig gestellte Falle, als ein Weg, Zeit zu gewinnen, die ganze Bewegung abschwingen zu lassen und schließlich mit Hilfe eines schäbigen Almosens zu liquidieren! Was sollte man glauben? Und welche Stellung sollte man beziehen? Es gab gewiss auch eine ansehnliche Minderheit, für die die Antwort nicht zweifelhaft war; dafür sprach das bei aller Verhaltenheit bedrohliche Murren, das von den verschiedensten Ecken her den Saal durchgrollte.

In diesem Augenblick hielt es der Präsident für angezeigt, das Gewicht seines eigenen Wortes in die Waagschale zu werfen. Er danke dem Kollegen Schildknecht für seine Interaktion. Er danke insbesondere für die Zusicherung der Hilfe des Landesverbandes, an der er, Müller, übrigens nie gezweifelt habe. Und er anerkenne, dass Schildknecht erwägenswerte Gründe für seinen Antrag ins Feld geführt habe. Doch als Präsident habe der Sprechende festzustellen, dass der Sektionsvorstand – «Kollege Wild hat dies in seinem Bericht nicht ganz deutlich erklärt» – nach reiflicher Würdigung aller Umstände mit überwältigendem Mehr sich für den Streikbeschluss mit sofortiger Wirkung ausgesprochen habe. Die Verhandlungen hätten mit aller Klarheit erwiesen, dass die Maler von den Meistern einfach nicht ernst genommen würden, solange sie sich mit Drohungen begnügten. Der Vorstand sei der festen Überzeugung, dass sich mit weiterem Zuwarten nicht das Geringste erreichen ließe. Die Stunde sei gekommen – «Heute und nicht erst in einer Woche!» –, da die Maler zu beweisen hätten, dass sie zu handeln, allen Widerwärtigkeiten trotzend zu kämpfen verstanden!

Mit dieser Erklärung, die kräftigen Beifall auslöste, hatte Müller die Versammlung bereits spürbar aus der Stimmungskrise herausgerissen, in die sie durch die Ansprache Schildknechts versetzt worden war. Der Vorsitzende zögerte indessen nicht, weiteres Öl in die wieder angefachte Flamme zu gießen.

Wie sinnlos es sei, fuhr er fort, von den Meistern im gegenwärtigen Stadium irgendein Einsehen zu erwarten. Bis zu welchem Ausmaß ihre Geringschätzung des Arbeiters sich bereits verstiegen habe, das zeige ein Zwischenfall – nein, ein provozierender Skandal, der sich tags zuvor ereignet hatte. Auf einer Arbeitsstelle der Firma Steinmeyer habe Kollege Franz Esslinger sich erlaubt, im Hinblick auf den drohenden Streikausbruch einem Nichtorganisierten den Beitritt zur Gewerkschaft nahezulegen. Ergebnis: Steinmeyer, der von einem traurigen Denunzianten Bericht erhalten habe, habe sich nicht geschämt, Esslinger, einen Familienvater mit drei Kindern, der dreizehn Jahre lang für die Firma gearbeitet habe, am selben Tage auf die Straße zu stellen! So sähen die Tonangebenden unter den Meistern aus! Und da solle es noch einen Zweck haben, Gewehr bei Fuß auf Besserung zu warten?!

Nicht nur Esch, der völlig überrascht war, die ihm an sich ja bekannte Geschichte hier neu zu vernehmen, zuckte es im Nacken, als sei ein Blitz in nächster Nähe niedergezischt. Den ganzen Saal erfasste ein Taumel der Empörung, der sich in wildem Pfeifen und Pfuirufen entlud. Nein, diesmal war kein neuer Rückschlag zu erwarten! Der Verschleppungsversuch der Landeszentrale war erledigt. Keinesfalls brachte ein Wild den Mut auf, sich dieser Sturmflut entgegenzustellen. Und es war kein anderer als Alfs Schwiegervater, der dem Präsidenten, und mit diesem allen zielbewussten Kollegen in der Sektion, die entscheidende Waffe in die Hand gedrückt hatte!

Mit bebenden Nerven lauschte Esch der nachfolgenden Diskussion. Ein einziger, dürftig beklatschter Redner unterstützte, bestimmt aus ehrlicher Überzeugung, den Antrag des Landessekretärs. Alle anderen riefen auf zur Wehr, zum sofortigen, rücksichtslosen Handeln gegen die Provokateure. Nicht Hungernde sprachen da, die aus letzter Verzweiflung rebellieren. Männer waren es, im Bewusstsein ihres guten Rechts verletzt, in ihrer Würde schimpflich beleidigt, keinen Augenblick bereit, Fußtritte mit demütigen Bücklingen zu quittieren, nein, nach langen Wochen geduldiger Besinnung endgültig entschlossen, gezielt und mit aller Wucht zurückzuschlagen. Da galt die Sprache, die Esch gar lange nicht gesprochen, obwohl sie auch seine Muttersprache war: die Sprache des Kampfes und der Solidarität, ohne die kein Weg zum besseren Frieden führte. An alle erging der Ruf, zusammenzuhalten, an Alf in besonders zaubermächtigen Akkorden. Umfloss ihn nicht tausendfältiger Widerhall einer Melodie, die in ihm selbst zuvor erklungen war? Er war im Grunde genommen hungernd nach der Hilfe der Brüder in dem schweren Streit, in den er sich persönlich verkettet hatte. Nun ward ihm Hilfe in dem Aufgebot, sich hilfreich zu bewähren. In den einen Feuerstrom des Kriegs der vielen Hundert hatte der Fluss seiner eigenen Fehde sich ergossen. Und er fühlte Bereitschaft, sich in den ersten Reihen zu schlagen, befreit-befreiend alles einzusetzen, was ihm an Kräften zu Gebote stand.

War es, allen Bescheidenheitsvorsätzen zum Trotz, nicht ein wenig der Rechtfertigungsübereifer des reuigen Sünders, der ihn plötzlich veranlasste, seinerseits das Wort zu verlangen? Oder war es der dunkle Drang des Schwachen, seiner selbst nicht Gewissen, die letzten Brücken hinter sich zu sprengen? Er war nie ein großer Redner gewesen, er hatte vielleicht auch nie vor so vielen Menschen gesprochen, und sein Unterkiefer zitterte schrecklich, als er mit marionettensteifen Gliedern nach vorne eilte. Doch wurde er ruhiger, als er oben stand, vor sich das leicht abgeschrägte, von einem Lämpchen traulich warm beleuchtete Pult, in der Höhe des Mundes das Kraft verheißende Mikrophon und unten – ein Bild, gutartig wie der Anblick eines Kohlfelds für den Gutgesinnten – die gereihten Köpfe der Kameraden. Nur eines störte ihn, ließ ihn ein paar Sekunden zu lange in Stummheit verharren. Es war, zunächst, der Anblick der Galerie, die menschenleer, kaum erhellt, ein wenig erkältend über dem heißen Saale schwebte. Es war, im Besonderen, der Anblick eines menschlichen Wesens – war’s ein Gespenst? –, das einsam oben ganz zuhinterst in der Ecke zur Rechten saß, nicht auf einem Sessel, sondern auf einer der niedrigen langen Stufen, die zwischen den Stuhlreihen der mittleren und der Seitengalerie schräg zur Brüstung herunterfielen. Was hatte einer ganz allein auf dem Balkon zu suchen, der für alle übrigen Versammlungsteilnehmer geschlossen war? Einer zudem, der trotz dieses vernebelnden Dämmerlichts – an wen auch nur? – an einen Widerwärtigen jedenfalls erinnerte? Doch Esch besaß die Muße nicht, sich mit des Rätsels Ergründung zu befassen. Mit klarer, wenn auch nicht sehr kräftiger Stimme fing er zu sagen an, was er zu sagen für wichtig hielt. Er wolle nicht wiederholen, begann er, was andere vor ihm ausgeführt hätten. Er begnüge sich einfach mit der Erklärung, dass er für den Streik stimmen werde und gegen jede Verschiebung. Er wolle nur ein paar Bemerkungen anbringen zur Maßregelung seines Betriebskollegen Franz Esslinger. Was sich der Meister geleistet habe, sei eine Herausforderung nicht nur des gemaßregelten Kollegen gewesen, sondern auch jedes anderen Gewerkschafters, der etwas auf seine Ehre und auf jene des Verbandes gab. Diese Herausforderung verpflichte jeden Einzelnen doppelt zum opferbereiten Einsatz, zum verheißenden Durchhalten in den bevorstehenden Kampfwochen. Sie verpflichte aber auch, so scheine es ihm, zu besonderer Solidarität mit dem Gemaßregelten. Er stelle daher den Antrag, dass sich die Sektion verpflichten solle, einer Wiederaufnahme der Arbeit erst zuzustimmen, wenn die Kündigung gegenüber dem Kollegen Esslinger in aller Form zurückgezogen sei.

Der betäubende Beifall, unter dem Alf die Bühne verließ, zeugte eindrücklich für die Zustimmung, die sein Vorschlag gefunden hatte. Seltsamerweise tummelten sich Schattengebilde vor seinen Augen, während er seine Aufmerksamkeit den letzten Rednern zu schenken sich mühte. So vieles hatte sich seit gestern gewandelt! Hatte er bedacht, wie dies alles weiterrollen sollte? Hatte er nicht allzu sorglos sich der Begeisterung hingegeben, in die ihn die ersten Schritte auf dem taumelnd betretenen Pfad der Freiheit versetzt hatten? Lagen nicht tückische Fallen vor ihm, brückenlose Schluchten, sperrende Felsmauern, todbeladene Lawinenhänge? Er durfte nicht vergessen, all diese Punkte zu überdenken, ehe er schuldhaft ungewappnet ins Verhängnis lief!

Die Feststellung des Präsidenten, die Diskussion sei erschöpft, Sekretär Wild verzichte auf ein Schlusswort, und man schreite daher unmittelbar zur Abstimmung, spülte jedoch den ganzen leidigen Sorgenanflug weit von hinnen. Die Abstimmung erfolgte geheim. Eine Pause von zehn Minuten verstrich, in denen gedämpftes Murmeln floss, während die Stimmenzähler vorn am Tisch auf der Bühne das Ergebnis ermittelten. Es war ein feierlicher Augenblick, als Müller dem reglosen, tonlosen Saale den Entscheid verkündete: Gegen den Streik überhaupt war keine einzige Stimme abgegeben worden. Bei zwölf Enthaltungen hatten immerhin ihrer siebenundachtzig dem Verschiebungsvorschlag des Landessekretärs zugestimmt. Die große Mehrheit jedoch, fünfhundertdreiundzwanzig Stimmende, hatten sich für den Antrag des Vorstands, für die unverzügliche Niederlegung der Arbeit ausgesprochen. Der Ergänzungsantrag des Kollegen Esch war mit allen gegen sieben Stimmen gutgeheißen worden.

Schier endlos und ohne sichtbare Ausnahme rasten die sechshundert Männer. Sie feierten den Kampf. Sie feierten den arbeitenden Menschen, der immer wieder, nach Jahren und Jahrzehnten erduldeter Herrschaft, gegen große und kleine Tyrannen zu seiner bewährtesten Waffe greift. Sie feierten, wissend die einen, ahnend die anderen, den herrenlosen Menschen des verheißenen Zeitalters, der da königlich zu herrschen berufen ist über alle Schönheit dieser Erde …

«Brüder, zur Sonne», stimmten sie hinten an. Und alle erhoben sich, und viele sangen das Lied, ein wenig schleppend wohl, und dennoch erhebend und befeuernd.

Nach der Wahl einer elfköpfigen Streikleitung und der Aufforderung an die Vertrauensleute, sich anschließend zur Besprechung der dringlichsten organisatorischen Maßnahmen nach dem kleinen Saale zu begeben, schloss der Präsident die Versammlung mit einem letzten Appell, in diesen entscheidenden Tagen einmütig wie nie zuvor bis zum siegreichen Ende zusammenzustehen.

Unter der Tür, die in den Vorraum hinausführte, drückte Franz Esslinger Alf die Hand. «Ich hätte dir das nicht zugetraut», gestand er. «Meines Erachtens gingst du sogar ein wenig zu weit. Aber dass du zu uns hältst, das ist die Hauptsache!» In der Mitte der Vorhalle verabschiedete er sich, da man ihn rechts drüben im kleinen Saal erwartete.

Im selben Augenblick spürte Esch, wie ihn jemand betrachtete. An einen Garderobenpfeiler in der Nähe des Ausgangs stand einer gelehnt, den Blick schief und stechend auf Alf gerichtet. Und den Gemusterten durchfuhr’s: Das war ja der Bursche, den er vorhin oben auf dem Balkon erspäht hatte! Und der Kerl war kein anderer als der fatale Kern, der nun zum dritten Mal am selben Abend – und diesmal war der Glaube an den bloßen Zufall erschüttert – Alfred Eschs Pfade kreuzte.

Am Stammtisch der Rebellen

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