Читать книгу Am Stammtisch der Rebellen - Harry Gmür - Страница 17
VI.
ОглавлениеAuch als Sepp, als strahlender Sieger wiederum, seine artistische Einlage beendet hatte, blieb in der kleinen Welt des Schwarzen Lamms die Freiheit lärmig triumphierend an der Macht. Alles verharrte und bestellte, für Reto Venetz ließ dessen neuer Freund auf Lebenszeit ungehindert ein letztes Gläschen auftragen, und dem Melonenmann, der hartnäckig leer saß, offerierte zum allgemeinen Erstaunen der fistelnde Alte mit den Ohrringen und der goldenen Kuh die entbehrte Erlabung.
Inzwischen war die Frau des Gastwirts auf die Bank gestiegen. «Setzt euch, setzt euch alle!», schrie sie in hysterischer Erregung. Tatsächlich: Reto und der Tenor wanderten in der Stube umher, zuweilen Arm in Arm, zuweilen von Retos Freund, der ihnen eifersüchtig folgte, mit rohem Griff auseinandergerissen, immer wieder ein paar Takte um die Wette singend; doch versuchte keiner mehr, ein Lied von Anfang bis zu Ende vorzutragen.
Niemand kümmerte sich indessen um den Befehl der Wirtin. Im Gegenteil: Von drüben wanderte Rita heran. «Doris, gut, dass du da bist!», begrüßte sie das Mädchen mit schleppender Zunge. «Du bist in Ordnung, und ich bin in Ordnung, und mein Fix ist in Ordnung, und dein Alf ist in Ordnung, und alle, alle hier sind in bester Ordnung. Charly, weißt du, ist ein Schweinehund. Aber er ist nicht hier, Gott sei Dank; alle Schweinehunde sind draußen geblieben!»
«Bravo, das ist ein Wort: Alle Schweinehunde sind draußen geblieben!» Also rief Hermann Sturzenegger, der Dichter, und auch er befand sich nicht mehr unter den Wohlanständigen, die auf ihren Stühlen saßen. «Nennt mir einen Ort, einen einzigen in dieser Stadt, wo sie sagen dürfen: Alle Schweinehunde sind draußen geblieben!», fuhr er bedeutsam fort.
«Unsre Bude jedenfalls nicht!», sprach’s ungeheuerlicherweise, nicht laut, doch vernehmlich, am Tisch der ausgelassenen Versicherungsherren.
«Und die Semiramis gewiss nicht!», lästerte Weiner mit höchster Genugtuung.
«Aber das Münster!», ertönte es hierauf heiser aus der Mitte. Der Boshafte war kein anderer als das Melonenmännchen. Es lachte als Erster aus vollem Halse – es klang wie das Piepsen eines aufgeregten Sperlings –, und es riss alle mit bis auf Sturzenegger, der sich lediglich zu einem flüchtigen, verständnisvoll beifälligen Lächeln erweichen ließ.
«Nicht einmal das Pfarrhaus!», erklärte er schließlich mit Bitterkeit. «Aber hier, hier hat eine von uns das große Wort zu sagen gewagt. Und wir wissen, sie hatte ein Recht, dieses Wort zu sagen! Aber auch ich, ich habe euch etwas zu sagen. Ich werde nun, wenn ihr’s gestattet, zu euch – und nur zu euch! – einige Verse sprechen, wie ihr sie nie gehört habt und wie sie kein Lebender drucken wird in diesem Lande. Aber ihr werdet sie singen, und sie werden von Tausenden gesungen werden!»
Dunkel begann er:
«Grauer Schutt
Grauer Himmel
Graue Gasse –»
Doch brach der Dichter an dieser Stelle seinen Vortrag ab, da er bemerkte, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit wiederum einem neuen Redner zugewandt hatte. Mittlerweile war nämlich neben der Wirtin der ruhige Herr in blauem Kammgarn auf die Bank geklettert und hatte den Arm um die Betrunkene gelegt. «Frau Wirtin», rief er, «bei Ihnen möcht ich arbeiten, sag deinem Mann, er soll mich einstellen! Die Alte, für die ich schufte, ist ein Aas! Achtzehn Jahre hab ich für ihren Alten die ganze Buchhaltung und alle Korrespondenz besorgt. Im Dezember ist er gestorben, und ich denk mir, mich, der ich die ganze Bude kenne, in- und auswendig, mich wird sie zum Geschäftsführer machen. Und da kommt so ein grüner Laffe und tut ihr schön, und der schimpft sich eines Morgens Herr Direktor, und für mich – nicht einmal eine Gehaltserhöhung!»
«Lass mich in Ruh’ mit deinem Scheißdreck!», wehrte die Frau ab.
In diesem Augenblick stieg zur allgemeinen Verwunderung auch die Kerzengestalt August Drehers neben Sepps Gemahlin in die Höhe. «Recht hat er, zehnmal recht!», schrie er ihr ins Ohr, während er liebevoll ihren freien linken Arm umschlang. «Lass ihn bei dir arbeiten, deinen Freund! Lass uns alle bei dir arbeiten, mich und alle meine Kollegen! Seit dreißig Jahren schuft ich nun redlich für unsern Versicherungsstall, und nicht einmal die Prokura haben sie mir gegönnt! Dabei sind wir verpflichtet zu einer standesgemäßen Lebensführung, moderne Wohnung, teure Schale und so weiter, und die drei Knöpfe kosten auch eine schöne Stange. Im Grunde beneiden wir jeden Arbeiter, der kann sich wenigstens zur Wehr setzen für seine Interessen mit seiner Gewerkschaft. Nieder mit dem Direktor! Nieder mit den Direktoren! Ein Hoch auf die Wirtin vom Schwarzen Lamm!»
«Die Alte ist ein Aas, aber du bist eine Wunderfrau», fuhr der Blaue unbeirrt weiter. Dann küsste er die Betrunkene tapfer auf Ohr und Wange, während Dreher ihren klebrigen Handrücken an seine Lippen führte, und sie kreischte auf, indem sie eitel lächelnd die Augen schloss.
Nochmals versuchte Hermann Sturzenegger, sich Gehör zu verschaffen:
«Grauer Schutt
Grauer Himmel
Graue Gasse.
Ach, blau war das Meer
In endloser Bläue spielten die Winde
Blau schimmerte dein Haar
Und röter als die Glut, die schattensengende, deiner
Zigarette
Brannte das Rot auf deinen Lippen, Leonora!»
Doch auch diesmal war ihm das Glück nicht lange gewogen. Erregende Sambarhythmen schlugen jedes Gehör in ihren Bann. Und wie von einem federnden Mechanismus abgeschnellt, fuhr auf einmal Lora empor, grün, gelb und golden, tanzte in kunstvollen kleinen Schritten um die lange Tafel herum, die schlanken Arme anmutig über den schönen Kopf erhoben, die schmalen und doch so sanft gerundeten Hüften in unablässig verführt-verführender Bewegung, der kleinste Muskel ein mit allen Fasern wirkendes Werkzeug der tönenden Gottheit, die unbändigen Lebensdurst in die bändigende Form zeitlich-räumlichen Maßes zu gießen befahl. Als das bewegliche Wunder mitten auf den langen Tisch sprang, schrie alles auf an der Tafelrunde. Mit der scheinbaren Lässigkeit eines Seiltänzers trippelten zunächst die karminrot beschuhten Füße das mit Gläsern und Gläschen belegte Podium auf und ab, bis die alten Leutchen begriffen hatten, dass es sicherer war, wenigstens das eigene Getränk in Sicherheit zu bringen. Dann steigerte sich das Tempo; der Bauch schlug in immer heftigerem Pendelschlag vorwärts und rückwärts, unter dem vornübergeneigten Oberkörper rannten die länglich wohlgeformten Beine stampfend an Ort, und weite Sprünge gab es nach rechts und links auf dem schmalen Kampfboden, ohne dass Lora auch nur einmal wieder ihrer rhythmischen Verfallenheit entronnen wäre.
Plötzlich aber – Alf traute seinen Augen nicht – tanzte neben Lora eine zweite, kleinere Erscheinung, ein Wesen in Doris’ feinwollenem rotem Kleid mit den hellgrauen Knöpfen! Tanzte furchtlos, kindlich ausgelassen, ein besessenes Lächeln im Gesicht, Besessenheit in den wirbelnden Bewegungen des ganzen Körpers, von Trachten nach Gestaltung keine Spur, gepeitscht von irrer Begierde, des eigenen Leibes spärliche Kraft in ekstatischem Opfer zu verzehren, und dennoch weiblich verzaubernd und betörend, Priesterin des Rausches.
Und der Zauber griff um sich. Längst waren die ihres Tisches beraubten Alten aufgesprungen, hatten ihre Stühle weit zurückgeschoben. Und auf einmal hielten sich alle bei Armen und Händen gefasst, setzten sich, ein ganzer geschlossener Kreis – der gute Weiner mitgefangen, mitgehangen –, trippelnd, hüpfend, humpelnd um den Tisch herum in Gang. Und immer wieder traten aus den hinteren Reihen: Rita und Fix, Reto Venetz und der nie geliebte Geschäftsmann, der enttäuschte Buchhalter und die Wirtin, Dreher und der Chor der Versicherungsgefangenen, der greise Verseschmied, Esmeralda mit Sturzenegger, aber auch Direktor Maurer mit dem grundlos strengen Blick, der Barpianist Dubs, Singapore-Olga mit dem Zwölfhundertkronen-Liebhaber, die Kellnerin Marie mit ihrer rundlicheren Kollegin, und zuletzt auch Sepp, der Herr des Hauses, Arm in Arm mit Vetter Dodo und mit der freien Rechten ausgerechnet Reto umfassend. Um den großen Reigen herum rannte der Bastard, sinnlos kläffend. Und auf dem Altare tanzte neben dem Partner fort und fort das Mädchen, heiliger Erschöpfung nah. Es war die Stunde, da der Geist die Gläubigen befiel, die geweihte Stunde taumelnder Erlösung. Es war das große Fest der Geduldigen, allzu Geduldigen, die, getauft mit Feuerwasser, ihre Seele in die Gemeinschaft der Brüder und Schwestern verströmten, in der ihnen Auferstehung ohne Schwere ward.
Alf war’s, als flimmerte die Luft, wie sie im Sommer zuweilen flimmert auf versengter Alp in der Mittagsglut. Ihm bangte um die selbstvergessene Doris, ihm bangte um die eigenen Sinne. Neben ihm stand plötzlich Leo Graf, der groß gewachsene Freund in seiner unvermeidlichen braunen Wildlederjacke. «In einem Irrenhaus geht’s nicht so zu», meinte er lachend. «Ich frage mich, wie einem dieser Wahnsinn vorkommen würde, wenn man selbst nur Kaffee getrunken hätte.»
Alf sah zu ihm auf. «Du redest kühl, als gehörtest du nicht zu uns», sprach er langsam, und er spürte die Schwere seiner Zunge. «Du bist gesund und stark, du sitzt hier gleichsam als Zuschauer – man sollte ein Eintrittsgeld von dir verlangen. Wir andern, wir sind die Schwächlinge, die Geschlagenen und die Feigen. Doch ein Wunder ward hier Ereignis, das du nicht erfasst: Hundert und hundert kranken Wurzeln entspross ein herrlich grünender Baum! Der wunde Schoß vielfältiger Verzagtheit gebar die Brüderschaft vom Schwarzen Lamm, die mächtig ist und ohne Furcht und unbesiegbar! Freilich, ich weiß es, die Brüderschaft, sie lebt geheim, sie atmet nur hier in dieser feuchten Katakombe. Wenn einer von uns durch jene Tür ins Freie tritt, gleich ist er wieder der alte hoffnungslose Waschlappen. Ja, das ist das Elend, Leo, das fressende, das leise in mir weiterfrisst, auch hier und jetzt, da alle vergessen haben … Leo, diese morschen Holzwände, sie müssten in Flammen aufgehn, wenn wir feiern! Der Geist der Brüderschaft, zu solcher Stunde der Übermacht müsste er ungehemmt ins Freie strömen, müsste wie ein Gewitter sich peitschend, sengend und läuternd ergießen über die Stadt! Es ist das Geheimnis unserer Ohnmacht, dass jeder von uns allein von dannen schleicht – einer nach dem andern. Geschlossen hinausmarschieren müssten wir alle! Drüben auf dem Großen Platz müssten wir feiern, feiern unser Fest, das Fest der Brüderschaft vom Schwarzen Lamm – und Tausende würden sich um uns versammeln und Menschen sein!»
Alf bemerkte plötzlich, dass viele ihn lauschend umstanden, dass der Samba, der zuletzt erklungen, verklungen und der Reigen der Erlösten zu Ende war. Doris stand vor ihm. «Alf, Lieber, was spinnst denn du eigentlich alles zusammen?», fragte sie heiter entsetzt. Dann warf sie sich ihm entkräftet an den Hals, und er erwachte vollends ob des wilden Pochens ihres Herzens.
Er hob den leichten Körper in die Höhe, ließ die glücklich Lachende wie ein kleines Kind auf seinem Arm sitzen.
«Ein Bravo für unsre Königin!», rief’s aus irgendeiner Ecke.
Mit minutenlangem, betäubendem Gebrüll huldigte das Volk Doris und gewiss auch dem ekstatisch mitbrüllenden Tänzer.
«Es lebe die Brüderschaft vom Schwarzen Lamm!», ertönte plötzlich eine kraftvoll raue Stimme.
Alle, die ihr Glas noch zu finden oder irgendein fremdes zu ergreifen vermochten, stießen an, dass es nur so klirrte.
«Mir ist geradezu schwindlig», gestand Alf dem Mädchen.
«Komm, Lieber», sagte sie, «es ist genug für heute. Komm, wir gehn.»