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IV.

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Alf führte Doris um die lange Tafel herum, da kein einziger freier Stuhl zu erblicken war. Auch von den drei Rundtischen an der Wand zur Linken der Wirtschaftstür waren zwei besetzt. Gleich neben dem Eingang zechten mit dem Verteidiger des betrunkenen Langen ein paar Arbeiter mittleren bis hohen Alters. Vorn neben der Theke speisten zwei Herren in Gesellschaft eines gepflegten blonden Mädchens, der eine in blaues Kammgarn gekleidet und mit stark gelichtetem Haar, der andere, der etwas jünger sein mochte, mit luftigen, ungescheitelt nach hinten laufenden blonden Haarwellen und in graues Kammgarn gekleidet, beide mit schmucken weißen Pochettchen herausgeputzt. Neben ihnen hockte teilnahmslos, mit halb schläfrig, halb misstrauisch zugekniffenen Augen und abgestanden käsefarbiger Gesichtshaut eine jüngere Frau, die Wirtin; sie hatte zweifellos den Kampf gegen ihren Durst wieder einmal mit aller Gründlichkeit geführt. Der mittlere Tisch war jedoch eben frei geworden, und Alfred beeilte sich, ihn mit seiner Freundin in Beschlag zu nehmen.

Bei der schlanken, trotz ihrer abfallenden Schultern recht hübschen Kellnerin, die wie ihre rundlichere Kollegin eine bemerkenswert weiße Bluse trug, bestellten die beiden je einen Teller Gulaschsuppe und einen halben Liter Burgunderwein.

«Trink einen guten Burgunder,

dann wirst du g’sund und wirst noch g’sunder»,

rezitierte am Arbeitertisch, strahlend vor Dichterstolz, ein kleiner Graukopf von schmalen, fein gemeißelten Zügen, der selbst vor einem Gläschen Rotwein saß. Er blickte viel munterer als sein schneeweißer, rosahäutiger Nachbar, der sich mit einer Tasse Kaffee begnügte und durch seine weit unten auf der Nase sitzende, in Draht gefasste Brille unbeweglich auf die Zeitung starrte, die er trotz der Augengläser in weitem Abstand vor sich hielt.

Während Alf und Doris auf das Bestellte warteten, verfolgten sie belustigt das Treiben des Wirts, der persönlich hinter dem Buffet an der Feuerstelle stand. Mit kurzem, dickem Arm und langer Kralle rührte er erregend schnell in der qualmenden, fettknisternden Bratpfanne herum. Den Ausschank dagegen besorgte ein spindeldürrer Bursche, an dem alles körperlich Sichtbare von auffallender Länge war: die Arme, der mit einem mächtigen Adamsapfel ausgestattete Hals, auf dem der Kopf wie der einer Schlange hin- und herwackelte, die seltsam zugespitzten abstehenden Ohren und die schief aus dem Gesicht ragende Vogelnase. Es war Dodo, ein entfernter Verwandter des Wirts, ein gescheiter, nachdenklicher Mensch von begrenztem Sprachvermögen, den die einen für taubstumm erklärten, während andere wissen wollten, er höre ausgezeichnet, leide aber an den Folgen einer Gehirnverletzung durch die Zange, mit deren Hilfe man ihn zur Welt gebracht, während wieder andere eindeutig behaupteten, das Ganze sei nichts anderes als eine Folge der schrankenlosen Trunksucht.

Dodo hatte eben nach einem kleinen Schaltbrett an der Wand gegriffen und damit einen riesigen vierarmigen Propeller in Bewegung gesetzt, der wie ein Leuchter in der Mitte der Stube an der Decke hing. Er vermehrte nicht die bescheidene Menge verfügbaren Sauerstoffs, da es an jeder Luftzufuhr von außen offensichtlich fehlte, wirbelte aber die stickige und erhitzte Luft fleißig durcheinander, womit sich jedermann zufriedenzugeben schien.

Das scharf gepfefferte Gericht und der kräftige Rebensaft sorgten erst recht für warmes Blut. Zwischendurch unterhielt der Graukopf am Nebentisch die neuen Gäste. «Prosit! Geht nichts über einen guten Tropfen!», rief er ihnen zu. «Der Großvater hier», er deutete mit listig blickenden Äuglein auf den schneeweißen Zeitungsleser, «der erträgt nichts Rechtes mehr. Und dabei ist er erst fünfundsechzig. Und ich bin einundachtzig – einundachtzig, sag ich, obwohl mir’s keiner glauben will, aber ich kann’s euch zeigen auf meinem Ausweis –, und jeden Tag trink ich meinen Schoppen!»

Und wiederum befiel ihn plötzlich poetischer Drang. «Noch einen Becher!», hatte ein Tischgefährte bei der Kellnerin bestellt. Gleich kommentierte der Alte:

«Noch einen Becher, Marie,

sagt der Johann zwölfmal oder nie!»

Sie hatten bereits den zweiten halben Liter vor sich stehen, als Esmeralda aufrecht, doch nicht eben sicheren Schrittes, um die lange Tafel herum auf die beiden zukam. «Entschuldigen Sie, ich möchte Ihnen etwas sagen», begann sie, sich mit der linken Hand auf den Tisch stützend, während sie mit der Rechten zitternd ihre Zigarette vor sich hielt. «Leo hat mich Ihnen als Serviertochter vorgestellt. Sie müssen nicht meinen, ich hätte etwas gegen diesen Beruf. Aber Sie müssen doch wissen: Ich habe drei Semester lang Philosophie studiert, reine Philosophie, jawohl; und ich werde mein Studium beenden, sobald ich’s irgendwie richten kann. Sie müssen wissen, mein Vater war ein wohlhabender Mann, sie nannten ihn den ungekrönten Dorfkönig von Kirns, im Kirnsertal, aber er starb zu früh, und ich war das jüngste von dreizehn Kindern, da blieb für mich, bis ich erwachsen war, eben nichts übrig. Aber es wird schon anders werden, ich verdiene gut, und wenn mein Hermann einen Verleger findet für seinen Gedichtband, dann hab ich bald etwas für mich auf der Seite …»

Sie achtete nicht auf Alfreds höfliche Aufforderung, sie möge doch Platz nehmen, sondern setzte ihren Gang fort, nach der Tür zur Linken der Theke, hinter der sich der Hausflur und die Toiletten befanden.

Keine drei Minuten waren verstrichen, als auch Direktor Maurer, vielleicht ermutigt durch Esmeraldas Beispiel, auf die beiden jüngeren Gäste zuschritt. Im Gegensatz zu der Frau setzte er sich jedoch alsbald unaufgefordert neben Alf, näherte seinen Mund dessen Ohr und sprach mit gedämpfter, selbst für Doris schwer vernehmbarer Stimme: «Entschuldigen Sie einen Augenblick, Herr Esch. Ihre Bemerkung vorhin … Ich möchte nicht, dass Sie mich für feige halten. Aber Sie müssen verstehen … es gibt Situationen, in denen man sich nicht immer geben kann, wie man es möchte. Sie wissen, ich arbeite in einer amerikanischen Firma. Amerika, das sind heute die McCarthy’s und Konsorten. Wenn diese Leute anfangen, in meiner Vergangenheit zu wühlen – Sie erinnern sich ja wohl, wir steuerten damals in der Arbeiterjugend einen handfesten Linkskurs –, dann bin ich geliefert, trotz all meiner Verdienste. Sie finden das vielleicht nicht eben schön, aber ich kann mir keine Unvorsichtigkeiten leisten.»

Alf versicherte den Mann seines vollen Verständnisses und versprach ihm Schweigen; hatte seine eigene Lage mit jener Maurers nicht eine entfernte Ähnlichkeit? Der Direktor verabschiedete sich aufatmend, um an seinen Tisch zurückzukehren.

Inzwischen hatte auch Dubs sich erhoben und, auf etwas unsicheren Beinen auch er, den Weg nach dem Hauseingang eingeschlagen: Die ergiebig genossenen Mengen Biers und Weißweins, dachte sich Alf, riefen eben nach fleißiger Entleerung. Aber er hatte vergessen, dass auch der Sprechapparat sich im Korridor befand. Als der Pianist zurückkehrte, rief er den beiden grüßenden Herren in Kammgarn über den Schanktisch hinüber zu: «Bitte, erzählen Sie nie in der Palace-Bar, dass Sie mich heute hier getroffen haben! Ich hab mich eben telephonisch krankgemeldet für heute. Ich wäre ohnehin schon verspätet – und überhaupt, Sie können sich nicht vorstellen, wie einen das manchmal anekelt, dieses blöde, blasierte Publikum, das schwatzt und grölt, wenn man etwas Anständiges spielt, und dafür siebenmal am Abend seinen Wienerschmalz oder den abgedroschensten Schlager verlangt! Und diese Whiskys und Champagnerkelche auf dem Flügel, die nachgerade an den Nerven fressen! Wenn ich dies alles vorausgesehen hätte vor siebenundzwanzig Jahren, als ich mein Konzertdiplom machte, mit der besten Note! Ich hätte niemals anfangen sollen in diesen Bars. Als ich mein erstes Engagement annahm, bildete ich mir ein, die Sache wäre vorüber in allerhöchstens zwei Monaten. Aber eben: Zu einer Konzertkarriere gehören heutzutage nicht nur Talent und Fleiß, daran hätte es mir ja wahrhaftig nicht gefehlt. Aber Geld braucht’s für die Reklame oder zum Mindesten die Fähigkeit, sich Protektion zu verschaffen, und beides war leider nie meine Stärke.»

Am Stammtisch der Rebellen

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