Читать книгу Am Stammtisch der Rebellen - Harry Gmür - Страница 14
III.
ОглавлениеBereits hatte Esch seine Hand nach der Klinke ausgestreckt. Ehe er sie jedoch erfasste, öffnete sich die Tür wie von selbst, und umlärmt von Stimmengewirr und Musikgetöse, flog ein langes Geschöpf mit solcher Wucht auf die Gasse heraus, dass es Alfred mit knapper Not gelang, zur Seite zu weichen, das hinter ihm stehende Mädchen mit einer jähen Armbewegung zurückzustoßen, um damit einen fürchterlichen Zusammenprall zu verhüten. Hinter dem Langen aber erschien, kürzer, jünger, erschreckend fett, in weißem Hemd und weißer Schürze und mit zurückgekämmtem, ölig glänzendem Haar: Sepp, der Wirt, mit dem ausgestreckten Arm eines Diskuswerfers nach dem Abwurf, der Held, der wieder einmal den zufällig gerade aufsässigsten seiner Gäste, den anderen zur warnenden Belustigung, beim Kragen gepackt und an die gesunde, frische Luft befördert hatte.
An Frischluft herrschte in der niedrigen, mit hellem lackiertem Holz getäfelten Wirtsstube, in die Alf und Doris durch den Sieger der Runde murmelnd hineinkomplimentiert wurden, in der Tat der allergrößte Mangel. Eine beklemmende Hitze, bläulicher Rauchnebel und die Dünste einer fett- und gewürzreichen Küche umfluteten die Ankömmlinge, dazu die elektrisierenden Rhythmen der Ouvertüre zu Rossinis Wilhelm Tell und das Gelächter und Bravorufe der dreißig, vierzig Gäste, von denen etliche wie hysterisch in die Hände klatschten.
Ein stämmiger Arbeiter, der mit seinen Kollegen gleich links neben der Tür saß, er mochte auf dem Bau oder im Transportgewerbe tätig sein, war mit dem Beifall freilich nicht einverstanden. «Schafsköpfe seid ihr!», rief er den Begeisterten zu. «Du solltest dich schämen, Sepp! Der andere ist doch ein ganz harmloser Bruder.»
«Alles wurst!», rief der Wirt. «Im Lamm gibt’s keinen Säufer, oder er fliegt!»
Er schritt mit seinem rechts-links pendelnden Gang, doch majestätisch aufrecht hinter das Buffet, führte blitzschnell eine halb leere Weinflasche an seinen Mund und tat ein paar lange, kräftige Züge, während alles lachte, selbst der unzufriedene Arbeiter, und die Bier- und Weingläser an sämtlichen Tischen in die Höhe gingen.
Nach einer freien Ecke suchend, musterten Alf und seine Gefährtin die Runde. An den rechteckigen Tischen entlang der rechts von der Tür gelegenen Wand, die alle besetzt waren, entdeckten sie nicht wenige bekannte Gesichter. Kopfnickend grüßte Doris die fahlblonde Rita mit den vollen Lippen, Charlys Gattin, der ein schwarzlockiger, kaum über zwanzigjähriger Jüngling in drängender Begierde den Arm förmlich zerquetschte, dann Singapore-Olga, die breitknochige Vierzigerin mit dem Kopf einer gereizten Bulldogge, die berühmte Prostituierte, die dreizehn Sprachen beherrschte in Wort und Schrift, dabei die übelsten Raufbolde der Altstadt mit der Härte ihrer Fäuste in Respekt versetzte, und schließlich «die Lora», professioneller Tänzer aus gutem Hause, gekleidet in kanariengelbe Keilhosen und einen giftgrünen Pullover, an dem drei goldene Damenbroschen steckten; golden schimmerten auch der Armreif am rechten Handgelenk und die schwere Kette, die um den gebräunten Hals hing.
Alf beeilte sich vor allem, seinem guten Freund Leo Graf, einem talentierten Graphiker und Reklamefachmann, die Hand zu drücken. Der stellte ihm wiederum Charles Dubs vor, den distinguierten Barpianisten, einen recht beleibten, doch lebhaften Fünfziger, der von ferne die Vision der heroisch übersteigerten Fettgestalt Honoré de Balzacs heraufbeschwor; den sportlich hochgewachsenen Direktor Maurer, einen Mann von entschiedenen Bewegungen, mit schwarzem Hemd, gelber Krawatte, leicht geröteter Nasenspitze, schwarzen, buschigen Augenbrauen und ohne ersichtlichen Grund gestrengem wasserblauem Blick – er leitete die größte amerikanische Filmverleihgesellschaft im Lande –, und den mageren, spitznasigen Dichter Hermann Sturzenegger, der einen schwarzen Pullover, eine Baskenmütze und eine dunkle Hornbrille trug. «Seine früheren surrealistischen Poesien hat er wohl selbst nicht verstanden», höhnte Graf, «aber vielleicht hast du vor Jahren seine wackeren Kampflieder in der Arbeiterzeitung oder in der Roten Fahne gelesen, und vielleicht kennst du auch einige seiner freien Rhythmen aus dem Bürgerblatt oder seine Reportagen daselbst über unsere romantischen Alpentäler. Leben lässt sich kaum von dieser Kunst, doch zum Glück besitzt unser Hermann eine tüchtige Freundin. Fanny, genannt Esmeralda, die verdient für zwei als Serviertochter in der Royal-Bar.» Er wies auf ein Mädchen von nicht gerade schönem, aber auffallendem Äußeren, das in stolzer Haltung Zigaretten rauchend neben dem Dichter saß. «Ich hatte einst große Bewunderung für Sie», sagte Alf zu Maurer, um etwas Höfliches zu sagen, «es ist über zehn Jahre her, Sie waren damals Sekretär und Redakteur des Arbeiterjugendverbandes, ich war zwar nicht Mitglied, aber ich las Ihre Zeitung.»
«Das wäre mir neu, Sie scheinen mich zu verwechseln», erklärte der Direktor hastig. Alf war verwundert, doch Maurers harter Blick ließ es ihn vorziehen zu verstummen.
Am dritten und vierten Tisch saßen ein paar wohlgekleidete, meist jüngere Herren in heiterer, ja lärmender Laune vor ihrem Bier, unter ihnen ein schlanker, schmalköpfiger Versicherungsangestellter, Dreher hieß er, der in Alfs Nachbarschaft zu Hause war. Merkwürdigerweise vermochte ihre Ausgelassenheit die beiden Schweigsamen in keiner Weise zu beeindrucken, die als Fremdlinge mitten unter ihnen saßen. Der eine war ein recht würdiger Herr, über fünfzig gewiss, grau meliertes, nach hinten gekämmtes Haar über den buschigen Brauen und der kühnen Adlernase. Sein marengoschwarzer Anzug, wenn auch nicht mehr ganz neu, war offensichtlich von bestem Stoff und Zuschnitt. Der andere, ein schmaler, äußerst glatt rasierter junger Mann in Grau, mit schnurgerade gezogenem Scheitel, Hornbrille und grau-rot gestreifter Seidenkrawatte, verriet durch sein sorgsam überwachtes Äußeres den gewissenhaften, strebsamen Angestellten. Diese Einsamen blieben unerschütterlich ernst, auch wenn die ganze Stube lachte, als wohnte in ihrem Schädel eines Tieres Seele, und sie schienen von einem einzigen Willen beherrscht zu sein: ohne Gier, als hätten sie eben eine Pflicht zu erfüllen, doch in erschreckendem Rhythmus Glas um Glas dunkelroten Weines in ihr Inneres hinabzustürzen.
Dabei sah’s aus, als hätten die armseligen Alten am langen Tisch, der gleichsam das Rückgrat der Stube bildete, bedeutend mehr Ursache zu Trauer und Verzweiflung. Hier war es, wo Hunderten von Furchen und Falten, wo den Narben und Verstümmelungen verschwielter Hände, den nervösen Zuckungen von Nasen, Lippen und Augenlidern, den groben Flicknähten der ausgetragenen, abgeschossenen und zerknitterten Gewänder lautlos, pausenlos das dumpfe Lied der Mühsal entschwebte: der Mühsal der Kreatur, die ihren Schweiß für ein Stücklein Käse und etwas Butter vertropfte und sich doch zumeist mit dünnem Kaffee und leerem Brot zu begnügen hatte, die sich nachts auf der fremd riechenden Matratze der Massenherberge oder auf dem Lumpenlager draußen in der Hütte in den Schrebergärten oder auf der harten Bank in den Anlagen am See, bestenfalls in dem kaum geheizten Verschlag hinter der Küche eines mürrischen Verwandten nach einem einfachen, aber richtigen Bett in einem warmen, behaglichen eigenen Stübchen sehnte, die lange von einem eigenen Sparbüchlein, vielleicht gar von einem eigenen Häuschen oder Geschäftlein geträumt – und die eines Tages, vor der Zeit aus hundert kleinen und größeren Kampfeswunden blutend, ihre Kräfte schwinden und schwinden fühlt und nun gar um ihren kaum geheizten Verschlag, um ihren Kaffee mitsamt den plötzlich gewichtigen Brotbröcklein – nein, das letzten Endes wohl nicht, aber vor dem Schlimmsten außer dem Tod: vor dem lebendig Begrabenwerden, vor der Versenkung in irgendeines jener gottverfluchten Armenhäuser zu bangen beginnt. Da war einer mit einer langen, schnauzenartig vorstehenden, zwischen Mundöffnung und Nase fast in rechtem Winkel eingebrochenen Oberlippe. Eben gähnten seine Kiefer riesenweit wie die eines Nilpferds auseinander und gewährten eine einzigartige Aussicht auf einen nahezu zahnlosen Gaumen und einen rot geschwollenen Rachen. Mit einem verhältnismäßig kräftigen Siebziger unterhielt ein uraltes kleines Weiblein ein reges Gespräch, in dem der spitzen Pfeile offenbar eine große Anzahl hin- und zurückflog. Die Frau besaß einen winzigen Haarknoten am Hinterkopf und eine noch viel winzigere Nase im Gesicht, die eigentlich nur aus einem kleinen Fleischkügelchen um die großen Nasenlöcher herum bestand: von einem Nasenrücken war nichts zu sehen, als hätte ihn ein Meisterboxer mit brutaler Faust zusammengeschlagen. Ein totaler Glatzkopf mit langem schneeweißem Schnurrbart, dessen Hälften wie zwei Eichhörnchenschwänze in den Raum ragten, musterte mit starrem Blick die ihm anscheinend fremde Gesellschaft, soweit er es nicht vorzog, den Glanz seiner Pupillen in die leuchtend klare Goldtiefe seines Mostgläsleins zu versenken. Ein zusammengeschrumpftes, wohl drei, vier Tage nicht mehr rasiertes Männlein, den schwarzen Hut auf dem Kopf, war seltsam aufgeputzt mit golden schimmernden Ohrringen und einer dreifach über die ganze Breite des Bauchs gespannten Uhrkette, an der eine kleine, ebenfalls goldfarbene metallene Kuh hing. Mit seiner in den höchsten Tönen abwechslungsweise flötenden, pfeifenden und keuchenden Fistelstimme versuchte er unter erregtem Augenzwinkern, sich seinen Tischgefährten verständlich zu machen. Einer Großmutter, die man sonst um diese Zeit über ihren Krückstock gebeugt als Blumenverkäuferin von Kaffeehaus zu Kaffeehaus humpeln sah und die mit ihrer scharf gebogenen Nase, den drei unmöglich langen Zähnen, die sie sprechend zeigte, und den gallegetränkten Blicken, die sie wie Dolche herumschleuderte, jedem Kind als die leibhaftige Hexe aus Hänsel und Gretel erschienen wäre, ging der Mitteilungsbedürftige besonders auf die Nerven. «Halt’s Maul, alter Narr, versteht dich doch keiner!», fuhr sie ihn wiederholt gehässig an, ohne die geringste Schonung zu üben. Ganz oben hatte ein einsamer Weißbärtiger sein Haupt vornüber auf den Tisch fallen lassen: dieser Welt überdrüssig, war seine Seele aus dem verzehrenden alkoholischen Fegefeuer in die linde Seligkeit der Betäubung eingegangen. Regelrecht betrübt blickte aber von all diesen Trostlosen ein Einziger umher: ein eher klein gewachsener Herr mit einem leidlich gepflegten grauen Schnurrbart, in ziemlich weißem Hemd mit Stehkragen und schwarzer Binde, darüber ein schwarzes Gewand, das nichts anderes als ein alter Smoking war, auf dem Haupt einen schwarzen Hut von Melonenform, einen köstlichen Spazierstock eingeklemmt zwischen den Beinen. Er vertrat im Schwarzen Lamm mit finsterer Überzeugung Paris, Champs-Élysées, 1899, er spielte Georges Clemenceau, den Tiger, mit einem klappernden, künstlichen Gebiss und ohne die Spur von Tigerklauen, und blickte vornehm wie ein Grandseigneur und grenzenlos einsam wie Robinson Crusoe über das vor ihm stehende, bis auf ein Restchen Weißwein leere Glas hinweg, das er vielleicht aus Angst, gehen zu müssen, da er sich eine zweite Runde nicht leisten konnte, nicht auszutrinken wagte.