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IV.Die Entwicklung in Nordamerika
Оглавление28Die Entstehung der Grundrechtskataloge23 in Nordamerika wurde von mehreren besonderen historischen Faktoren geprägt.
29Zunächst spielten die Vorgaben der Englischen „Civil Liberties“ eine Rolle. Gerade im Konflikt mit der englischen Krone konnten sich die Kolonisten auf den Präzedenzfall der Glorious Revolution von 1689 berufen und so die Ausübung ihres Widerstandsrechts begründen.24
Hinzu kam die einzigartige Situation der Neubesiedelung des nordamerikanischen Kontinents. Institutionen des öffentlichen Lebens mussten erst eingerichtet werden, wobei man nicht an eine feudale Gesellschaftsordnung gebunden war. So ergab sich die Möglichkeit einer vollständigen gesellschaftlichen Neuordnung, bei der die Gedanken der Naturrechtslehre bestimmend werden konnten.25
Die Geschichte der nordamerikanischen Rechtsverfassungen beginnt mit Abkommen und Deklarationen, die zunächst überwiegend wirtschaftliche Gesichtspunkte enthielten. Die Siedler der Neu-England-Staaten schlossen zunächst so genannte Pflanzungsverträge, die Basis für die Rechtmäßigkeit ihrer ökonomischen Handlungen werden sollten.26 Inhaltlich sind es Verträge der englischen Ansiedler über ihre religiösen und politischen Prinzipien, die sie bei der Gründung der Kolonien einhalten wollten.27 Hierzu gehören der „Mayflower Compact“ von 1620 zur Gründung von New-Plymouth, die Verträge von Massachusetts 1629 und Providence 1636, sowie Connecticut 1638.
30Daneben gab es erste zaghafte Freiheitsverbürgungen, wie beispielsweise die Concessions and Agreements of the Proprietors, Freeholders and Inhabitants of the Province of West New Jersey vom 3.3.167728, sowie die New York Charter of Liberties von 168329.
Was die allgemeine Rechtsgeltung anging, so schuf man zunächst kein neues Recht, sondern rezipierte die englischen „birth-rights“ aus den „fundamental laws“, wie sie Coke lehrte und die in den „Commentaries on the laws of England“ von William Blackstone ihren Niederschlag (und Höhepunkt) gefunden hatten.30 Bei diesen Rechten handelte es sich allerdings um Bürgerrechte gegenüber der englischen Krone und nicht um Rechte, die eine politische Partizipation oder gar so etwas wie Selbstbestimmung gewährten und deren Begründung letztlich durch den (weit entfernten) englischen Staat vermittelt wurde. Es waren letztlich Rechte, deren Nutzen in der neuen Welt geringfügig war, die also nur der Anfang einer Rechtsstatuierung sein konnten.
31Die Ferne des Mutterlandes, die Unterdrückung durch den englischen Staat bei gleichzeitig geringer Durchsetzung und Garantie von rechtlichen Positionen sowie die Erhebung vielfältiger Steuern bei gleichzeitig mangelnder Mitbestimmung forderten eine eigenständige rechtliche und politische Entwicklung dieser Staaten geradezu heraus. Diese Situation mündete letztlich in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1764 und 1776. In dieser Zeit gab es vielfältige – geistige – Auseinandersetzungen um die zukünftige rechtliche Basis der unabhängigen Kolonien.
Erstmals enthielt die Bostoner Erklärung der Rechte der Kolonisten vom 20.11.1772 die Garantie einer allgemeinen Handlungsfreiheit. Erweitert wurde diese in der Declaration of Independence vom 4.7.1776, dem eigentlichen Ergebnis des Unabhängigkeitskrieges, deren Wortlaut allerdings nicht Bestandteil der späteren Bundesverfassung wurde:
Satz: 2:We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness.
32In der Folge gab es eine Flut von revolutionären Verfassungen, Rechtskodifikationen und Deklarationen in den Einzelstaaten. 1776 tagte in Philadelphia ein Kongress der Kolonien, die zur Abspaltung vom Mutterland entschlossen waren. Elf Kolonien nahmen an diesem Kongress teil, in dessen Folge es zu einer Reihe von Deklarationen kam: Virginia Bill of Rights vom 12.6.1776, Declaration of Rights von Pennsylvania vom 16.8.1776, Declaration of Rights von Delaware vom 11.9.1776, Declaration of Rights von North Carolina vom 14.12.1776, Declaration of Rights von Vermont vom 8.7.1777, die Constitution of New York von 1777, die Constitution of South Carolina von 1778, die Declaration of the Rights of the Inhabitants of the Commonwealth of Massachusetts vom 2.3.1780, und die Bill of Rights of New Hampshire von 2.6.1784.
33Die erste vollständige Erklärung der Menschenrechte enthielt die oben genannte Virginia Bill of Rights vom 12.6.1776. Sie formulierte:
„Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte, deren sie, wenn sie den Status einer Gesellschaft annehmen, durch keine Abmachung ihre Nachkommenschaft berauben oder entkleiden können, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.“ 31
34Neben den hier genannten Rechten auf Leben, Freiheit und Eigentum sind in der Virginia Bill of Rights die Versammlungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Freizügigkeit, bzw. das Recht auf Auswanderung, das Petitionsrecht und der Anspruch auf Rechtsschutz enthalten.32
35Am 4.7.1776 folgte die Declaration of Independence (amerikanische Unabhängigkeitserklärung), in der Thomas Jefferson (1743–1826) formulierte:
„Wir halten es für eine Wahrheit, die keines Beweises bedarf, dass alle Menschen vor ihrem Schöpfer gleich sind; dass er ihnen gewisse unveräußerliche Rechte verliehen hat, und dass zu diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.“ 33
36Am 28.9.1776 wurde mit der Verfassung von Pennsylvania die erste amerikanische Vollverfassung erlassen. Anders als in der Bill of Rights in Virginia, die noch neben der Verfassung von Virginia stand, wurde in ihr die Rechteerklärung mit einem besonderen Abschnitt, genannt „Frame of Government“, zur „Constitution of the Commonwealth of Pennsylvania“ verbunden. Erstmals gab es eine Verfassung mit Grundrechts- und Organisationsteil.34
37Am 17.9.1787 trat die Unionsverfassung in Kraft, die allerdings erst 1789 um einen Grundrechtskatalog erweitert wurde. Diese ersten zehn Zusatzartikel (amendments), die so genannte „Bill of Rights“, enthielten die Religions-, die Meinungsäußerungs-, die Presse-, die Versammlungs- und die Petitionsfreiheit.35 Ein generelles Freiheitsrecht war diesem Verfassungsdenken noch fremd.