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V.Die Entwicklung in Frankreich
Оглавление38Bis 1789 war Frankreich eine absolutistische Monarchie, das sog. Ancien Régime, in der den Untertanen keine Grundrechte zuerkannt wurden. Im Unterschied zu England, wo das Parlament ein Gegengewicht zur königlichen Herrschaftsgewalt darstellte, konzentrierte sich in Frankreich die Macht fast vollständig in den Händen des Königs. Diese Machtfülle geriet immer mehr in Gegensatz zu den im 17. und 18. Jahrhundert vertretenen natur- und vernunftrechtlichen Ideen sowie den politischen Ansprüchen des Bürgertums, das sich immer mehr als soziale und wirtschaftliche Macht entfaltete.
39Am 11.7.1789 legte der Marquis de La Fayette (1757–1834), Mitkämpfer in der amerikanischen Revolutionsarmee, der in Paris zusammengetretenen französischen Nationalversammlung einen ausformulierten Katalog von Menschenrechten vor und beantragte ihre Aufnahme in die neue Verfassung.36 Thomas Jefferson, damals amerikanischer Gesandter in Paris, hatte ihn dabei unterstützt.37 Beiden waren die amerikanischen Texte bekannt und sie orientierten sich an ihnen. Zunächst wurde im Plenum und im Verfassungsausschuss heftig diskutiert, wobei durchaus konträre Meinungen hervortraten. Ein Teil der Abgeordneten lehnte gar eine Menschenrechtserklärung grundsätzlich ab.38 Letztlich wurde am 26.8.1789 die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung „Declaration des droits de l'homme et du citoyen“ verabschiedet.
40Nach Art. 1 der Erklärung sind die Menschen frei und gleich an Rechten. In Art. 2 wird der Erhalt der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte zum Endzweck jeder politischen Vereinigung erklärt. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung. Art. 3 ist ein Bekenntnis zur Volkssouveränität. Art. 4 und 5 definieren die Freiheit dahingehend, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. In Art. 7 bis 9 sind strafprozessuale Rechte geregelt. Art. 10 enthält die Religions- und Gewissensfreiheit, Art. 11 die Gedanken- und Meinungsfreiheit. Art. 16 stellt fest: „Jede Gesellschaft, in der weder die Garantie der Rechte zugesichert, noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung.“ Art. 17 regelt Eigentum und Enteignung.39
41Im Unterschied zu Nordamerika bestand Frankreich aus einem feudalen, absolutistischen Herrschaftssystem mit einer jahrhundertealten Tradition. Die Funktion der Menschen- und Bürgerrechtserklärung war u. a. die Ablösung dieses politischen Regimes. Die Menschen und Bürgerrechte hatten zunächst einmal eine revolutionäre, zerstörende Funktion.
42Weil der französische Kampf vor allem ein Abwehrkampf gegen das traditionelle Regime war, verwundert es nicht, dass die französischen Menschenrechtserklärungen in erheblichem Umfang andere Gegenstände betonen, wie die amerikanischen. Da es galt, gegen den Adel, den Klerus und ein feudales, ständestaatliches Denken zu kämpfen, war die Idee sozialer Gleichheit, um nicht zu sagen sozialer Gerechtigkeit mindestens genauso wichtig wie der Freiheitsgedanke. Diese Idee war dem amerikanischen Rechtsdenken fremd, zum einen deshalb, weil es in den Kolonien ein derartiges feudales Unterdrückungssystem nicht gab, zum anderen, weil man selbst in einem größeren Maße für wirtschaftliche Unabhängigkeit sorgte. Dass das überhaupt möglich war, lag in den Kolonien auch darin begründet, dass die geografische Situation, das Vorhandensein von Ressourcen und die Weite des Landes günstige ökonomische Entwicklungen gestatteten. Diese Voraussetzungen existierten in Frankreich schlechterdings nicht. Es verwundert deshalb nicht, dass das französische Denken eine Idee der „fraternité“ (Brüderlichkeit) formuliert, das amerikanische hingegen nicht.
43Ein weiterer Unterschied zwischen den Erklärungen und den Rechtsentwicklungen in Nordamerika und in Frankreich liegt in der praktischen Ausgestaltung der Deklarationen. Die französische Erklärung beruft sich in einem sehr viel höheren Maße auf einen philosophischen Grundanspruch. Die Texte werden geradezu als überpositives Recht formuliert. Es geht um Grundsätze, die selbst den Verfassungsgeber binden sollen, nicht um praktische Regeln. Gerade wegen der Höhe des französischen Anspruchs blieb seine Auswirkung in der praktischen Rechtswirklichkeit gering.
44Die Erklärung der Menschenrechte wurde in die französische Verfassung vom 3.9.1791 aufgenommen, die zudem noch weitere „natürliche und bürgerliche Rechte, wie Freizügigkeit, Versammlungs- und Meinungsfreiheit“ enthielt,40 doch wurde diese bereits am 10.8.1792 wieder suspendiert. Nach der Abschaffung der Monarchie am 21.9.1792 mündete die Revolution allmählich in den Terror. Die neue Verfassung vom 24.6.1793 enthielt zwar eine noch ausführlichere Menschenrechtserklärung; in ihr waren auch soziale Rechte, wie die freie Berufswahl, das Recht auf Arbeit sowie Unterstützung bei Arbeitsunfähigkeit und Anspruch auf Unterricht enthalten; sie trat aber nie in Kraft. Die Terrorherrschaft nahm ihren bekannten Lauf.41
1795 folgte eine weitere Verfassung, in der den Menschenrechten erstmals die Funktion zukam, die nunmehr etablierte bürgerliche Ordnung zu legitimieren. Diese Verfassung wurde bereits 1799 durch die Konsulatsverfassung, welche die Deklaration der Menschenrechte gar nicht erst aufnahm, wieder abgelöst. Die Napoleonische Verfassung von 1804 befasste sich nicht mehr mit Grundrechten. In der Charte Constitutionelle von 1814 waren Teile der Menschen- und Bürgerrechtserklärung enthalten.
In der Französischen Verfassung von 1958 wird auf die Grundrechte der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 verwiesen. Sie sind damit geltendes Verfassungsrecht.42