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Zahlensymbolik: Polaritäten in Potenz

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Die Symbolik in Wolframs Sprache ist äußerst vielfältig und bedeutungsreich. Sie bildet neben der begrifflichen Ebene der Sprache eine zweite, ergänzende Bedeutungsebene, die selten erläutert wird und sich dem Leser auch nur schwer erschließt, sodass das ohnehin komplizierte Handlungsgefüge zusätzlich in eine Atmosphäre des Rätselhaften und Geheimnisvollen gehüllt ist. So gibt es bestimmte Zahlen, Farben, auch Gegenstände, insbesondere Edelsteine, die immer wiederkehren und sich als Bedeutungsträger geradezu aufdrängen. In der Tat wird man bei genauerem Betrachten die Erfahrung machen können, dass die Symbolik oft auf eine imaginative Tiefenschicht des Geschehens verweist, die mit rationalen Begriffen gar nicht beschreibbar wäre. Im Unterricht wird man deshalb, wenn Textausschnitte referiert werden, auf eine möglichst bildhafte, anschauliche Schilderung achten, aber man wird sicherlich nur einen Bruchteil der Symbolik erschließen können und sich auf das Wesentlichste beschränken müssen. So werden auch in der vorliegenden Arbeit gelegentlich Hinweise und Anregungen zur Symbolik gegeben, die man zur Vertiefung des Textverständnisses eigenständig weiterverfolgen mag. Anhand der Bedeutungen der Zahl 2 und ihrer Potenzen sollen im Folgenden exemplarisch einige Gedankenwege und Begriffsbildungen aufgezeigt werden, die sich dabei anbieten.

Belakane wird von zwei Seiten bedrängt. Auf der einen bedrohen sie die Angreifer aus dem eigenen Kulturkreis, auf der anderen Seite greifen die Fremden aus dem fernen Nordwesten an. Von der Umgebung der umkämpften Stadt erfahren wir ansonsten wenig, außer dass sie am Meer liegt. Umso größeres Gewicht erhält die Aussage, dass sie sechzehn Tore hat, von denen jeweils acht von einem gegnerischen Heer belagert werden. Nimmt man diese Zahlen nicht nur als schmückendes Beiwerk, kann man feststellen: Es dominiert die Zwei mit ihren Potenzen. Wir können einen konsequent durchgeführten Dualismus beobachten, der die Thematik des Prologs wieder aufgreift.

Die Zwei kann Streit und «Zwist» zur Folge haben, sie ist aber auch die Grundlage aller Entwicklung in Polarität und Steigerung. Welche Richtung sie weist, nach oben oder unten, ist offen. Betrachten wir die verschiedenen Potenzen der 2: Die 4 ist die Zahl alles Irdischen, Körperlichen, Gewordenen, der sichtbaren, «gegenständlichen» Schöpfung, wo sich die Dinge gegenüberstehen. Man denke an die vier Elemente, die vier Jahres- und Tageszeiten, die vier Himmelsrichtungen, die vier gleichen Winkel des Rechtecks, das Kreuz, die vier leiblichen Wesensglieder des Menschen. Wir erleben Beständigkeit, Dauer, Festigkeit, aber auch die Erstarrung, den Tod. Mit der 2 in dritter Potenz kommen wir nicht nur zum Raum: Die Doppelung der 4 – die indogermanische Dualform «oktou» heißt ursprünglich «die beiden Viererspitzen» – bildet auch die vollkommene Leiblichkeit. Die beiden Teile, die Geschlechter Mann und Frau, können in Gegensatz und Krieg geraten, aber zusammen bilden sie den ganzen natürlichen Menschen. Betrachten wir die Ziffer 8 mit ihrer Doppelgestalt als Lemniskate, bekommen wir ein Gespür für diese Verbindung des Gegensätzlichen.

Zeitlich gesehen ist mit der 8 alle Entwicklung vollendet und umfasst deren Totalität. Wir sprechen von «acht Tagen», wenn wir eine abgeschlossene Woche bezeichnen – hier wird Zeit zum vollendeten Zeit- «Raum». Zugleich kann aber auch Neues eröffnet werden: Am «achten Schöpfungstag» wird aus der vollendeten väterlichen Schöpfung durch die Erlösungstat Christi eine neue geboren. Zu deren Entwicklung gehört auch der «achtgliedrige Pfad» Buddhas: die Gesamtheit des rechten irdischen Tuns zur Vervollkommnung des Menschen.

Das Achteck wirkt in sich geschlossen und kommt der Kreisform schon nahe. Im Sakralbau spielt es eine große Rolle. Man denke an den Felsendom in Jerusalem mit seiner wechselhaften Geschichte, jenen Schnittpunkt der drei großen monotheistischen Religionen. Das Tor der irdischen Geburt, wo die Leiblichkeit vollendet und bereit ist, damit ein Geistwesen in sie einziehen kann als in seinen «Tempel», wird auch im Christentum mit der Acht verbunden: Taufkapellen im Namen Christi und der Auferstehung als Vollendung der irdischen Leiblichkeit sind in der Regel Achtecke, wie beispielsweise das herrliche Baptisterium in Florenz mit seinen kosmischen Mosaiken. Viele Bauten der Templer sind oktogonal, und schließlich beruht die Vorstellung, die sich Albrecht von Scharfenberg in seinem «Jüngeren Titurel» vom Gralstempel macht, auf oktogonalen Formen.

In der «Doppelzwei» oder der potenzierten Zwei haben wir die Gesamtheit der Elementarzustände und Ganzheit der Naturreiche, in der «Doppelvier» oder Acht die Krönung dieser Naturentwicklung im menschlichen Leib als dem Tempel des Geistes. Geometrisch ergibt sich der Kubus als einander gegenüberliegende Vieren im irdischen Raum. Wir werden später, im Zusammenhang mit dem Gral, noch auf die Figur des Würfels zu sprechen kommen. Mit der «Doppelacht», der potenzierten Vier, kommen wir nun noch einen Schritt tiefer in das Wesen des Leiblichen. Dieses neue Ganze ist nicht mehr Ergebnis natürlicher Entwicklung, hier steht der individuelle Menschengeist nun in der Entscheidung, Herr im eigenen Haus zu werden. Dies will der achtgliedrige Pfad, der zur Ausbildung der sechzehnblättrigen Lotusblume führt: zur Herrschaft des Geistes über den Leib.5 Dem steht gegenüber, was «die sechzehn Wege des Verderbens»6 genannt wurde: die Herrschaft des Leibes über die Seele durch die Macht der Instinkte, die Kapitulation der Menschlichkeit vor den Kräften der tierischen Natur und damit der sukzessive Verlust aller Entwicklungsmöglichkeiten. «Es gibt sechzehn Gruppen menschlicher Instinkte und Leidenschaften und so gibt es auch sechzehn Tiergruppen.»7 Unter anderem in den Vorträgen zum Lukas-Evangelium hat Rudolf Steiner auf die Bedeutung des achtgliedrigen Pfades hingewiesen: «Heute ist die Menschheit darauf angewiesen, nach und nach diesen achtgliedrigen Pfad geistig-seelisch sich anzueignen … Sie ist so weit gediehen, wie sie gediehen ist in der Entwickelung der sechzehnblättrigen Lotusblume, die eines der ersten Organe ist, deren sich die Menschen in der Zukunft bedienen werden. Wenn aber dieses Organ entwickelt sein wird, dann wird eine gewisse Herrschaft des Seelisch-Geistigen über das Physische eingetreten sein.»8

Die Begegnung der beiden Kulturkreise, des Orients und des Okzidents, kann in konstruktiver und in destruktiver Form geschehen. In den heranrückenden Truppen Friedebrants gegen die acht Tore auf der einen Seite und den Heeren Isenharts bei der Belagerung der acht Tore auf der anderen Seite haben wir es mit einer destruktiven Doppelung zu tun. Durch sechzehn Tore kann jetzt das Verderben eindringen. Der Zerstörung und der physischen Gewalt, symbolisiert durch das Wappen der Gegner, den durchstochenen Ritter, versucht Belakane sich durch eine Anbindung an das Geistige zu erwehren, was in ihrem Wappen, der erhobenen Schwurhand, zum Ausdruck kommt. Mit dem Verlust Isenharts ist das geistige Band aber zerrissen, die Seele ist führungslos. Der Konflikt wäre unlösbar und müsste unweigerlich ins Verderben führen, träte nicht Gachmuret an die Stelle Isenharts. Diese geistige Nachfolge wird – allerdings erst im Nachhinein und in durchaus fragwürdigem Zusammenhang – bildhaft symbolisch durch die Übernahme des diamantenen Helms, des «Adamas», ausgedrückt.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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