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Pietà – der Logos der Seele

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An der Gestalt Sigunes kann uns nicht nur die eigentümliche Bewusstseinsverfassung Parzivals als Gralssucher deutlich werden, sondern auch die Erkenntnisproblematik des neuzeitlichen Menschen. Es gehört zu den Merkmalen der modernen Seelenkonfiguration, die Rudolf Steiner als «Bewusstseinsseele» bezeichnet, dass die traditionellen Quellen, aus denen der Mensch dank seiner geistigen Herkunft bislang noch schöpfen konnte, versiegen. Sigunes Verschwinden weist uns auf den schrittweisen Verlust alter Geisteskräfte, die uns biografisch noch eine Zeit lang begleiten können, sofern sie in einer geistgemäßen Erziehung gepflegt werden, die uns aber in dem Maße verlassen, in dem wir die Verantwortung für unsere Entwicklung selbst übernehmen. Zwischen dem «nicht mehr» und dem «noch nicht» aber lebt der moderne Mensch wie in einem Niemandsland.

Dass die Gestalt Sigunes, trotz aller Intimität und persönlichen Nähe, über das Einzelschicksal Parzivals hinausweist, kann in der dritten Begegnung besonders nachempfunden werden. Es ist ja Karfreitag. Während Sigune bisher stets als Gewissensstimme und Wegweiser den individuellen Lebensweg Parzivals begleitet hat, offenbart sie sich dem österlich geweiteten Blick darüber hinaus als Weltgewissen, das den Menschen auf die Spur bringt zu verstehen, warum er im Zustand des Zweifels und der Geistleere lebt und der Gral sich ihm entzieht. Denn jenes Bild der Jungfrau mit dem toten Geliebten trägt unverkennbar die Züge jener trauernden Frömmigkeit, die an das Mysterium von Golgatha erinnert, an den, der «in deinem und meinem Namen» den Opfertod erlitten hat, an den auf der Schädelstätte geopferten Weltenlogos.

Die Imagination der Pietà tauchte im hohen Mittelalter aus den Seelentiefen der Menschen auf und nahm nicht nur in der Kunst, sondern auch im philosophischen und theologischen Denken vielfältige Gestalt an. Sie verbreitete sich mit fortschreitender Verstandesentwicklung, und nicht zufällig waren es gerade die Dominikaner, bei denen die «imago pietatis» lebendig war, kreiste doch ihr Bemühen besonders um die Erschließung der christlichen Substanz im menschlichen Denken. Als Andachts- und Vesperbild wurde sie seit dem 13. Jahrhundert zu einem zentralen Motiv in der bildenden Kunst, zunächst im deutschsprachigen Raum, um schließlich in Italien, an der Schwelle zur Neuzeit, zur höchsten Meisterschaft entwickelt zu werden: in der Kunst Michelangelos. So bietet es sich an, wenn man das Thema der Sigune-Handlung anschaulich erarbeiten will, dies mit einer Betrachtung der Pietà im Schaffen Michelangelos zu verbinden, wo dieses Motiv eine zentrale Bedeutung einnimmt. Wir werden an späterer Stelle ausführlich darauf zurückkommen.19

Was sich so als ein Schicksalsmotiv in der Entwicklung Parzivals verdichtet, können wir hier mit Einsichten aus der anthroposophischen Geistesforschung noch vertiefen. Dass der Mensch sich der Welt bewusst gegenüberstellen und sie sich dienstbar machen kann, verdankt er der Tatsache, dass die lebendige Kraft des Logos in seiner Seele erstorben ist und in der Form abstrakter Begrifflichkeit seiner subjektiven Willenstätigkeit verfügbar wurde. Der Preis für die Entwicklung zur freien Individualität ist der Tod des göttlichen Wortes in der Seele. Indem der Mensch in die Welt tritt und sich den Dingen zielstrebig urteilend gegenüberstellt, wird er schon schuldig am lebendigen Weltwesen. Damit aber die Seele nicht in geistiger Isolation dem Tod überlassen werde, ist in Jesus Christus der Logos selbst individueller Mensch geworden und «in deinem und meinem Namen» in den Opfertod gegangen. Dass die Verbindung zur geistigen Welt auch im Individuum nicht abreißt, verdankt der Mensch der in die Erdenaura eingegangenen Erlösungstat von Tod und Auferstehung. Die Empfindung für dieses umfassende kosmische Ereignis ist Folge einer höheren Gewissensbildung, die sich in der nächtlichen Begegnung mit dem Christuswesen vollzieht. Rudolf Steiner hat des Öfteren auf den «Zusammenhang des Gewissens mit der größten Erscheinung in der Menschheitsentwickelung, mit dem Christus-Ereignis»20 hingewiesen. «Wie ein Schatten folgt das Gewissen dem Christus-Impuls, wie er eintritt in die weltgeschichtliche Entwickelung.»21

In der Imagination der Pietà begegnet das menschliche Gewissen sich selbst. Durch Andacht kann die Seele einen bewussten Bezug zum Christus-Geist herstellen, wenn sie aus individuellen Kräften den Logos dieses Bildes – hier: den Sinn der Sigune-Imagination – zum Erleben verdichtet. Das ist die Spur, die zum Gral führt. «Wenn wir uns … durch das Gewissen sozusagen Wahrheiten sagen lassen, die nicht aus der Sinneswelt kommen – wenn es möglich ist, so in fremde Wesenheiten einzudringen und uns Wahrheiten in die Seele hereinsprechen zu lassen nach jenem Muster, wie das Gewissen spricht, dann ist eine Aussicht vorhanden, in eine andere Welt als diejenige, die uns für unser Wachbewusstsein vom Aufwachen bis zum Einschlafen gegeben ist, einzudringen.»22

In dem Bild, das Parzival in stufenweiser geistiger Vertiefung erscheint, ertönt jene Stimme, die dem Menschen als Geistverbundenheit, als Überrest geistiger Inspiration verblieben ist. «Jedes Einschlafen ist eine Fragestellung, eine unbewusste Fragestellung an die geistige Welt, jedes Aufwachen ist ein unbewusstes Antwortgeben aus der geistigen Welt. Wir stehen fortwährend gewissermaßen mit unserem Unterbewusstsein mit der geistigen Welt in einer Korrespondenz, indem wir aus dieser geistigen Welt heraus uns die Antworten darüber holen, wie wir innerlich als Mensch eigentlich sind … Sie tragen das, was die geistige Welt an Ihnen gestaltet, herein in Ihr physisches und Ihr ätherisches Dasein. Damit tragen Sie die Stimme des Gewissens herein. Im wachen Leben verwandelt sich das, was man als Antwort bekommt in Gestaltung und Tingierung, in die Stimme des Gewissens.»23 Und wie das Gewissen in der menschlichen Seele sich zu der dumpf empfundenen «inneren Stimme» entwickelt hat, so wird es sich einmal in einen wachen Dialog mit der geistigen Welt verwandeln. «Das Gewissen ist durchaus noch ein Vermächtnis der geistigen Welt. Nur allmählich, indem wir die Welt wieder verstehen lernen, indem wir sie wieder geistig zu fassen wissen, wird sich uns eine Summe von Moralprinzipien ergeben, die sich beleuchtend verhalten werden zu dem, was wie eine instinktive Moral aus unserem Gewissen kommt. Eine immer leuchtendere Moral wird auftreten – wenn die Menschheit sie sucht, selbstverständlich …»24

Es entspricht deshalb der Logik der Bilder, wenn Parzival bei der vierten Begegnung Sigune nur noch tot vorfindet, wie zum Gebet in die Knie gesunken.25 Parzival lässt den Stein des Sarges aufheben und Sigune zu dem unverwesten Leib Schionatulanders legen. Während ihm so das Bild entschwindet, das ihn auf seinem bisherigen Entwicklungsweg begleitete, hat sich ihm die Gebärde Sigunes verwandelt. Nicht mehr die leidende und trauernde Seele, die den Tod trägt, steht ihm vor Augen, sondern die Gralsträgerin, der Inbegriff der Freude, Repanse de Schoye.26

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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