Читать книгу Der Parzival Wolframs von Eschenbach - Heinz Mosmann - Страница 19

Die Bluttat

Оглавление

Wenn wir den Schicksalsfäden von der Zukunft her folgen, klärt sich ein merkwürdiger Widerspruch im Verhalten Parzivals. Einerseits hat der Knabe offenbar so viel Bewusstsein, dass er von der Brutalität der Szene zwischen Keye und Kunneware abgestoßen wird und sich darüber empört, andererseits hat er aber noch so wenig Unrechtsempfinden, dass er sich anmaßt, von Ither in unverschämtem Ton die Rüstung zu verlangen und dessen ganze Ritterlichkeit damit infrage zu stellen – bis zum bedenkenlosen Mord. Anscheinend spricht die Prügel gegen eine wehrlose Frau für sein Herz eine deutliche Sprache, sicherlich dank seiner mütterlich geprägten und liebevollen Erziehung. Die Sprache der Gewalt hingegen ist es, die Ither gegen die Tafelrunde ins Feld führt, und die Empörung über die Züchtigung wird wohl den seelischen Boden für den Wutausbruch gegen den Roten Ritter bereitet haben.

Die instinktive Brutalität und spontane Zielstrebigkeit, mit der Parzival vorgeht, ist aus der Psyche eines jähzornigen Knaben dennoch schwerlich zu erklären. Die Frage nach den eigentlichen Triebkräften seines Handelns kann uns indessen auf einen tieferen geistigen Zusammenhang aufmerksam machen. Denn zieht man die intuitive Verbundenheit Kunnewares mit dem Schicksal Parzivals von der Zukunft her, aus der Perspektive des Gralskönigtums, in Betracht, kann man sagen: Gerade in der Verwandlung und Überwindung jener Kräfte des Rittertums, die Ither repräsentiert, besteht der «hôhste prîs», dem die friedliebende Kunneware ihr Lachen schenkt. Es berührt Parzival in seinem tiefsten Wesenskern, dass sie für ihren hellsichtigen Blick brutal misshandelt wird, und bestärkt in ihm die gegen den Roten Ritter gerichtete Entschlossenheit, wenn ihm das auch nicht bewusst ist.

Der edle Ritter ist immerhin darum bemüht, den kecken Knaben nicht unnötig zu verletzen, indem er ihn mit dem stumpfen Ende des Speeres zu Boden schickt. Dennoch zögert Parzival keine Sekunde, ihn zu töten, und stößt ihm sein Gabilot, seinen Sauspieß, ins Visier. Will man das als Jähzorn erklären, dann müsste der Knabe wenigstens beim Anblick des Toten einen Ansatz von Reue und Mitleid zeigen. Schließlich hat er ja auch die erlegten Vögel beweint. Aber nichts dergleichen geschieht, im Gegenteil. Die vergnügliche Selbstzufriedenheit, mit der er dem starren Körper die schwere Rüstung auszieht, die kecken Bemerkungen über den Ermordeten, dazu noch die Unterstützung durch den Artus-Knappen und die Billigung durch Artus selbst lassen die ganze Szene zum makabren Schauspiel werden, wenn wir sie nur äußerlich als Raub und Leichenfledderei ansehen.

Genau genommen war aber die Gestalt des Roten Ritters schon von Anfang an nicht im gewöhnlichen Sinne realistisch. Allein die Darstellung seiner sinnlichen Erscheinung erhebt den König von Kukumerland zur Symbolgestalt. Seine Rüstung ist rot, das Pferd ist rot, Kleidung und Waffen sind rot, und das Haar ist natürlich auch rot. Selbst der geraubte Becher glänzt rot, und rot ist schließlich die Farbe des Blutes, das in der Streitszene reichlich fließt.

Die Farbe Rot vereinigt in ihrem Symbolgehalt wie in ihren Empfindungsqualitäten die widersprüchlichsten Aspekte. Das rote Feuer etwa ist Bild der Zerstörung und des Untergangs, zugleich aber auch der prometheischen Schöpferkraft und damit der menschlichen Individualität, wie es uns in den pfingstlichen Feuerzungen veranschaulicht wird. Wir können in Hass entbrennen oder in Begeisterung erglühen. Rot kann aggressiv wirken, es kann aber auch die Seele wärmen. Besonders aber ist das Rot die Farbe des Blutes, in dem sowohl die niedersten Triebe und Begierden brodeln als auch die Tatkraft der menschlichen Individualität pulsiert. Damit kennzeichnet es sich als Farbe der Wandlung. In der Meditation des Rosenkreuzes etwa, wie sie Rudolf Steiner darstellt, wird diese Wandlung zum Thema und geistigen Vollzug.

Indem Parzival die Rüstung des toten Ither anlegt, kündigt sich ein Wandel von großer Tragweite an. Er wird damit nicht irgendein Ritter, sondern der Rote Ritter. In den folgenden Aventüren, auch in den Abenteuern Gawans, taucht nun immer wieder das Bild des Roten Ritters auf, als glühendes Emblem eines großen menschheitlichen Themas: als Symbol der Wandlung und der freien Suche nach dem Gral. Die alten, sippengebundenen Blutskräfte werden durch das Feuer der menschlichen Individualität verwandelt – in der Begeisterung, die aus der Liebe zum Gral erwächst.

Der Verlust des leiblichen Vaters und der frühe Tod der Mutter kennzeichnen einen Schicksalsweg, der die blutsgebundenen Kräfte des Menschen zu übersteigen sich anschickt. Da ist es kein Zufall, dass Parzivals Ritterschaft durch einen Verwandtenmord eingeleitet wird. Individuelle Tat und Schuld sind untrennbar miteinander verknüpft, wie es uns am Bild des Schwertes deutlich werden kann, das Parzival nun an sich nimmt. Es wird uns später wieder begegnen, wenn er mit ihm, und nicht etwa mit dem Gralsschwert, gegen seinen Halbbruder Feirefiz kämpft. Trevrizent wird ihn vorher darüber aufklären, dass er in Ither einen Verwandten getötet hat, und er wird es in einen Zusammenhang stellen: Das Blut, das beim Brudermord von Kain und Abel zur Erde rann, wird durch das Blut, das im Kreuzestod Christi sich mit der Erde vereinte, verwandelt. Wie der Brudermord mit dem Ereignis von Golgatha, so ist – wie noch genauer zu zeigen ist – der Verwandtenmord Parzivals mit jener Szene verknüpft, in der Parzival seinem Blutsbruder begegnen wird – und das Schwert des Roten Ritters zerbricht. –

Als Parzival mit der erbeuteten Rüstung davonreitet, ist er nicht nur ohne jedes Schuldgefühl, er ist sogar äußerst zufrieden mit sich: «‹Lieber Freund›», so sagt er zu dem Knappen Iwanet, «‹ich habe hier erworben, worum ich bat.›» Dieser solle Artus seinen Dank ausrichten. Und im selben Atemzug beklagt er sich, dass seine Ehre verletzt worden sei, weil eine Dame seinetwegen verprügelt wurde. Auch im folgenden Wehklagen der Artusritterschaft über den Tod des Roten Ritters hat man den Eindruck, dass die Tat Parzivals überhaupt nicht moralisch gewertet wird. Die Königin Ginover selbst spricht die Totenklage. In ihren Worten hebt sie noch einmal die Einzigartigkeit und Bedeutung des Toten hervor, ohne dabei aber den anzuklagen, der in seine Rolle geschlüpft ist.4 «‹Weh, ach o weh! Artus’ Würde muss zerbrechen an diesem Ungeheuerlichen (Artûss werdekeit enzwei sol brechen noch diz wunder)! Dass der, dem der höchste Ruhm der Tafelrunde gebührt hätte, nun vor Nantes erschlagen liegt. Sein Erbteil hat er gefordert, Sterben hat man ihm gegeben.›» Und sie endet ihre Klage mit den rätselhaften Worten: «‹dir was doch wol sô rôt dîn hâr, daz dîn bluot die bluomen clâr niht rœter dorfte machen. du swendest wîplich lachen.›» – Man hat diese schönen, aber dunklen Verse mit den unterschiedlichsten Übersetzungen aufzuhellen versucht. Etwa wörtlich könnte man lesen: «‹Dir war doch wohl so rot dein Haar, dass dein Blut die reinen Blumen nicht röter machen durfte. Du machst weibliches Lachen zunichte.›» Zweimal rot: man könnte das «rote Haar» hier als Tatendrang und Lebensfeuer verstehen, als blühendes Leben, zu dem der Tod, das die Blumen rötende Blut, im scharfen Kontrast und Gegensatz steht. Die Blumen in ihrer Reinheit und Schönheit werden durch das aus triebhafter Habgier vergossene Blut verdorben. Verständnislos, so scheint es, steht Ginover diesem scheinbar sinnlosen Schicksal gegenüber. Auffallend ist im Ausklang ihrer Klage der Verweis auf das Verschwinden des «weiblichen Lachens» angesichts des Toten. Ergänzen wir dieses Bild durch die lachende Kunneware, wird die Trauer in Hoffnung verwandelt und eine Brücke in die Zukunft geschlagen. Ein Wunder, tatsächlich, ist geschehen: die Verwandlung des Roten Ritters vom toten König von Kukumerland, der um seine Erbschaft stritt, in den tatendurstigen Jüngling Parzival, den Spross aus der Vereinigung der Grals- und Artussippe, der aus ureigenster innerer Kraft den Weg zum Gral gehen wird.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

Подняться наверх