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Blutsbande und Rittertum

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In seinem Abschiedsbrief an Belakane können wir auch Genaueres über Gachmurets Abstammung und die Herkunft seiner Familie erfahren. Dass er empfänglich ist für die sinnliche Ausstrahlung der Königin, liegt ihm gewissermaßen im Blut. Er trägt nämlich «Feenblut» in sich, worauf Wolfram auch an anderen Stellen hinweist. Ganz oben in der Ahnenreihe steht als Stammvater Mazadan, worin man mac adam, Adams Sohn vermuten kann. Dessen Gattin war die Fee Terdelaschoye, übersetzt etwa «Erde oder Land der Freude», was jedenfalls darauf hinweist, dass die «irdischen Freuden» ein wesentlicher Grundzug in der Genealogie der Familie darstellen. Auch der Name «Anschaue» könnte von Wolfram als derartiger Hinweis auf das Sinnliche gemeint sein, was er allerdings im Dunkeln lässt. Zugleich ist eine Fee aber auch etwas Überirdisches, indem sie den Willen der geistigen Welt widerspiegelt und den Menschen auf sein Schicksal verweist. Im Märchen treten Feen daher bei der Geburt und in schicksalhaften Momenten auf. Wir können hier auch einen Hinweis auf das sinnlich-übersinnliche Doppelwesen Gachmurets und seine seelische Zerrissenheit sehen, die er nie überwinden wird.

Das weltliche Rittertum mit seinen Minneregeln und Tugendidealen, wie sie in den Liedern und Erzählungen vom Artushof urbildlich lebten, hatte in der Gesellschaft des Mittelalters eine bedeutende erzieherische Funktion. Im Unterschied zum Mönchtum bestand diese gerade nicht in der Askese, sondern in der Bejahung der Sinnesfreuden, in der Verfeinerung und Veredelung der Sitten und der Formen des gesellschaftlichen Lebens. Dies beinhaltete auch, zumindest als Ideal, die Lösung aus überkommenen Blutsbindungen: Ritter war man nicht von Geburt, Ritter konnte man nur werden, indem man einen inneren und äußeren Bildungsgang beschritt. Allein, in den Untergründen der Seelen lebte und brodelte weiterhin eine brutale Wildheit, die in den ritterlichen Kampfspielen ihren Blutzoll forderte oder auch, wie im Falle Belakanes und Isenharts, in der rücksichtslosen Übertreibung von Minnediensten.

In die Kämpfe um Patelamunt sind Ritter aus vielen Teilen Europas verwickelt, vom hohen Norden bis zum spanischen Süden. Sie sind angereist, weil sie durch verwandtschaftliche Beziehungen mit den streitenden Parteien verbunden sind. Da es sich um einen Rachefeldzug für den gefallenen König Isenhart handelt, hat man den Eindruck, die Stadt werde von der Blutrache heimgesucht, und man erwartet ein schlimmes Gemetzel. Umso erstaunlicher ist dann, dass uns vielmehr ein Kräftemessen in der Form von Zweikämpfen dargestellt wird, und zwar nach den strengen Regeln der ritterlichen Tjoste: Wer Sicherheit bietet, kann mit Vertrauen und Wohlwollen rechnen. So werden durch den Einsatz des Ritters von Anschaue immer mehr Ritter entwaffnet, es gibt keine Toten mehr, ein durchbohrter Arm wird als schlimmste Verwundung beschrieben. «Gestern kam ich an, heute bin ich hier Herr geworden über das Land», sagt Gachmuret nach den Kämpfen im Gespräch mit seinem Oheim Kaylet, der zu den Besiegten gehört. «‹Mich hat die Königin mit der Hand gefangen, da wehrte ich mich mit Minne. So rieten mir die Sinne.›» Kaylet setzt hinzu: «‹Mir scheint, mit den Waffen deiner Liebenswürdigkeit hast du die beiden Heere bezwungen (ich wæn dir hât dîn süeziu wer betwungen beidenthalb diu her).›» Wir sehen also an der Form und am Ausgang der Belagerungskämpfe eine Zügelung der Kampfwut und eine Besänftigung des Rachedurstes, ein Ergebnis der ritterlichen Bildung. Mit veredelten Empfindungskräften kann Gachmuret die Dämonen der Kriegslust besänftigen.

In der Darstellung der Kriegsparteien wird uns ein Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen beschrieben, das sich über ganz Europa und bis in den Orient hinein erstreckt. Wir lernen hier eine Eigenart der Wolframschen Darstellung kennen, in der sich der Autor deutlich von der Erzählweise Chrétiens absetzt. «Der Parzival», so heißt es in einer Dissertation hierzu, «darf als der Höhepunkt einer Entwicklung der Genealogie in der Dichtung gelten. In keinem der untersuchten Werke ist der gesamte Aufbau und die innere Bindung so offensichtlich auf den Zusammenhang der Generationen und der Familie ausgerichtet wie in Wolframs vielschichtigem Roman.»1 Die Detailtreue in der Beschreibung genealogischer Zusammenhänge stellt hohe Anforderungen an das Gedächtnis des Lesers, und man wird kaum einen Überblick über das Ganze gewinnen, ohne auf eine Skizze der verschiedenen Stammbäume zurückzugreifen.

Wann immer im Handlungszusammenhang menschliche Begegnungen stattfinden, tauschen die Betreffenden ihre verwandtschaftliche Herkunft aus, oder diese wird dem Leser in irgendeiner Form mitgeteilt, wobei sie dann nicht selten in zahlreiche Verästelungen hinein verfolgt wird. Dabei handelt es sich keineswegs um bedeutungsloses Beiwerk, das parallel zur Handlung verläuft und auch außen vor gelassen werden könnte, sondern das Geschehen wird von diesen Zusammenhängen wesentlich mitbestimmt, und die Personen beziehen ihre Handlungsmotivationen großenteils aus diesen Beziehungen. Hierbei geht es oft um Fragen der Erbfolge und um Erbansprüche: Nicht nur sind die Widersacher Parzivals vorwiegend Ritter und Fürsten, die ihn seiner Erblande beraubt haben, auch die Ermordung des Roten Ritters, in dessen Rüstung Parzival dann schlüpft, ereignet sich in einer Situation, in der dieser seine Erbansprüche gegenüber dem Artushof geltend macht.

Indessen begnügt sich der Erzähler nicht mit der Nennung von Verwandtschaftsgraden. Auch in der Vergabe von Personennamen unterscheidet sich seine Erzählweise von der Chrétiens, bei dem selbst zentrale Figuren oft namenlos erscheinen, wie das «Fräulein unter der Eiche», «die Mutter» oder «der Gralskönig». Durch Wolframs Personalisierung entsteht nun ein stärkerer Kontrast zwischen der Zugehörigkeit zu einer Familie oder einem Geschlecht einerseits und der konkreten Individualität andererseits. Zudem bietet die persönliche Namensgebung noch andere Möglichkeiten, Sinnbezüge herzustellen. Zum einen wirkt eine namentlich genannte Figur konkreter, wirklichkeitsnäher, zum anderen bietet ein Name die Gelegenheit, Charakteristisches anklingen zu lassen. Ähnliches gilt auch für nichtpersonale Namen, beispielsweise für geographische Orte. Teils sind die Namen der äußeren gesellschaftlichen, geschichtlichen oder geographischen Wirklichkeit entnommen, teils sind sie eindeutig aus einem höheren Sinnzusammenhang abgeleitet. Dazwischen gibt es alle nur erdenklichen Übergänge, wobei der Sinn teils gar nicht oder nur entfernt zu erahnen, teils eindeutig erkennbar ist. Wolfram «spielt» mit diesen Namen im eigentlichen Sinne, hält uns in der Schwebe zwischen Wirklichkeit und Idee. Ähnlich ist es mit den Familienbeziehungen. Nimmt man die Darstellungen Wolframs wortwörtlich als naturgetreue Abbilder äußerer Verhältnisse, gerät man in eine Fülle von Ungereimtheiten und Unsinnigkeiten.

Untersucht man beispielsweise die Herkunftsbeschreibung, wie sie Gachmuret in seinem Abschiedsbrief darstellt2 – es ist die einzige zusammenhängende Genealogie im ganzen Epos, die anderen muss man selbst zusammensetzen –, dann ergeben sich bemerkenswerte Altersverhältnisse zwischen den Personen. Insbesondere die Vertreter des Artus- und des Anschaue-Geschlechts erscheinen gegenüber denen der Gralsströmung völlig überaltert. Gawan ist fast eine Generation älter als sein Freund Parzival, und Ither ist ein besonderes Rätsel: Der Beschreibung Trevrizents nach müsste er eigentlich als «Neffe» Gachmurets3 der Generation Parzivals angehören, zugleich könnte er aber auch als Geliebter oder Gatte Lammires, der Schwester Gachmurets, zur Generation von Artus gehören – woraus sich ja auch seine Erbansprüche ableiten –, und dem Stammbaum nach könnte er zum Zeitpunkt seiner Ermordung durchaus ein Greis gewesen sein. Ob das nun beabsichtigt ist, wie neuere Untersuchungen nahelegen,4 oder ob es sich um versehentliche Unklarheiten in dem ansonsten mit akribischer Genauigkeit ausgearbeiteten Verwandtschaftssystem Wolframs handelt, sei dahingestellt. In keinem Fall haben wir es mit einem genauen Abbild äußerer Verhältnisse zu tun. Das verwandtschaftliche Beziehungsgeflecht sollte deshalb, ähnlich wie die Namensgebungen, nicht im naiv-faktischen Sinne aufgefasst werden, sondern in erster Linie als Mittel der künstlerischen Aussage. Gachmuret löst sich zwar – vorübergehend – von der Familienbindung und sucht den Dienst unter der «höchsten Hand», doch auch im fernen Orient kreuzen immer wieder Verwandte seinen Weg. Die ausführliche Darlegung väterlicher Abstammung in seinem Abschiedsbrief an Belakane zeigt, dass er in seinem inneren Selbstverständnis weiterhin eng in das Geflecht der Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden ist. Deutlicher kann man den Zustand der inneren Zerrissenheit dieses Menschen nicht zum Ausdruck bringen als mit der Unterbreitung seines Stammbaums in einem Abschiedsbrief, in dem er sich von eben der Ehefrau lossagt, die seinen Stammhalter im Leibe trägt.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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