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Soltane – Quarantäne und Entwicklungsraum

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Parzivals Geburt wird von heftigen Erschütterungen in der Seele der Mutter begleitet. Bisher haben wir Herzeloyde als eine Frau kennengelernt, die sich zu behaupten wusste, die ihre Schönheit und ihre gesellschaftliche Stellung klug ins Feld zu führen verstand, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen ging. Geschickt wusste sie die Minnegesetze zu nutzen und Gachmuret durch einen Richtspruch zu gewinnen, wodurch ihr ein geradezu triumphales Lebensglück beschert wurde. «In Reichtum und Jugend lebte diese Frau und in Freuden über alle Maßen: sie hatte das Ziel aller Wünsche erreicht (rîcheit bî jugent phlac daz wîp, und freuden mêre dan ze vil: si was gar ob dem wunsches zil).» Erst mit der Geburt Parzivals beginnen wir zu ahnen, warum Wolfram der «Mutter», wie sie bei Chrétien ganz unpersönlich genannt wird, den so vielsagenden Namen gegeben hat, der an das kommende «herzeleit» anklingt. In vielfacher Hinsicht weist die Persönlichkeit der Namensträgerin auf zukünftiges Schicksal.

In einer gewaltigen Vision, die zugleich ein entsetzlicher Albtraum ist, kündigt sich diese Zukunft an: «Eines Mittags lag die Frau in ängstlichem Schlummer, da kam ihr ein furchtbarer Schreck. Es deuchte sie, dass ein Sternenblitz sie in die Lüfte entführte, wo sie von feurigen Donnerstrahlen mit Wucht getroffen wurde. Die flogen alle auf einmal auf sie zu: da zischte und knisterte es von Funken an ihren Zöpfen entlang. Krachend toste der Donner und mit ihm ergossen sich brennende Tränen. Als sie danach in ihren Leib und ins Leben zurückkam (ir lîp si dâ nâch wider vant), zog ein Griff (oder Greif)1 an ihrer rechten Hand (dô zuct ein grif ir zeswen hant). Damit verwandelte sich ihr Traum. Es deuchte sie ganz wunderlich, wie sie eines Lindwurms (eins wurmes) Mutter wäre, der darauf ihren Leib zerriss und wie ein Drache (ein trache) an ihren Brüsten söge, und dass er plötzlich von ihr flöge, sodass sie ihn niemals wiedersah. Das Herz brach ihr aus dem Leibe … Ihr Unglück wird lang und breit, ihr naht künftiges Herzeleid (ir schade wirt lanc unde breit: ir nâhent komendiu herzenleit).»

Drache, Wurm, vielleicht auch Greif, sind Wesen einer Zwischenwelt, die erscheint, als Herzeloyde aus der Entrücktheit ihrer kosmischen Vision in den Leib zurückkehrt. Es sind Schwellenwesen, an deren Überwindung der Mensch zur geistigen Erfahrung heranreift. Sie tauchen deshalb oft als Wächter und Hüter des «Schatzes» auf. Das Erlebnis weist zum einen auf die drohende Schicksalsprüfung, die Herzeloyde bevorsteht – die Nachricht vom Tode ihres Gatten wird ihr unmittelbar danach überbracht –, zum anderen auf den besonderen Schicksalsweg des Kindes, das sie unterm Herzen trägt. Eine Individualität kündigt sich an, deren Größe zunächst in der Gestalt des Drachen erscheint und die das mütterliche Leben – und nicht nur dieses – zerstören wird; eine Individualität, deren Schicksal von der Auseinandersetzung mit der eigenen Drachennatur geprägt und deren Lebensmotiv die daraus erwachsende Selbstüberwindung sein wird.

Die folgenden Szenen im Zusammenhang mit der Geburt Parzivals sind von rührender Innigkeit. Bei der Nachricht vom Tode Gachmurets bricht Herzeloyde zusammen und wäre beinahe gestorben, wäre nicht ein erfahrener alter Mann zur Stelle gewesen, um sie ins Leben zurückzuholen. Sicher ist es aber auch die vorangegangene Vision, in der sie ihre Mutterschaft als geistigen Auftrag erfahren hat, woraus sie schließlich die Kraft der Lebensbejahung zieht. So ist dieses neugewonnene Leben allein dem Kind gewidmet. Von der Todesschwelle zurückgekehrt, wendet sie sich deshalb ganz dem Kind zu: «Ihren Leib und ihr Kind darin umfing sie mit Armen und Händen. Sie sprach: ‹Wolle Gott mir edle Frucht Gachmurets senden! Das ist meines Herzens Bitte …› Die Frau sah ihren Wunsch erfüllt daran, dass die Kindesspeise ihr Herz bedeckte, die Milch in ihren Brüstlein: die Königin drückte sie heraus und sprach: ‹Du bist aus Treue (von triwen) gekommen! Hätte ich die Taufe noch nicht empfangen, so wollte ich von Dir getauft werden!›» «Tränen» und «Milch» fließen zusammen, veranschaulichen die Trauer über das Vergangene und die Sorge um das Kommende. Die Gegenwart aber wird überstrahlt von der Ankunft des neuen Erdenwesens. Der Verweis auf die «Treue» und die «Taufe» verdeutlicht die Überzeugung vom geistigen Ursprung dieser «Ankunft». Der Bezug zur Geburt Jesu erscheint hier erst angedeutet, wird dann aber offenbar, als das Kind geboren ist und die Mutter sich entschließt, gegen die damaligen Gepflogenheiten ihm selbst Amme zu sein. «Frau Herzeloyde sprach mit Überlegung (mit sinne): ‹Die höchste Königin bot einst dem Jesusknaben ihre Brust, der dann als Mensch für uns den schrecklichen Tod am Kreuz erlitt und uns so seine Treue bewies.›»

Die mütterliche Hinwendung zum Kind bedeutet zugleich auch die Bejahung des eigenen Leibes. Es ist das Wesen der Mutterliebe, dass sie sich in der Erweiterung der eigenen Leiblichkeit darlebt. Aus der Distanz betrachtet erscheint sie deshalb untrennbar verknüpft mit der Selbstliebe, dem Egoismus. Anders als die idealistische Liebe oder die Freundesliebe zu einem anderen, die auf den ersten Blick selbstloser, weil der freien Entscheidung entsprungen zu sein scheinen, wurzelt sie in den natürlichen Instinkten des Menschen. Aber gerade darin liegt auch ihre lebenspendende Kraft, ihre Wirklichkeit begründet. Die Verbindlichkeit der Freundesliebe muss sich in der Realität erweisen, Mutterliebe geht – wenn auch zunächst instinktiv – von der Realität aus.

Was uns in Herzeloyde vor Augen tritt, ist nicht nur das Bild einer werdenden Mutter, sondern es ist – darauf wurde im vorigen Kapitel schon hingewiesen – das Urbild des Mütterlichen überhaupt. Die Gebärde des Umfangens, des Schützens, des Hüllens können wir überall in ihrem Handeln, in ihren Lebensäußerungen entdecken. Sie ist, und das ist entscheidend für ihre moralische Qualität, zugleich verknüpft mit der Gebärde des liebevollen Gebens. Wolfram wertet die Entscheidung Herzeloydes für die Waldeinsamkeit als Akt der Selbstlosigkeit, nicht zuletzt deshalb, weil sie in der selbst gewählten Beschränkung auch ihrem gewohnten, prachtvollen gesellschaftlichen Leben entsagen muss. «So wurden ihr stets neue Gaben zuteil», heißt es am Beginn des dritten Buches, «vom Himmel durch die unendliche Kraft des Schenkens.»2 So gesehen ist Parzivals Kindheit in der Soltane nicht der Versuch einer ängstlichen Frau, ihr Kind dem gesellschaftlichen Leben zu entziehen, sondern eine konsequente Ausweitung gesteigerter Mutterliebe über die gesamte Kindheit hin.

Behandelt man dies im Unterricht, wird man zunächst auf sehr viel Skepsis und Kritik an der «Einseitigkeit» Herzeloydes stoßen. Gelingt es aber, zu sachlichen, auf Erfahrung beruhenden Gesprächen über das «Mütterliche» und das «Väterliche» in der Erziehung zu kommen, werden sich diese seelisch-geistige Qualitäten von ihrer einseitigen Fixierung auf gesellschaftliche Rollenverteilung lösen, sie werden als Urgebärden erlebt, die sich unabhängig von einer individuellen Zugehörigkeit zum jeweiligen Geschlecht verstehen lassen. Hier besteht wahrlich Gesprächsbedarf, sind wir doch heute Zeugen einer dramatischen Entwicklung, in der den Kindern die mütterlichen Schutzräume für ihre gesunde Entwicklung vor allem durch den Zugriff einer omnipotenten, allgegenwärtigen Technik entzogen werden und jeder Versuch, sich dem zu widersetzen, mit gesellschaftlicher Ächtung rechnen muss.

«Man bewahrte ihn vor allem ritterlichen Leben, ehe er zu Verstand kam (man barg in vor ritterschaft, ê er kœme an sîner witze kraft).»3 – Vorerst erscheint dies noch als Beraubung, als Vorenthaltung von Entwicklungsmöglichkeiten und «Bildungschancen» – für die pädagogisch Ambitionierten unserer Zeit ein Verbrechen! So urteilen auch die Schüler anfänglich – bis im weiteren Verlauf der biographischen Entwicklung des Helden allmählich erkennbar wird, welch weitsichtiger Kunstgriff hier angewendet wird. In der alltäglichen Wirklichkeit werden «Alleinerziehende» immer bemüht sein, das jeweils andere Prinzip mitzurealisieren. Von Parzival hingegen wird alles ferngehalten, was irgendwie die väterliche Lebenssphäre der damaligen Welt repräsentieren könnte: Ritterleben, Zeitbildung, gesellschaftlicher und beruflicher Aufstieg … All dies wird ihm nicht allmählich in den Gewohnheitsleib eingeprägt, sondern erst später im Schnellverfahren eingetrichtert – mit schwerwiegenden Folgen. Aber gerade der innere Konflikt, der dadurch in der Seele Parzivals entsteht, wird ihm einmal die Möglichkeit geben, über seine Zeit hinauszuwachsen. –

«Die Fürstin zog es mit ihrem großen Herzenskummer bald aus ihrem Lande in einen Wald, auf eine einsame Waldlichtung in der Soltane … Mit sich nahm sie dorthin des edlen Gachmurets Kind, um es vor der Welt in Sicherheit zu bringen … Ehe er zu Verstand kam, sammelte sie das Dienstvolk um sich, Männer wie Frauen, und verbot allen bei ihrem Leben, dass sie jemals etwas von Rittern verlauten lassen.» So wächst das Kind in der Waldeinsamkeit auf. Sorgen kennt es nicht, wäre da nicht der Vogelgesang, dessen «Süße ihm ins Herz drang». Weinend läuft es zur Mutter, ohne sich diese ersten zarten Empfindungen einer Sehnsucht erklären zu können. Schon bald kann die Mutter nicht verhindern, dass sich in dem Jungen doch etwas regt, das aus dem väterlichen Leben herüberwirkt: der Jagdinstinkt. Der Knabe schnitzt sich Pfeil und Bogen und schießt – ausgerechnet die Vögel, deren Gesang er so liebt, sodass er wiederum weinen muss, diesmal aus Trauer, weil sie nun so tot und stumm vor ihm liegen. Wir erkennen in den ersten Regungen des kindlichen Gemüts das Eindringen von Kräften, die inneren Unfrieden stiften, innere Widersprüche, die über die gegebene Lebenssituation hinausweisen. Und bei dem Versuch der Mutter, diese Lücke in der schützenden Hülle zu schließen, brechen die ersten Fragen auf. Denn als sie die Vögel verfolgen lässt, wundert sich der Knabe: «‹Was wirft man den Vögeln vor?›» Und als dann die Mutter ihre Anordnung bereut und zurücknimmt, entschlüpft ihr das verhängnisvolle Wort: «‹Warum breche ich dessen Gebot, der doch ist der höchste Gott?›» – «‹ôwê muoter, waz ist got?›»4

Man kann in dem «ôwê», vergleichbar dem neuhochdeutschen Ausruf «au», den Anklang des Schmerzes hören, der das Erstaunen begleitet, wenn die gezielte Frage die schützende Hülle der kindlichen Naivität verletzt. Doch die Mutter selbst hat die Frage hervorgelockt, und was sie nun als Antwort gibt, kann das Erstaunen nur noch steigern: «‹Sohn, das sag ich dir im Ernste: Noch lichter als der Tag ist er, der ein Antlitz annahm wie der Menschen Antlitz. Sohn, behalte dieses Wissen, und flehe ihn an in deiner Not: seine Treue bietet der Welt immer Hilfe an. Ebenso heißt einer der Hölle Herr: der ist schwarz, die Untreue lässt nicht von ihm. Wende ab von ihm deine Gedanken, und auch von des Zweifels Schwanken.› – Seine Mutter lehrte ihn das Finstere und das Lichte unterscheiden (sîn muoter underschiet im gar daz vinster und daz lieht gevar).» Damit sät sie zwar den ersten zwîvel in sein Gemüt, verbindet dies aber zugleich mit der Aufforderung zur stæte («‹und och von zwîvels wanke›»). Was wir im Prolog als zum Wesen des Menschen gehörig erkannt haben, wird hier in die noch unbewussten Willensgründe der Kinderseele gelegt.

Diese «Belehrung» ist in der Forschung viel diskutiert worden, nicht immer mit dem nötigen Einfühlungsvermögen in die Seele des Kindes. «Man sollte erwarten, dass von Gott als dem Schöpfer und Erhalter die Rede wäre, von dem ‹gebot›, gegen das sich Herzeloyde vergangen hat, wie sie selber sagt. Stattdessen folgt eine Beschreibung vom Wesen Gottes, die darauf gar keinen Bezug nimmt.»5 Der Autor kommt immerhin zu der bemerkenswerten Einsicht: «Die Belehrung, die gar nicht wirklich auf Parzivals Frage eingeht, rechnet bereits mit einem späteren Leben in der Ritterwelt, ja sie weist den Knaben schon auf dieses Leben hin und weckt seinen Trieb, Soltane zu verlassen.» Die Mutter pflanzt ein erstes Verständnis für Gut und Böse in die kindliche Seele, mit dem einfachsten, elementarsten Bild von Licht und Finsternis. Hier finden wir nicht nur den Urgrund seiner Gottesvorstellung, sondern zugleich den Ausgangspunkt seines kommenden Ritterlebens.

Als nämlich eines Tages drei fremde Ritter in ihren hell glänzenden Rüstungen durch Soltane reiten, fällt ihm sofort die Belehrung der Mutter ein. «Der Knabe wähnte allen Ernstes, jeder von ihnen wäre ein Gott», und er fällt vor ihnen auf die Knie. Als dann ein vierter folgt, da entwickelt sich mit ihm ein wunderliches Gespräch: «‹O hilf mir, hilfreicher Gott!› Vielmals fiel er zum Gebet nieder, der Fils du Roi Gachmuret. Der Fürst sagte: ‹Ich bin nicht Gott, aber ich folge seinem Gebote gern. Du kannst hier vier Ritter vor dir sehn, wenn du recht hersehen könntest!› Der Knabe fragte sogleich: ‹Du sagst ‚Ritter‘: was ist das? Hast du nicht göttliche Kraft, so sage mir, wer Ritterschaft gibt!› ‹Das tut der König Artus. Junkerlein, wenn Ihr dem ins Haus kommt, der gibt Euch den Ritternamen, dass Ihr Euch dessen nie zu schämen braucht! Ihr mögt wohl von ritterlicher Herkunft sein.›»6

So ist es gerade das wortwörtliche Befolgen des mütterlichen Rates, was den Knaben auf die Spur des Rittertums bringt. Die Belehrung der Mutter scheint somit in tiefem Widerspruch mit ihren eigenen Willensbestrebungen zu stehen, die ja nichts unversucht lassen, dem Knaben das Rittertum vorzuenthalten. Das zeigt sich auch in dem nun folgenden Versuch, Parzival so auszustatten, dass er bald wieder nach Hause laufen möge: Mit Narrenkleidern auf einem alten Klepper soll er von der gesellschaftlichen Welt ferngehalten werden. Aber dazu passen nun wiederum die Ratschläge, die sie ihm mitgibt, überhaupt nicht. Warnt sie doch ihren Sohn eindringlich vor dem Erzfeind der Familie, Lähelin, der ihr zwei Länder entrissen habe und Tod und Verderben über ihre Untertanen gebracht habe. Man mag dies zwar als berechtigte Schutz- und Vorsichtsmaßnahme vor der drohenden Gefahr verstehen, doch kann dem auch entgegengehalten werden, dass die Mutter hiermit ihr tatendurstiges Kind, das sie doch vor Schaden bewahren will, auf den Erzfeind der Familie ansetzt. Der Knabe reagiert auch sofort entsprechend naiv und ungestüm, indem er gelobt, alles mit seinem Gabilot zu rächen. Es wird sich später zeigen, dass der innere Drang zum Kampf in Parzival immer wieder von der Vorstellung genährt wird, es handle sich beim Gegner um Lähelin.

In den weiteren, bildhaften Handlungsanweisungen, die Herzeloyde dem Knaben mit auf den Weg gibt, kommen die inneren Widersprüche ihrer Erziehungsmaßnahmen noch schicksalshafter zum Tragen. Denn hier handelt es sich um Seelenbilder, die Parzival auf seinem Lebensweg erst noch in ihrem Sinn durchschauen müsste, um sie mit der konkreten Wirklichkeit verbinden und in eigenes moralisches Handeln umsetzen zu können. Indem er die Bilder unverstanden auf die individuellen Situationen seiner Lebenswirklichkeit überträgt, werden sie zum genauen Gegenteil dessen, was die sorgenvolle Mutter mit ihnen beabsichtigt hat. Schauen wir uns die drei «Ratschläge» im Einzelnen an.

«‹an ungebanten strâzen

soltu tunkel fürte lâzen:

die sîhte und lûter sîn,

dâ solte al balde rîten în.

du solt dich site nieten,

der werlde grüezen bieten.

Op dich ein grâ wîse man

zuht wil lêrn als er wol kan,

dem soltu gerne volgen,

und wis im niht erbolgen.

sun, lâ dir bevolhen sîn,

swâ du guotes wîbes vingerlîn

mügest erwerben unt ir gruoz,

daz nim: ez tuot dir kumbers buoz.

du solt zir kusse gâhen

und ir lîp vast umbevâhen:

daz gît gelücke und hôhen muot,

op si kiusche ist unde guot.›»7

«‹Auf ungebahnten Wegen musst du dunkle Furten meiden, aber in die seichten und lauteren, hellen8 Furten kannst du hurtig hineinreiten.›» – Der erste Rat der Mutter greift das Bild der religiösen Unterweisung wieder auf, die Vorstellung von Licht und Finsternis. Hier wird an die Fähigkeit zur moralischen Entscheidung appelliert, der Weg des Guten soll beschritten, der des Bösen gemieden werden – es handelt sich also um eine willensbezogene Handlungsanweisung. Was geschieht nun, als der Knabe sich gleich nach dem Abschied wortwörtlich an diesen Rat hält? «Er kam an einen Bach geritten, den ein Hahn wohl durchschritten hätte. Obwohl Blumen und Gras da standen – weil das Wasser so dunkel war, vermied der Knabe den Übergang. Den ganzen Tag ritt er neben dem Bach her, wie es seinem Verstande richtig schien.» – Der Rat führt ihn von der Mutter weg und hinein in die weite Welt!

Schauen wir uns, der Reihenfolge der Ereignisse nach, die anderen Ratschläge an. «‹Sohn, dies lass dir befohlen sein: Wo du eines guten Weibes Ringlein mögest erwerben und ihren Gruß, da greif zu; es macht dir allen Kummer wieder gut. Du sollst sie eifrig küssen und sie fest umfangen. Das bringt dir Glück und hohen Mut, wenn sie tugendsam ist und gut.›» – Diese – dritte – Belehrung hat offenbar besonders die Bildung des Gefühls- und Empfindungslebens im Sinn. Seine «Umsetzung» erfolgt am nächsten Tag, nachdem der Knabe endlich eine «helle Furt» gefunden und überquert hat, in der Begegnung mit der edlen Jeschute. Hier kommt es zu jener berühmten burlesken Szene, in der Parzival über die ahnungslose Fürstin herfällt und ihr in seiner tölpelhaften Naivität Gewalt antut. «Da drückte er die Herzogin an sich und nahm ihr dabei einen Ring vom Finger. An ihrem Hemde sah er eine Spange: die riss er ungestüm los.» Nachdem er sich tüchtig vollgegessen hat, zieht er zufrieden von dannen: «Der Knabe war seines Raubes froh.» Jeschute aber, die nun von ihrem Gatten wegen ihrer vermeintlichen Untreue grausam bestraft wird, hat er damit in großes Unglück gestürzt. Parzival gerät damit nicht nur in tiefste Schuldverstrickung, die geraubte Spange dient ihm später sogar dazu, den selbstsüchtigen Fischer zu bewegen, ihn zum Artushof zu führen – vor dessen Toren er dann Ither, den Roten Ritter, ermordet. Hätte die Mutter das geahnt!

«‹Du sollst dich um Anstand bemühen und der Welt Grüße bieten. Wenn ein grauer, weiser Mann dir Benehmen beibringen will (zuht will lêren), was er wohl kann, so sollst du ihm gerne folgen, und sei gegen ihn nicht widerspenstig!›» – Dieser Ratschlag bezieht sich offenbar auf Bildung und Erziehung (zuht) im gedanklichen Sinne, auf Wissen, Kenntnis und Verständnis – und führt so geradewegs in die Welt der Ritterregeln und Minnegesetze. Denn seine Anwendung erfolgt unmittelbar nach dem Besuch am Artushof, als Parzival, eingezwängt in die Rüstung des ermordeten Ither über seiner Narrenkleidung, dem alten Fürsten Gurnemanz begegnet und sich bei ihm in die Ritterlehre begibt: «‹Mir hat meine Mutter geboten, ich solle von einem, der graue Locken hat, Lehre annehmen. Demnach will ich Euch dienen, wie es mir meine Mutter gesagt hat.›»9

Ein größerer Widerspruch ist kaum denkbar. Obwohl Herzeloyde alles daransetzt, Parzival von der ritterlichen Gesellschaft fernzuhalten, führt die Befolgung ihrer Ratschläge – Wollen, Fühlen und Denken ihres geliebten Kindes betreffend – geradewegs in die Ritterwelt. Hätte man gegen ihren Willen versucht, dem Kind den Weg zum Rittertum zu eröffnen, hätte man es nicht geschickter und zielgerichteter machen können als sie selbst. Wir hätten es leichter, wenn wir den Weg Parzivals in Schuld und Verstrickung aus dem Ungehorsam oder dem ungenauen Befolgen der mütterlichen Ratschläge erklären könnten, wie dies bei Chrétien de Troyes möglich ist – der im Übrigen die Belehrung weniger bildhaft und teilweise mit anderen Inhalten, vor allem aber viel ausführlicher gestaltet. Wolfram hat sich hier ausnahmsweise einmal kürzer gefasst; offenbar kam es ihm gerade darauf an, durch die knappe Metaphorik die inneren Widersprüche stärker hervortreten zu lassen. Warum?

Wer das eigene Leben in den Blick nimmt, wird bemerken, dass es oft ganz anders verlaufen ist, als man es ursprünglich geplant hat. Begegnungen mit anderen Menschen haben vielleicht eine Auswirkung auf unseren Lebensweg, die wir anfangs nicht erwartet hätten, ursprüngliche Absichten nehmen eine ganz andere Entwicklung als zunächst gewollt, unerwartete Wendungen verändern unser Leben von Grund auf … Einen Blick für solche Gestaltungskräfte unseres Lebens und für deren Sinn können wir uns aneignen, wenn wir Rückschau halten. Dem erfahrenen Betrachter werden sich sinnvolle Figuren und Fügungen zeigen, die ihm im Leben nicht bewusst waren, die ihm aber jetzt erscheinen wie Spuren einer geistigen Führung, die in allem Tun die Hand sanft berührt, manchmal sogar ergriffen hat.

Die Soltane hat in der Weise ihren Sinn erfüllt, als sie dem Kind in den frühen Lebensjahren in besonderem Maße die mütterlichen Seelenkräfte zur Verfügung gestellt hat und ihm eine außergewöhnliche Gemütsbildung hat zuteilwerden lassen. Erinnern wir uns an das Erlebnis Herzeloydes, als etwas ihre Hand berührte und der Traum eine neue Wendung bekam. Dies war die Zeit, in der das Schicksal sich wendete, als die Dame von Welt ganz und gar Mutter wurde und als sie von der Todesschwelle zurückkehrte, um sich völlig der Entwicklung eines sich inkarnierenden Wesens hinzugeben. Dies ist aber auch der Augenblick, wo sie ihre eigene Bestimmung erkennt und ihren Namen versteht. Von nun an ist es nicht mehr allein ihre vordergründige Persönlichkeit, die handelt, sondern diese wird Persona im eigentlichen Sinne: Ein höherer Sinn klingt hindurch, ein höherer Wille, der den Menschen – Parzival – zu dem Ort seines Schicksals führt, den er in seinem tiefsten Innern sucht. Deshalb korrigiert sie auch ihren Versuch, die Vögel zum Schweigen zu bringen. Sie erkennt darin die bloße Ängstlichkeit ihrer persönlichen Seele im Widerspruch zur göttlichen Schicksalsführung.

Ein Bewusstsein von dieser «höchsten Hand» ist für jede verantwortliche Erziehung von allergrößter Bedeutung. Nicht allein das, was sich «der Pädagoge» in seinem spekulativen Sachverstand ausdenkt, ist oftmals für das Leben ausschlaggebend, sondern was durch sein Tun und Sagen hindurch an geistigen Schicksalskräften wirken will. Dem tieferen Verständnis erschließt sich die geistige Gestalt «der Mutter» somit als Wesensgrund der Erziehung schlechthin. Es ist deshalb durchaus konsequent und die Tatsache verliert so ihren Schrecken, dass Herzeloyde in dem Augenblick stirbt, als ihr Kind den erweiterten Schutzraum ihrer Mutterschaft verlässt. Von nun an ist es ihre rein geistige Führung, die Parzival weiterhin begleitet, eben nicht nur als Erinnerung, sondern als wirkende geistige Kraft in seinem Herzen.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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