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Herzeloyde – die Durchlichtung des Gemüts

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Über ein Jahr irrt Gachmuret auf hoher See umher, ziellos und von elementarischer Gewalt getrieben – «die snellen winde im tâten wê»13 –, bis das Meer ihn schließlich in einen Hafen trägt («daz mer in truoc in eine habe»), den Hafen von Sevilla. Er weiß eigentlich nicht so recht wohin, so beschließt er, seinen Vetter Kaylet zu besuchen. Der ist aber auf Ritterfahrt, und da Gachmuret kein anderes Ziel hat, folgt er dessen Spur. So kommt er nach Kanvoleis im Land Waleis, wo Kaylet an einem großen Turnier teilnimmt, das die verwitwete und jungfräuliche Königin des Landes hat ausrufen lassen. Dem Sieger hat sie ihre zwei Länder und sich selbst als Preis ausgesetzt («si was ein maget, niht ein wîp, und bôt zwei lant unde ir lîp swer dâ den prîs bezalte»).14 Mit großem Prunk und lautem Getöse, mit Musikanten und großem Gefolge reitet Gachmuret in die Stadt ein; die Ähnlichkeit mit seiner Ankunft in Patelamunt könnte nicht auffallender sein. Aber es deuten sich auch schon Unterschiede an: Die Königin wird nicht bedrängt, ihr droht kein Verderben, sie hat die Verhältnisse selbst arrangiert und ist Herrin der Lage. Schon der erste Blickkontakt mit Gachmuret spricht Bände. Als der nämlich in seinem grünen Samtmantel, ein Bein lässig hochgelegt, von dem «lichten Schein» der Königin getroffen wird, da durchzuckt es sein Bein, und – «ûf rihte sich der degen wert» – er richtet sich auf wie ein Falke. In diesem Moment erhöhter Wachheit wird ihm blitzartig klar, dass er hier am rechten Ort ist («diu herberge dûht in guot»). Von der Königin geht etwas Erweckendes aus, eine lichte Klarheit, die sich von der sinnlich betörenden Magie Belakanes scharf unterscheidet, wenngleich beide bei oberflächlicher Betrachtung in gleicher Weise «attraktiv» zu sein scheinen.

Die Turnierkämpfer haben zwei Parteien gebildet. Die Königin selbst hat bestimmt, dass die eine Partei – mit Gachmuret und seinem Vetter Kaylet – in der Stadt wohnen darf, die anderen müssen draußen lagern. Viele große Namen aus der Verwandtschaft werden genannt, die später noch eine bedeutende Rolle spielen werden, wie Gurnemanz oder Gawan, der allerdings für den Turnierkampf noch etwas zu jung ist. Im gegnerischen Lager sind die Erzfeinde der Artusritterschaft vertreten, wie Lähelin, der Parzival später die Erblande entreißen wird. Aus einem Turnier wird hier ein verbissener Kampf zwischen den Sippen. Der Vetter Kaylet erklärt Gachmuret die Verhältnisse: «‹Die stehen hier mit großer Wut gegen mich. Aber nun kann ich dir sicher vertrauen. Gedenke deiner Verwandtschaft und hab auf mich acht in rechter Liebe (gedenke an die sippe dîn. durch rechte liebe warte mîn).›» Gachmuret kämpft also im Auftrag der Sippe.

Im «Vesperspiel» am Vorabend erhitzen sich die Gemüter zu solcher Wut, dass die Dinge außer Kontrolle geraten und das eigentliche Turnier nicht mehr stattfinden kann. Gachmuret hat zwar die innere Partei zum Sieg geführt, aber der umso stärkere Hass Lähelins und mancher anderen ist ihm gewiss. Zu gegenseitigem Verständnis und zu nachhaltigem Frieden führen solche Kämpfe nicht, auch wenn sie nur als «Spiel» deklariert werden. Wir sehen, wie unter den ritterlichen Formen, den strengen Regeln des Ritterkampfes, unverwandelte Gefühls- und Empfindungskräfte leben, ungezügelte Leidenschaften, die immer wieder die Regie übernehmen.

In Kanvoleis laufen Gachmurets Schicksalsfäden zusammen, und sein bisheriges Leben kommt ihm zum Bewusstsein. Überraschend meldet sich die verwitwete Königin von Frankreich, eine Jugendliebe, für die er einmal Minnedienste geleistet hat, und bittet um seine Hand. Aber die Sehnsucht nach seiner Gattin Belakane überkommt ihn, und das Gewissen plagt ihn. Da ereilt ihn, unmittelbar nach seinem Triumph über Lähelin, ein Schicksalsschlag: Er erfährt, dass der Bruder Galoes in einer Tjoste gefallen ist. Von Kaylet hört er dann auch noch, dass die Mutter gestorben ist – aus Trauer über den Tod des Gatten und des Sohnes, aber auch über das Fernbleiben des Jüngsten («‹unt dô si dîn bî ir niht sach, der tôt och ir daz herze brach›»)15; auch hier sehen wir also das Parzival-Geschehen vorgebildet. Mitten im Triumph über die Feinde im Namen der Sippe wird Gachmuret klar, dass die Familie praktisch ausgelöscht ist – sehen wir von der Schwester Lammire ab, der Geliebten Ithers, der später von Parzival getötet wird. Welch ein Widersinn, welch ein absurder Teufelskreis aus Mord und Totschlag! Gachmuret wirft seinen Anker weg, das Zeichen seiner Ungebundenheit. Nun wird uns eine andere Seite seines Wesens gezeigt: In tiefer Gemütsbewegung verliert er völlig die Fassung, sodass ihn sogar einer der besiegten Ritter, König Hardiz, höhnisch ermahnt, er solle sein Schicksal tragen wie ein Mann. Aber «sein Leid war allzu groß, ein Strom von Tränen floss von seinen Augen». In dieser Situation nun ist es die Königin Herzeloyde, die ihn an die Hand nimmt – allerdings in ganz anderer Weise, als Belakane es tat.

Schon bevor die Kämpfe zu Ende sind, entscheidet die Königin, dass «Gachmurets Tat den höchsten Preis erworben hat». So macht sie sich selbst auf den Weg zu dessen Zelt, um den fremden Ritter zu sehen. Gachmuret sitzt auf taufrischen grünen Binsen, die man dünn über die Teppiche gestreut hat. «Seid ihr hier Wirt, wo ich euch fand, so bin ich Wirtin im ganzen Land.» Nach dieser selbstbewussten Begrüßung setzen sich beide so nahe zusammen, «dass sie ihn ergreifen und nahe zu sich herüberziehen kann (daz sin begreif und zôch in widr anderhalp vast an ir lîp)». Wolfram macht aber schnell noch einmal deutlich: «si was ein magt und niht ein wîp». Während Gachmuret von einer Vielzahl von Kerzen taghell beleuchtet wird, geht Licht auch von der Königin selbst aus: «vrou Herzeloyde gap den schîn, wærn erloschen gar die kerzen sîn, dâ wær doch lieht von ir genuoc». Zwar fühlen beide sich liebevoll zueinander hingezogen, aber die Situation ist nicht von einer erotischen Stimmung geprägt. Eher ist es das verstandesklare, entschlossene Auftreten Herzeloydes, mit dem sie Gachmuret «ergreift» und wodurch der weitere Fortgang bestimmt wird. Als Gachmuret sich aus der Trauer nicht lösen kann, übernimmt sie allein die Initiative.

Nachdem endgültig deutlich geworden ist, dass der Kampf mit Gachmurets Hilfe für die innere Partei gewonnen wurde, meldet sich Herzeloyde energisch zu Wort. «‹Was meine Rechte an Euch sind, das sollt ihr mir lassen.›» Erst als Zweites fügt sie hinzu: «‹Außerdem erbittet es meine Demut als Gnade.›» («‹swaz mînes rehtes an iu sî, dâ sult ir mich lâzen bî; dar zuo mîn dienst genâden gert.›») Als daraufhin die Gesandten der französischen Königin mit betörenden Argumenten für deren Minne werben – einschließlich Beaflurs aus dem Geschlecht der Feen –, besteht Herzeloyde auf ihrem Recht und kündigt einen gerichtlichen Schiedsspruch an. Ohne sich davon beirren zu lassen, dass Gachmuret in der Trauer um seine Verwandten und der Sehnsucht nach Belakane versinkt, fordert sie auch am nächsten Tag ihr Recht. «‹Ihr sollt die Mohrin um meiner Minne willen lassen. Der Segen der Taufe hat bessere Kraft.›» Auch die verlockenden Angebote der französischen Gesandten schrecken sie nicht: «‹Soll mir der Franzosen Königin im Wege sein? Ihre Boten sprachen süße Worte …›» Die Ansprüche der Königin Amphlise lässt sie ebenso wenig gelten wie die unglaubwürdig erscheinende Berufung Gachmurets auf seine Ehefrau. So fordert sie ihn auf, andere Rechtsmittel gegen sie vorzubringen: «‹Sagt, womit wollt ihr euch wehren (sagt an, wâ mite welt ir iuch wern)?›»16 Nun beginnt eine spitzfindige Argumentation um die Frage, ob das Vesperspiel als Turnier gelten könne und ob Gachmuret wirklich den Preis verdient habe; am Ende bringt Herzeloyde die Klage vor den Richter. Das Gericht entscheidet zu ihren Gunsten: «‹Hat er den Preis hier errungen, so soll die Königin ihn haben.›» Herzeloyde triumphiert: «Da sagte sie: ‹Mein Herr, jetzt gehört ihr mir.›» («dô sprach si ‹hêr, nu sît ir mîn.›») –

Gachmuret würde sich in seinem Kummer wohl wenig für die Ehe eignen, wenn nun im beginnenden Frühling nicht doch das «Feenblut» in ihm zu wirken begänne. «Das kurze grüne Gras war gekommen und alles Land war grün geworden. Das aber macht stumpfsinnige Herzen kühn und stimmt sie hochgemut. Viele Bäume standen in Blüte von der süßen Luft des Mai. Seine Feenart zwang ihn zur Minne oder Minne zu suchen.» Im Unterschied zu seinem Leben mit Belakane, das sich in solchen Empfindungen erschöpfte, geht er mit Herzeloyde aber auch noch auf einer anderen Ebene eine Beziehung ein; er kommt ihr auf der Ebene des Rechts entgegen, indem er ihr einen «Vertrag» anbietet: «‹Meine Dame, soll ich mit Euch froh werden, so müsst ihr mich ohne Behütung leben lassen (sô lât mich âne huote wesen). Denn wenn immer mich die Traurigkeit verlässt, dann will ich wieder Ritterschaft ausüben …›» Und er verweist auf Belakane: «‹Da sie mich vom Kämpfen fernhielt, ließ ich sie allein mit Land und Leuten.›» Für die Königin ist es ein Gebot der Vernunft, auf das Angebot einzugehen: «‹Mein Herr, bestimmt selbst über euer Ziel, ich werde Euch weitgehend Euren Willen lassen (hêr, nemt iu selbe ein zil: ich lâz iu iwers willen vil).›» So kann Gachmuret jetzt mit rationalen Argumenten und einer unumstößlichen Logik den Boten der französischen Königin eine Absage erteilen: «‹Da sie mir einst die Ritterschaft gegeben hat, so muss ich nun kraft dieser Ordnung (der ordens kraft), wie es das Schildesamt von mir verlangt, unverzagt dabei bleiben … Mich hält das Ritterurteil hier fest.›»

Das Verhältnis Gachmurets zu Herzeloyde ist somit völlig anderer Art als das zu Belakane. Es ist nicht in erster Linie die Sinnlichkeit, die ihn hier bindet; sie ist zwar auch beteiligt, spielt aber eine untergeordnete Rolle. Die Begegnung zwischen den beiden und ihre gegenseitige Zuneigung spielt sich auf einer anderen sozialen Ebene ab. Hier zählen das rationale Argument, die rechtliche Verbindlichkeit und das gegebene Wort. Den Leser überrascht zunächst, wie wenig der Name der Königin zu ihrem Handeln zu passen scheint. Mit «Herzeloyde» assoziieren wir ja doch sogleich eine Gefühlsbetontheit und Gemütsinnigkeit, weniger ein derart von rationalem Kalkül bestimmtes, streitbares und selbstbewusstes Auftreten. Man ahnt indessen, dass der Name durch spätere Ereignisse gerechtfertigt ist, von der Zukunft her bestimmt wird. Durch diese Hinführung zu dem Charakter Herzeloydes wird zugleich verhindert, dass ihr späteres Handeln im vordergründig emotionalen Sinne missverstanden wird. Sie ist weder ängstlich noch weltfremd, und man wird ihre spätere Entscheidung für den Ausstieg aus der höfischen Gesellschaft als einen wachen, überlegten Schritt verstehen dürfen.

Indem Wolfram betont, von der Königin gehe ein so «lichter Schein» aus, dass sogar das Kerzenlicht in Gachmurets Zelt davon ersetzt werden könnte, nötigt er uns auch hier wieder, unsere Blickrichtung von der äußeren Sinneserscheinung abzuwenden – sonst wäre das Ganze eine bloße Albernheit – und das Gesamtgeschehen in einen geistig-seelischen Raum zu erheben. Die Verstandesklarheit und Wachheit, die intellektuelle Gewandtheit und Geistesgegenwart, mit der Herzeloyde die Situationen überblickt, stellen die Ereignisse in ihrem Umkreis in ein ganz anderes Licht, als man es von Belakane kennt. Sie weiß nicht nur, was sie tut, sie kann die Folgen ihres Handelns weitgehend abschätzen, sie schaut planend und sich sorgend in die Zukunft. Umsicht und Besonnenheit bestimmen ihr Handeln, wohingegen es Mangel an Voraussicht und schiere Gedankenlosigkeit war – nicht Lieblosigkeit –, womit Belakane ihren Geliebten in den Tod geschickt hat. Was die Königin Belakane auszeichnet, Schönheit und Anmut, ist auch der Königin Herzeloyde zu eigen, doch darüber hinaus verfügt sie über Seelenfähigkeiten und Qualitäten, die über ihre große Vorgängerin hinausgehen.

Mit beiden kann Gachmuret leben – aber nur vorübergehend. Den Anker hat er nicht etwa abgelegt, weil er bei Herzeloyde «vor Anker» gegangen ist, sondern weil der Verlust der Familie ihn so getroffen hat, dass er im Leid den Grund seines Daseins zu erkennen meint: «‹Wie hat nun meines Ankers Spitze Halt gefunden im Schmerz (wie hât nu mîns ankers ort in riwe ergriffen landes habe)!›»17 Auch die neue Qualität der ehelichen Beziehung kann ihn nicht auf Dauer an einen Ort oder einen Menschen binden. Die Bewusstseinshelligkeit, die ihm in Herzeloyde, der Angehörigen des Gralsgeschlechts, entgegenkommt, kann Gachmuret auf Dauer ebenso wenig ertragen wie die sinnliche Ausstrahlung Belakanes. Sein Handeln wird weiterhin von instinktiven Kräften beherrscht, was vollends deutlich wird, als er zum zweiten Mal in den Krieg des Baruch von Bagdad zieht: «Er hatte schon Ruhm genug, als ihn seine männliche Kampfeslust forttrug übers Meer in den Krieg.»

Sein «männlicher» Kampfeseifer «trägt» ihn also davon («in sîn manlîch ellen truoc») – die Art der Darstellung hinterlässt auch hier wie so oft den Eindruck, dass Gachmuret nicht aus individuellen Antrieben heraus handelt, sondern aus spontan wirkenden emotionalen Kräften, die ihm die Natur mitgegeben hat. Als vorläufig letzter männlicher Vertreter der Familie Anschaue wirkt in ihm die «Feenart», und indem er den Grund seines Handelns trotz aller ritterlichen Bildung weitgehend aus der Familientradition schöpft, wirft ihn der Untergang seiner Famlie völlig aus der Bahn. War er vorher ein rastlos Suchender, wird er jetzt zum haltlos Getriebenen. Er scheint sich geradezu an die Welt zu verlieren.

Wäre es ihm vergönnt gewesen, länger zu leben, hätte er wohl irgendwann seinen Sohn Parzival mit auf Fahrt genommen – so wie er stellvertretend Schionatulander, wie wir später erfahren, auf diese Weise in das Rittertum eingeführt hat. Er hätte ihn aus der mütterlichen Umhüllung herausgeführt und ihm die Welt gezeigt. Im Grunde repräsentiert Gachmuret in seiner weit ausgreifenden Weltoffenheit und in dem ganz nach außen gerichteten Tatendrang eine Urgebärde des Väterlichen, aber in überspitzter Form, so wie die zum Äußersten getriebene Geste der Umhüllung, mit der Herzeloyde ihr Leben dem Kind widmet, das Urbild des Mütterlichen darstellt. Beide laufen hier aber auseinander, statt zusammen zu wirken. Der Strom natürlicher Kräfte, der vom Vater ausgeht, scheint dabei an ein Ende gekommen zu sein. In der Mutter entsteht zudem ein grundsätzlicher Zweifel an der Tragfähigkeit der bisherigen Lebensart, der Ritterwelt, die besonders in Gachmurets Abstammung repräsentiert ist. In dieser Distanzierung zu allem Angestammten, Traditionellen kündet sich der besondere Charakter von Parzivals Schicksal an. Hier ist vorgebildet, was sich später in seinem Innern seelisch-geistig vollziehen wird.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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