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Gachmuret – Leben im Zweifel Dem Höchsten dienen

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Wie zur Bekräftigung seiner Behauptung, dass es sich hier nicht um eine bloße Phantasiegeschichte handle, macht uns Wolfram nach dem Prolog nicht gleich mit seinem Helden selbst bekannt, sondern mit der Vorgeschichte und den Umständen seiner Geburt. Die beiden Gachmuret-Aventüren gehören zu den besonderen Eigenheiten der Wolframschen Gralserzählung. Für die interessierten Leser, insbesondere auch die jugendlichen, die zunächst mit einer gewissen gespannten Erwartung an das Werk herangehen, kann das durchaus enttäuschend sein. Denn auf den ersten Blick erscheint diese ausgedehnte Vorgeschichte mit ihren endlosen Detailbeschreibungen von Verwandtschaftsbeziehungen und Kleiderszenen langatmig und unnötig. Eine solche Kritik hieße aber, die Absicht des Autors zu verkennen. Hätte Wolfram lediglich einen Eindruck vom Ambiente und von der Herkunft Parzivals vermitteln wollen, hätte er es einfacher haben können und hätte sich, zumal für seine Zeitgenossen, sicher kürzer gefasst.

Uns heutigen Lesern mag diese lange Vorgeschichte unter anderem dazu dienen, einige einleitende Betrachtungen über die Zeitumstände und Wolframs Darstellungsweise anzustellen. Dass die beiden Aventüren mit einer solchen Gründlichkeit und die väterliche Biographie mit solch liebevoller Zuwendung geschildert werden, hat indessen gewichtigere Gründe. Zum einen wird erst vor diesem Hintergrund und im Kontrast mit Gachmurets Leben und Sterben die Besonderheit und Einzigartigkeit der Biographie Parzivals deutlich. Zum anderen werden wir an die beiden geistesgeschichtlichen Strömungen herangeführt, die für die Menschheitsentwicklung von unschätzbarer Bedeutung sind und als deren Repräsentanten die Eltern Parzivals gelten können: die Artusströmung und die Gralsströmung. Schließlich ist die frühe Geburt von Parzivals Halbbruder Feirefiz – im Zusammenhang der ersten Aventüre – neben der Geburt Parzivals selbst – im Zusammenhang der zweiten Aventüre – sowohl für den inneren Aufbau des Epos wie auch für die Entwicklung des Helden von grundlegender Bedeutung, was ja schon im Prolog anklingt. Und letztlich: nehmen wir einmal an, dass eine Individualität in einen menschlichen und geschichtlichen Zusammenhang nicht zufällig eintritt, sondern schon vor ihrer Geburt an der Gestaltung der irdischen Schicksalszusammenhänge Anteil nimmt – die Wirklichkeit des Vorgeburtlichen ist eines der zentralen Grundmotive der Gralslegende –, dann können wir uns vorstellen, dass die Individualität Parzivals nicht zufällig mit einem solchermaßen ungewöhnlichen Schicksalszusammenhang konfrontiert wird, wie er sich in dem frühen Tod des Vaters und der besonderen Beziehung zur Mutter ausdrückt, dass diese Konstellation vielmehr geeignet ist, die besonderen Entwicklungsziele dieser Individualität zu ermöglichen.

Gachmuret wird uns als eine ebenso hervorragende wie widersprüchliche Persönlichkeit beschrieben, als «der kiusche und der vreche» («der Reine und der Kühne») wird er uns schon zu Anfang vorgestellt. Als sein Vater, König im Lande Anschaue (Anschouwe), stirbt und der ältere Bruder nach französischem Recht die Herrschaft antritt, lehnt Gachmuret das brüderliche Angebot ab, sich an der Macht zu beteiligen. Er will Ritter sein, nicht Herrscher, er will seine Rüstung erst noch ausfüllen. «Nichts als meine Rüstung besitze ich. Hätte ich darin mehr getan, das weithin Lob mir brächte!» Er will sich sein Ansehen selbst verdienen, er will keine Ehre aufgrund seines Standes. Zwar strebt er ganz hoch hinaus, aber nicht als Herrscher, sondern als Dienender. Die ritterliche Bereitschaft zu dienen, «diemuot» zu üben, prägt seinen Charakter. Dabei will er keinem, der eine Krone trägt, keinem König oder Kaiser dienen, «es sei denn dem, der mit höchster Hand auf Erden über alle Länder regiere (wan eines der die hœhsten hant trüege ûf erde übr elliu lant)».

In der Regel wird das mit «der mächtigste Herrscher auf der Erde» übersetzt. Dabei geht aber nicht nur die höhere Sinnebene verloren, die weitere Charakterisierung Gachmurets erscheint uns in ihrer Widersprüchlichkeit auch völlig unverständlich, geradezu unsinnig. Wolfram gibt sich nämlich alle Mühe, das bescheidene, genügsame und maßvolle Wesen Gachmurets hervorzukehren, der von sich kein Aufhebens macht und jede überschwängliche Verehrung seiner Person geradezu flieht. Zugleich erfahren wir aber, dass er äußerst prächtig ausgerüstet reist, wo immer er erscheint, prunkvoll und mit großem Stolz auftritt. Als ihn sein unstillbares Verlangen nach «dem Höchsten» schließlich ins Grab wirft, hat er sogar ein solches Ansehen erlangt, dass man ihn fast wie einen Gott verehrt. Sinn ergibt dieser merkwürdige Widerspruch zwischen Demut und Übermut nur, wenn wir ihn als Ausdruck eines zwiespältigen Charakters sehen. Auf den ersten Blick scheint Gachmuret mit sich im Reinen zu sein, die genauere Betrachtung zeigt aber bald, dass er in einem ständigen Zwiespalt zwischen dem Genuss der irdischen Existenz und der Suche nach einer göttlichen Bestimmung lebt – ein in seiner Zeit durchaus verbreitetes Lebensgefühl. Einerseits erwirbt er sich glänzende Fähigkeiten und Tugenden, die ihn an die Spitze der höfischen Gesellschaft führen, andererseits lebt er in dem steten Bewusstsein von seiner Unzulänglichkeit gegenüber dem göttlich-geistigen Grund der Dinge, woraus seine Bescheidenheit resultiert. In dem Streben nach dem «Höchsten» offenbart sich daher die rastlose Suche nach dem tieferen Sinn des Lebens und nach dem geistigen Grund, in dem die Seele Halt findet. Deshalb wählt er sich als Wappen einen Anker.

So gesehen ist auch Gachmuret ein Gralssucher. In seinem Umherirren klingt auch die spätere verzweifelte Suche Parzivals an, nur weiß Gachmuret überhaupt nicht, was er sucht. Sein Streben bleibt auf jener emotional-gemüthaften Ebene, auf der Parzival später den Weg zum Artushof beschreitet. Auffallend allerdings ist die Ähnlichkeit der schicksalhaften Verwechslung: Während Parzival als Kind ganz naiv die Ritter mit Göttern verwechselt und so zum Artushof aufbricht, den er dann später aber hinter sich lässt, endet Gachmurets Streben in der Heeresfolge des Baruchs von Bagdad, von dem er gehört hat, dass er die «höchste Hand» auf Erden sei. So erschöpft sich Gachmurets Gralssuche letztlich auch in der Knüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen, vor allem der Artus-Anschaue-Sippe mit der Gralssippe, als er Herzeloyde heiratet. Eine individuelle Beziehung zum Gral findet er dabei nicht – deshalb reißt er sich letztlich aus der familiären Bindung wieder los und sucht geradezu den Tod. Gachmuret wird so zu einer tragischen Gestalt, weil er in seiner Vaterschaft zwar einer höheren Macht zu Diensten ist, der «höchsten Hand», diese sich ihm aber im Leben nicht offenbart.

Wie in diesem Vergleich zwischen Vater und Sohn wird im Folgenden deutlich werden, dass die Gachmuret-Aventüren nicht nur in familiärer Hinsicht die Biographie Parzivals vorbereiten. Sie zeigen uns auch die bewusstseinsgeschichtlichen Gegebenheiten und die Beschränkungen auf, aus denen Parzival später herauswächst. Vergleiche dieser Art bieten sich immer wieder an und sind von Wolfram beabsichtigt. Das Epos enthält eine Fülle von Szenen, die nach dem gleichen Muster aufgebaut sind. So weist die Begegnung Gachmurets mit Belakane ein ähnliches Grundmuster auf wie seine spätere Begegnung mit Herzeloyde oder die Begegnung Parzivals mit Kondwiramur: Der Held betritt einen Schauplatz, auf dem um eine Dame gekämpft wird, greift in die Kämpfe ein und gewinnt schließlich nicht nur die Hand der Umkämpften, sondern auch die herrenlosen Erblande, die an den Sieg geknüpft sind. Das erscheint zunächst alles ziemlich ähnlich, es wird sich aber zeigen, wie gerade in den Unterschieden das Wesentliche zu finden ist und im Vergleich das Charakteristische einer Aventüre, eines Motivs oder einer Persönlichkeit schärfer hervortreten kann. Auch die beiden Gachmuret-Aventüren selbst fordern ein solches kontrastierendes Vorgehen durch ihre auffallende Parallelität geradezu heraus.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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