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Die Ritterlehre

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Darauf folgen die Belehrungen, die Parzival zum gebildeten Ritter machen sollen. Der Burgherr leitet den Unterricht zunächst damit ein, dass er noch einmal wiederholt, der Schüler müsse sich an seinen Rat halten, was er aber zugleich mit einer anderen Forderung verknüpft: Er möge endlich von seiner Mutter schweigen («‹ir redet als ein kindelîn, wan geswîgt ir iwerr muoter gar …?›»). Daran wird der gelehrige Schüler sich dann auch halten: Hat er bisher bei jeder Gelegenheit aus überschwänglichem Gemüt lauthals den Rat seiner Mutter verkündet, so tritt jetzt der Rat Gurnemanz’ zu schweigen an erste Stelle. Doch nur in seinen Worten – im Herzen bleibt die Mutter lebendig, dort schweigt sie nicht: «sîner muoter er gesweic, mit rede, und in dem herzen niht.»

Es ist auffallend, dass Gurnemanz in keiner Weise versucht, an Parzivals Kindheit und die Ratschläge der Mutter anzuknüpfen. Vielmehr ist er bemüht, die Mutter aus Parzivals Gedanken zu verdrängen, sodass in der Seele des Knaben ein Konflikt angelegt wird, der sich durch sein bisheriges Schicksal schon angedeutet hat – ein Konflikt zwischen dem «väterlichen» Rat, der mehr das Intellektuelle, die Verstandesbildung seiner Zeit beinhaltet, und dem mütterlichen Andenken, das sich mehr aus den Gefühls- und Gemütskräften nährt. Das wird später schwerwiegende Folgen haben, vor allem bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralsburg.

Die nun anschließenden Unterweisungen in den Tugendregeln und Verhaltensnormen des Ritterlebens scheinen auf den ersten Blick in lockerer Gesprächsfolge und ohne Systematik vorgebracht, bei genauem Hinsehen erkennen wir aber, dass schon der Einstieg in die Thematik von erstaunlichem didaktischem Scharfsinn zeugt. Gurnemanz baut nämlich das ganze Lehrgebäude auf einem wohlbedachten Fundament auf – auf dem Gefühl der Scham. «‹So fange ich an: achtet geziemend darauf, dass Ihr niemals von der Scham lasst (ir sult niemer iuch verschemn).›» Eine solche grundlegende Wertschätzung der Scham ist für den heutigen Menschen nicht selbstverständlich. Der Begriff der Scham ist zumindest im alltäglichen Gebrauch nicht mehr mit einer solchen Wertigkeit besetzt, es sei denn in der Negation wie «schamlos» oder «unverschämt». Deshalb wird diese Stelle auch gern mit «Seid niemals unverschämt!» übersetzt, was aber am Sinn dieser Belehrung völlig vorbeigeht.

Im Unterricht ergibt sich hier die Möglichkeit, ein Thema anzusprechen, zu dem man sonst nur schwer einen Zugang finden wird. Denn die Scham erfreut sich gewöhnlich keiner großen Beliebtheit, scheint sie doch im täglichen Leben ebenso lästig wie unangenehm zu sein, eher sogar ein Zeichen von Unsicherheit und Schwäche. Wer sich schämt, wer errötet oder sonstwie verlegen wirkt, wird belächelt. Das Schamgefühl wird zunehmend als seelische Behinderung angesehen, die den Menschen in seiner freien Entfaltung einzuengen scheint. In der Tat lässt es ihn zutiefst sein eigenes Ungenügen spüren – dadurch wird es aber zugleich auch zum Motor der Veränderung, Wandlung und Entwicklung. Das Schamgefühl rührt sich nämlich stets dann, wenn der gegenwärtige Zustand mit dem idealen Bild kontrastiert, das der Mensch von sich entwirft. Das kann auch im übertragenen Sinne geschehen, indem man das Verhalten einer ganzen Gesellschaft als beschämend empfindet, wenn entwürdigende Verhältnisse herrschen, eine menschenverachtende Weltanschauung propagiert wird oder der öffentliche Diskurs verwahrlost. Jugendliche haben oft ein sehr differenziertes Empfinden von solchen Seelenstimmungen, können sie aber meist nicht artikulieren. Sie fühlen sich bestätigt und seelisch gestärkt, wenn sie aus gegebenem Anlass frei darüber sprechen können.

Die Fähigkeit, sich schämen zu können, kündet von unserem Menschsein. Deshalb sagt Gurnemanz: «‹Ein Leib, der sich nicht schämt, was taugt der noch? … Er verliert seine Würde (werdekeit) und wird zur Hölle gewiesen.›» Die Erfahrung des eigenen Ungenügens macht aber auch bescheiden und bewirkt Verständnis für das Unglück anderer Menschen, für die Erniedrigten und Beleidigten, die in beschämenden Verhältnissen leben. So lässt Gurnemanz die Hilfsbereitschaft daraus folgen. «‹Wehrt dem Kummer mit Milde und mit Güte: bemüht Euch dem Menschen zu dienen (vlîzet iuch diemüete). Denn ein edler Mann in Not ringt mit seiner Scham (der kumberhafte werde man wol mit schame ringen kann).›» Das wiederum erfordert das rechte Maß im Handeln («‹gebt rechter mâze ir orden›»): Weder solle man seine Habe verschleudern noch geizig Schätze anhäufen.

Das rechte Maß gelte es aber auch in der Rede zu halten: «‹Ihr sollt nicht viel fragen (irn sult niht vil gevrâgen)›», was vielleicht in dem Sinne gemeint ist wie «Ihr sollt die viele neugierige Fragerei lassen». Es bedarf der Geduld, um zu erfahren, was der andere mitteilen will. Aber mit der wohlbedachten Antwort, die auf die Frage des anderen eingeht, solle man nicht zögerlich sein. Dies wiederum setzt voraus, dass man aufmerksam ist, Augen und Ohren öffnet und die betreffende Situation genau beobachtet. «‹Ihr könnt hören und sehen, schmecken und riechen – das sollte Euch zu Verstand bringen (daz solt iuch witzen næhen).›»

Umsicht, Verstand und Augenmaß sind schließlich auch im Kampf angesagt: «‹Lasst bei aller Kühnheit auch das Mitleid zu (lât derbärme bî der vrävel sîn).›» Wenn einer im Kampf Sicherheit biete, so solle man das Angebot annehmen und ihn heil davonkommen lassen – es sei denn, er habe einem solches Leid zugefügt, dass das Herz zutiefst verwundet ist («‹ern hab iu sölhiu leit getân diu herzen kumber wesn›»).

Schließlich muss auch der Kampf selbst einen richtigen Stellenwert im Leben des Ritters einnehmen. Die Rüstung repräsentiert nur einen Teil des ritterlichen Lebens, ja sogar einen untergeordneten, der dem Leben am Hofe dienstbar ist. Deshalb müsse man sich den Eisenrost sorgfältig abwaschen, rät der Burgherr. «‹Dann nämlich seht ihr wieder liebenswürdig (minneclîch) aus. Das nehmen die Augen der Frauen wahr.›» «‹Seid männlich und habt guten Mut›» – das ist die eine Seite. «‹Und lasst Euch die Frauen lieb sein›» – das ist die andere Seite des Ritters. Hieran schließt Gurnemanz eine Lobpreisung von Aufrichtigkeit und Treue zwischen Liebenden. Die edle Minne sei achtsam gegen Lüge und Hinterlist. Wer ihre Missgunst erwirke, der werde entehrt «‹und immer die Qualen der Schande leiden (und immer dulten schemeden pîn)›».

«Schande» und «Scham» haben auch im Neuhochdeutschen denselben Wortstamm. Gurnemanz hat seinen Schüler damit, ausgehend von der Scham, durch den ganzen Kreis der ritterlichen Tugenden bis in die Gefilde der hohen Minne geführt, ohne in öde Aufzählung und starre Systematik zu verfallen – und mit der Schande einer unaufrichtigen Liebe kehrt er zur Scham zurück. Als Krönung seiner Rede stellt er schließlich die Beziehung von Mann und Frau in eine umfassende kosmische Ordnung: Beide gehören zusammen, ja sie bilden ein Ganzes, wie die Sonne und der Tag. «‹Das eine kann sich vom anderen nicht scheiden, sie blühen aus demselben Kern (si blüent ûz eime kerne gar).›»

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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