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Zeitbildung und Individualität

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Will man sich hier in Parzivals innere Verfassung versetzen, so muss man sich auf sein besonderes Schicksal besinnen. Es war ihm verwehrt, als Kind in die Bildung seiner Zeit, in die Gesellschaft und das Rittertum hineinzuwachsen, weil ihm die väterliche Seite der Erziehung fehlte. So muss er sich die Begriffe und Regeln der ritterlichen Welt jetzt auf einer späteren, schon bewussteren Entwicklungsstufe aneignen. Gurnemanz übernimmt dabei die Vaterrolle. Aber wenn auch dessen Fürsorge so ist, «wie sie ein getreuer Vater an seinen Kindern nicht besser hätte erweisen können»,5 so fehlt doch die persönliche innere Beziehung zu diesem «Ersatzvater».

Während der gesamten Darstellung des Lehrers hat Parzival schweigend zugehört. Nicht nur hat er, wie von ihm verlangt, von seiner Mutter geschwiegen und das Fragen unterlassen, er hat überhaupt kein Wort gesagt, sondern alles völlig kommentarlos über sich ergehen lassen. Am Schluss verbeugt er sich artig vor seinem Wirt als Dank für die Belehrung – man möchte sich fast wundern, dass der Schüler bei diesem Verfahren nicht eingeschlafen ist. Zu keiner Zeit bekommt die Unterweisung den Charakter eines Gesprächs. Hinzu kommt, dass der Lehrer den Schüler niemals beim Namen nennt, ja er interessiert sich anscheinend überhaupt nicht für die eigentlichen individuellen Merkmale seines Zuhörers. Er richtet seine Rede nicht an einen konkreten Menschen namens Parzival, sondern an die «hohe Art» und den «großen Herrn», dessen Herrschergeblüt er ahnt: «‹Ihr mögt wohl ein hoher Gefolgsherr sein. Da Ihr eine hohe Art habt und sie sich erhöhen soll, so bewahrt dies in Eurem Willen (ir mugt wol volkes hêrre sîn. ist hôch und hœht sich iwer art, lât iweren willen des bewart).›» –

Aber nicht nur, dass Gurnemanz an der Individualität seines Zuhörers vorbeiredet, er verweist auch nirgendwo auf den Grund der Dinge. An keiner Stelle seiner kunstvoll entwickelten Darstellung bietet er Parzival einen tieferen geistigen oder religiösen Begründungszusammenhang an. Entweder er bleibt bei bloßen Forderungen («Ihr sollt nicht viel fragen») oder er erklärt das tugendhafte Verhalten aus bloßen Nützlichkeits- oder Höflichkeitserwägungen heraus («So naht Euch Gottes Gruß» oder «Das nehmen die Augen der Frauen wahr»). Natürlich muss man das geringe Alter des Schülers berücksichtigen, denn Parzival ist noch «ohne Bart».6 Aber die Unterweisungen sind ja auch größtenteils keine Bilder, wie sie die Mutter gab, sondern an den Verstand gerichtete Gebote und Regeln, und die zu hinterfragen wäre er altersgemäß durchaus in der Lage. Zudem fällt auf, dass Gurnemanz nicht nur von «zu viel Fragen» abrät, er rechnet während seines ganzen «Vortrags» überhaupt nicht mit Äußerungen seines Zuhörers. So ist es fraglich, ob und inwieweit Parzival durch diese Art der «Bildung» überhaupt in seinem inneren Wesen gefördert wird – oder ob er sich diese ganze Tugendordnung nicht lediglich äußerlich überstreift, vergleichbar der Rüstung des Roten Ritters, die er sich überstülpte, ohne sie innerlich erfüllen zu können. Auf einer nunmehr intellektuellen Stufe ist Parzival im Grunde in einer ähnlichen Verfassung wie zuvor, als er die bildhaften Ratschläge seiner Mutter nur wortwörtlich aufnahm und beherzigte. Kein Wunder, dass er den Rat, nicht viel zu fragen, als absolut gültige Verhaltensregel und Handlungsanweisung auffasst, die ihm später die konkrete Situation auf der Gralsburg verstellt.

Auf die starken Gemütskräfte, die der Knabe aus der Soltane in die Welt getragen hat, setzen jetzt die Verstandeskräfte auf, aber die beiden wirken nicht so selbstverständlich zusammen, wie wenn sie sich gemeinsam entwickelt hätten. Es versteht sich, dass Parzival aufgrund seines besonderen Schicksals nicht wie seine Zeitgenossen die beiden Seelenkräfte instinktiv und gewohnheitsmäßig verbinden wird. Seine Erziehung begünstigt, ja fordert geradezu eine innere Auseinandersetzung mit dieser ungewöhnlichen Seelenkonfiguration, wobei das Zusammenwirken der Seelenkräfte bewusst bewerkstelligt werden muss. Das bedarf einer besonderen seelisch-geistigen Vertiefung, der Konzentration auf die Quellen des Bewusstseins, wozu er erst heranreifen muss. Das immer wieder gezeichnete Bild der Quelle ist Metapher für diese Annäherung der Seele an ihre ursprünglichen Quellkräfte, welche, wie sich zeigen wird, auch die schöpferischen Kräfte des Grals sind. Unter den verschiedenen Quellen nimmt die «Fontane la Salvatsche»7 eine zentrale Stellung ein. Dort wird ein viel tieferes Gespräch mit einem ganz anderen Lehrer stattfinden – mit Trevrizent, der wie Sigune an der «ursprünglichen Quelle» lebt. Die höfische Bildung der Zeit, wie sie Gurnemanz repräsentiert, vermag weder den Dingen auf den Grund zu gehen noch die Quellkräfte der Seele zu entdecken. Parzivals Biographie weist zwar schon über das instinktive Miterleben des Zeitenschicksals hinaus, er kann sie aber noch nicht bewusst ergreifen. Darin liegt ein wesentlicher Grund für sein späteres Scheitern in der Gralsburg.

Dass die «Ritterlehre» des klugen Gurnemanz nicht auf Individualität («Ungeteiltheit») hin angelegt ist, zeigt sich auch in der auffallend strengen Zweiteilung von Theorie und Praxis. Der an die Sinne gebundene Verstand, den Gurnemanz in Parzival wecken will, findet nicht den Weg zum Herzen, so wenig wie der Schnellkurs in Sachen Ritterkampf, den Parzival dank seiner «hohen Art» in vierzehn Tagen durchfliegt, geeignet ist, Bewusstsein für die im eigenen Tun wirkenden Willens- und Schicksalskräfte zu wecken. Dieser Mangel an geistiger Tiefe korrespondiert mit einer zweifelhaften, nur vordergründig «christlichen» Moralität: Man würde doch erwarten, dass in einer moralischen Belehrung über Mitleid und Barmherzigkeit sich wenigstens Hinweise auf das Mysterium des Gottessohnes fänden – nichts dergleichen. Gurnemanz vertritt auch das Ideal der Nächstenliebe nicht im christlichen Sinne, wenn er das Erbarmen für den Fall ausnimmt, dass man vom Gegner tiefes Herzensleid erfahren habe.8 Die Angst der von Parzival besiegten Ritter vor der Rache Gurnemanz’ in der folgenden Aventüre bestätigt diese Lesart.9

Dass die höfische Gesellschaft, auf die Gurnemanz den jungen Parzival vorbereitet, nicht gänzlich von christlicher Nächstenliebe durchdrungen ist, wird auch durch die Tatsache belegt, dass er alle seine drei Söhne im Kampf verloren hat. Wie wir schon in den Gachmuret-Aventüren sehen konnten, birgt die ritterliche Minnewelt zwar ein gewaltiges Erziehungspotenzial für die mittelalterliche Gesellschaft. Sie kann die im Menschen tobenden Triebkräfte und Leidenschaften bis zu einem gewissen Grade bändigen, ist aber weit davon entfernt, sie völlig verwandeln zu können. Deshalb sehen wir immer wieder Menschen, auch aus dem Gralsgeschlecht, sich vom höfischen Leben abwenden, um in der Askese den Quellen ihres Daseins nahe zu sein und einer geistigen Berufung dienen zu können, wie Sigune, Herzeloyde und Trevrizent.

Vielleicht ahnt Gurnemanz etwas von einer solchen Wandlungskraft in Parzival, wenn er ihm die Ritterschaft in der Nachfolge des ermordeten Ither überträgt. Jedenfalls scheint er in ihm Neues zu erkennen, eine offene Zukunft. So versucht er den «Roten Ritter» für seine Tochter Liaze zu interessieren, auch in der Hoffnung, ihn an sich binden zu können und somit wieder einen Sohn zu gewinnen. Wäre Parzival nur von der «hohen Art», wie es Gurnemanz’ Verstand konstatiert, hätte dieses Werben vielleicht auch Aussicht auf Erfolg und er würde diese Rolle erfüllen. Allein, der «Rote Ritter» wird einen individuelleren Weg gehen. Schon die nächste Aventüre wird zeigen, dass er sich in seinem Streben und seinen Handlungsmotiven weder von gesellschaftlichen Konventionen noch von der «Art» seines Vaters Gachmuret bestimmen lässt.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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