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Sigune Schuld und Trauer

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Eine besondere Bedeutung für den Lebensweg Parzivals haben die Begegnungen mit Sigune. Vielschichtig und rätselhaft erscheinen diese Szenen gewissermaßen am Wegesrand, beim Verfolgen eines Zieles oder einer Spur, wie schicksalhafte Wegmarken seiner Biographie, und zwar vornehmlich im Zusammenhang mit der Verstrickung in Schuld. Zum ersten Mal begegnet er ihr, unmittelbar nachdem er mit seinem rücksichtslosen und tölpelhaften Verhalten die edle Jeschute ins Unglück gestürzt hat, zum zweiten Mal nach seinem unglückseligen Besuch auf der Gralsburg, wo er durch sein ignorantes Schweigen versäumt hat, das Leiden des Königs und die Not der Gralsgemeinschaft zu lindern. Die dritte Begegnung findet im Wald von Fontane la Salvatsche statt, wo Parzival, nach eigenen Worten, erfüllt von «Hass gegen Gott» umherirrt, unmittelbar bei der Klause des Einsiedlers, dem er kurz darauf seine Schuld gesteht. Nur beim vierten Mal scheint die Begegnung unter einem anderen Vorzeichen zu erfolgen, nämlich nachdem Parzival Gralskönig geworden ist – aber da ist Sigune schon nicht mehr am Leben, sie ist ihrem Geliebten nachgestorben.

Als Angehörige des Gralsgeschlechts und nahe Verwandte, die auch einige Zeit im Hause Herzeloydes gelebt hat, möglicherweise sogar eine Erziehungsfunktion für den Knaben ausgeübt hat, steht Sigune Parzival schon äußerlich sehr nahe, aber mehr noch ist sie eine intime Kennerin seines Wesens, seiner Seele und seines Schicksals. Merkwürdig ist allerdings, dass sie sich nicht sofort erkennen; nicht nur beim ersten Mal, auch in den folgenden Begegnungen gibt es kein spontanes Wiedererkennen an der äußeren Erscheinung. Erst durch das Hören, durch Laut und Sprache, findet eine Identifikation des anderen statt. Diese innere Begegnung hinterlässt dann allerdings den Eindruck engster Vertrautheit. Die Stimme, die Parzival in solchen Momenten vernimmt, ist einerseits wie ein Spiegel, in dem er sein vergangenes Tun wahrnimmt, und zugleich ist sie zukunftsweisend, indem sie seinem Weg eine bestimmte Richtung gibt.

Die vier Begegnungsszenen fallen durch das gleichbleibende, durchgängige Bildmotiv auf und «erstaunen durch die Statik der gezeichneten Bilder, sie sind fast nur noch ‹zum Ergebnis geronnenes Geschehen› und im Gegensatz zu den wechselnden Wegen Parzivals ein starres Bild des Leidens».1 Die Bilder wandeln sich zwar insofern, als Sigune sich allmählich aus dem äußeren Leben zurückzieht – Parzival kann schließlich nur noch durch das Fenster ihrer Klause mit ihr sprechen –, dies sind aber, wie im Folgenden deutlich werden soll, lediglich Variationen eines und desselben Themas, das Parzival auf allen Lebenswegen begleitet. In besonderen Augenblicken tritt es ihm vor die Seele, wird es bewusst wahrnehmbare Erscheinung.

«So kam unser törichter Knabe einen Abhang hinab geritten. Da hörte er eine weibliche Stimme am Rande eines Felsens. Eine Frau schrie aus tiefer Not», so beginnt die erste Begegnung.2 «Der Knabe blickte sich um und fand da den Fürsten Schionatulander tot im Schoße der Jungfrau.» Das «minnigliche Antlitz» des Knaben und sein starkes Mitleid fallen Sigune auf, mehr erkennt sie zunächst nicht. Erst beim Abschied fragt sie ihn nach seinem Namen. «‹Bon Fils, cher fils, beau fils, so wurde ich von den Leuten zu Hause genannt.› Als er das sagte, erkannte sie ihn beim Namen.» Dann folgt ein Einschub des Erzählers: «Nun hört seinen richtigen Namen, damit Ihr erkennen möget, wer der Herr dieser Aventüre sei, der da bei der Jungfrau verweilte.» Erstaunt stellen wir fest, dass nicht nur Parzival selbst bisher seinen Namen nicht kannte, Wolfram hat auch bis hierher konsequent vermieden, den «Knaben» bei seinem Namen zu nennen. Jetzt erst, von Sigune, erfährt dieser – und der Leser – den wahren Namen: «‹Wahrlich, du heißest Parzival. Der Name ist recht mitten hindurch (deiswâr du heizest Parzivâl, der nam ist rehte enmitten durch).›»

Auch wird ihm jetzt seine Verwandtschaft mit Sigune erläutert, und damit auch der Sinn des Bildes, das er vor sich hat. Im Hinblick auf den Tod Schionatulanders belässt es Sigune allerdings bei Andeutungen. Näheres hat Wolfram in seiner Verserzählung Titurel dargestellt, einem Fragment gebliebenen Spätwerk, in dem die Kenntnis des Parzival vorausgesetzt wird, obwohl es inhaltlich die Vorgeschichte der Sigune-Szenen aufgreift.3 Dass Wolfram mit Schionatulander eine Nebenfigur des Parzival zur Hauptfigur einer neuen Dichtung macht, unterstreicht deren zentrale Bedeutung. Man wird deshalb das Titurel-Fragment in die Betrachtung der Sigune-Bilder mit einbeziehen müssen, erst dann erschließt sich ihre sinnbildhafte Tiefe.

Eines Tages sei dem jungen Paar, so heißt es dort, im Wald ein Hund zugelaufen, Gardevias mit Namen, «daz kiut tiuschen ‹Hüete der verte!› (das heißt auf Deutsch ‹Achte auf die Fährte / die Spur / den rechten Weg!›)».4 Schionatulander gelingt es, ihn einzufangen, und er übergibt ihn seiner Braut. Auf dem Halsband und der Leine des Bracken sind wertvolle Edelsteinstickereien eingearbeitet, die von Tugend und Minne erzählen. Mehrere Strophen verwendet Wolfram dazu, die Kostbarkeit dieser Arbeit hervorzuheben. «Smaragde waren die Buchstaben, mit Rubinen verbunden.» Sigune liest: «‹Wenn auch dies ein Hundename ist, so ist das Wort doch jedem edlen Menschen angemessen. Männer und Frauen sollen genau auf den rechten Weg achten! So erlangen sie hier die Gunst der Welt und es wird ihnen dort die Glückseligkeit zum Lohn … Wer immer die Fährte wohl hüten kann, dessen Wert wird nie verkäuflich werden. Der wohnt in einem reinen Herzen, das so gestärkt ist, dass ihn auf dem Markt der Unbeständigkeit und des Wankelmuts niemals ein Auge übersehen kann.›»5 Den weiteren Inhalt der wunderbaren Schrift, zwei ineinandergeschachtelte Liebesgeschichten, deckt Wolfram allerdings nur ansatzweise auf, das meiste bleibt in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Denn als Sigune, die sich offenbar tief betroffen fühlt, die Leine löst, um weiter lesen zu können, reißt sich der Hund los und läuft davon. Schionatulander, der sich der Liebe Sigunes würdig zeigen will, lässt sich von ihr dazu bewegen, die Verfolgung aufzunehmen. Verspricht sie ihm doch Erfüllung all seines Liebeswerbens: «‹Erhörung (genâde) und alles, was immer eine Jungfrau ihrem geliebten schönen Freund erfüllen soll, das gewähre ich, und von diesem Willen wird mich niemand abbringen, wenn dein Wille nach jenem Band strebt, das der Bracke, den du mir gefangen brachtest, auf seiner Fährte fortschleifte.›»6 Hierauf endet das Fragment. –

In den Kämpfen, in die er auf der Jagd nach dem «Tugendseil» verwickelt wurde, so deutet Sigune Parzival gegenüber an, starb Schionatulander durch das Schwert Orilus’, des Gatten Jeschutes. «‹Ein Brackenseil brachte ihm den tödlichen Schmerz (ein bracken seil gap im den pîn).›» Doch lag er auch im Streit mit den Brüdern Lähelin und Orilus um das Erbe Parzivals, sodass Sigune schon deswegen sagen kann: «‹Dieser Fürst hier ward um deinetwillen erschlagen (durch dich erslagen), denn stets verteidigte er dein Land.›» Wenn man allerdings den gesamten Text heranzieht, wird man dieses «um deinetwillen» auch in einem anderen Zusammenhang bestätigt finden, der erst von der Zukunft her zu verstehen ist. Als nämlich Orilus zurückkommt und seine Frau Jeschute der Untreue bezichtigt, prahlt er von dem Kampf und dem tödlichen Stoß gegen Schionatulander und erinnert seine Gattin an die Kämpfe, die er für ihre Minne gewonnen hat: «‹Die von der Tafelrunde hassen mich besonders, der ich doch acht von ihnen niederstach … Das saht Ihr und Artus, der meine Schwester, die liebe Kunneware, in seinem Hause hat. Ihr Mund kann kein Lachen mehr hervorbringen, ehe sie nicht den sieht, dem man den höchsten Ruhm zuspricht. Wenn mir doch endlich dieser Mann käme! Dann würde es hier einen Kampf geben wie heute Morgen, da ich im Streit einem Fürsten, der mich zur Tjoste herausforderte, Leid zufügte: er lag von meiner Tjoste tot darnieder.›»7 Später, beim ersten Besuch Parzivals am Artushof, sehen wir dann, dass Kunneware beim Anblick des Knaben zu lachen beginnt, weil sie ihr Gelübde als erfüllt betrachtet. In der Rückschau erkennen wir dann, dass Orilus’ Kampfeswut eigentlich gegen Parzival gerichtet war und Schionatulander somit diesem diffusen, gegen Parzival gerichteten Hass zum Opfer fiel. Dass Sigune Parzival einen falschen Weg zeigt und seinen Rachedurst und Kampfeseifer auf eine falsche Fährte lockt, damit er nicht Orilus in die Arme läuft, ist somit eine Gunst des Schicksals, die Schionatulander nicht gewährt wurde.

Ziehen wir Wolframs gesamten Titurel zum Verständnis hinzu, gewinnt dieser Aspekt der Stellvertretung noch eine zusätzlich tragische Bedeutung. Dort wird nämlich erzählt, dass der junge Schionatulander, während seine noch kindliche Braut am Hofe Herzeloydes weilte, mit Gachmuret an dessen Orientfahrt teilnahm. Hatte doch die Geliebte ihn wissen lassen: «‹Du musst mich unter dem Schildesdach erst verdienen: dessen sei dir von vornherein gewiss.›»8 Auf dieser Fahrt nahm sich Parzivals Vater des Jünglings an und ließ ihm viel Aufmerksamkeit und eine umfassende ritterliche Bildung zukommen. Er ermunterte ihn außerdem, «in dienender Treue» für die Liebe Sigunes «den Sieg zu erkämpfen» («‹du solt sigenunft erstrîten mit dienstlîcher triwe an ir minne›»).9 Gerade das also, was dem Sohn später verwehrt wurde, die väterliche Zuwendung und das ritterliche Vorbild, wurde Schionatulander zuteil – und brachte ihm den Tod. Sein Leben deutet somit, wie auch sein früher Tod, auf Parzival hin und gehört zur Vorgeschichte seines besonderen Schicksals.

Ein Netz von Schuldverstrickungen wird schon in der ersten Begegnung mit Sigune sichtbar: Parzival hat soeben einen brutalen Raub begangen und die gedemütigte Herzogin ihrem jähzornigen Gemahl überlassen. Demselben Vollstrecker hat auch Sigune ihren Geliebten in die Arme getrieben, als sie die verlockenden Minneforderungen stellte. Beider Egoismus verweist somit auf Orilus, der im Namen des Drachens kämpft, wie wir später sehen werden. Seinem blutigen Ehrgeiz fällt Schionatulander zum Opfer, aber eigentlich zielt seine Stoßrichtung auf Parzival. «‹In unser beider Dienst (in unser zweier dienste) hat er den Tod erjagt›», sagt Sigune deshalb zu Recht.

Parzival steht somit gleich mehrfach in der Schuld, und zählt man noch den Tod der Mutter hinzu, kann man konstatieren: Kaum hat Parzival einen Schritt in die Welt getan, ist er schon mit Schuld überhäuft, allein durch sein Dasein. Es geht hier offenbar nicht um einzelne schuldhafte Verfehlungen, es geht um Tieferes, Existenzielleres. In der Gestalt Sigunes und des toten Schionatulander wird Parzival sein innerstes Wesen vor Augen geführt: Sein wahrer Name ist untrennbar verknüpft mit diesem Bild und einem enormen Schuldenkonto, das er natürlich noch nicht entziffern kann. –

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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