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Condwîr âmûrs

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Als Parzival von Gurnemanz fortreitet, hat sich in seiner Persönlichkeit eine tiefgreifende Wandlung vollzogen. Er trägt jetzt nicht nur in seinem Benehmen alle Zeichen ritterlicher Gesinnung und Bildung, auch sein Gemüt ist verwandelt. Indem er die «Tumpheit» des kindlichen Bewusstseins abgelegt hat, übernimmt zunächst «Gachmurets Art» in ihm die Herrschaft und lenkt seine Gedanken auf die schöne Liaze, die Tochter des ritterlichen Lehrmeisters. Wie eine innere Nötigung erlebt er diesen Zustand «unsüßer Strenge», und die Welt wird ihm zu eng. Für einen Moment scheint er in die Fußstapfen des Vaters zu treten und Gefangener jener Sinnlichkeit zu werden, die das Feenblut in seinen Adern ihm auferlegt. In diesem bitteren Schmerz lässt er sein Pferd springen und traben, wohin es will. Und wieder trägt es ihn mit übernatürlicher Schnelligkeit zu einem neuen Schicksalsort, zu einer Begegnung, die man nur als Gnadengeschenk einer weisen Lebensführung bezeichnen kann. Dass Parzival nämlich jetzt die Liebe in ihrer ganzen Tiefe und Schönheit erfahren darf, indem er Kondwiramurs, die «Geleiterin der Liebe», kennenlernt, lässt uns die schützende Hand der Mutter erahnen. Die Darstellung dieser Begegnung selbst ist in ihrer Bildsprache von unnachahmlicher Schönheit. Wir ahnen die Bedeutung, die Wolfram dieser Begegnung beigemessen hat – wohlweislich bevor der erste Besuch auf der Gralsburg und die Begegnung mit der Gralsbotin jene existenzielle Erschütterung herbeiführen, die ihn in die Einsamkeit der Gralssuche entlässt.

Dass Parzival gerade nicht den Handlungsmustern des Vaters folgt, macht Wolfram – ähnlich wie an vielen anderen Stellen – durch den Kunstgriff der bildhaften Gegenüberstellung deutlich, indem er durch das grobe Handlungsgerüst eine Vergleichsebene schafft, um aber in den feineren Nuancen und Details der Handlung gerade die Unterschiede umso augenfälliger hervortreten zu lassen. Wie sein Vater kommt Parzival in eine belagerte Stadt, aber nicht mit großem Hofstaat und mit viel Pomp, sondern allein und still – man flieht anfangs vor ihm, weil man glaubt, so aufrecht könne nur ein Ritter mit großem Gefolge daherkommen. Beide Kriegsschauplätze sind Küstenstädte, aber in Patelamunt leiden die «Mohren» keine wirtschaftliche Not. Sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde, sind offenbar wohlgenährt und können sich deftigen Braten leisten. Die Bewohner von Pelrapeire hingegen sind völlig ausgehungert – «ihnen tropfte kein Bratensaft in die Kohlen» – und bleich «wie Asche und fahler Lehm». Die Zierlichkeit, ja Schmächtigkeit der Königin selbst wird eigens betont. Sie wird so feingliedrig geschildert, dass sie fast zu entschweben scheint, fast unkörperlich wirkt.

In beiden Städten handelt es sich um einen Krieg wegen verschmähter Liebe, in Patelamunt allerdings liegt die Ursache in einer selbstsüchtigen Verfehlung der Königin, während in Pelrapeire die Unschuld der Königin offenkundig und der Bedränger – der König Klamidé – ein Gewalttäter ist. An beiden Orten ist die Lage anscheinend aussichtslos und ist es der heldenhafte Einzelkampf des Fremdlings, der das Blatt wendet und die Herrscherin befreit. In beiden Fällen auch ist es spontane, intensive Liebe, die als Antriebskraft für diese Befreiungstat dient. Aber wie ganz anders gestaltet sich die Begegnung zwischen den beiden Liebenden! Schon in dem Namen der Königin von Pelrapeire – Kondwiramurs – lässt uns Wolfram erahnen, dass es ihm hier um das Wesen der Liebe selbst geht.

In seiner Schilderung der vollkommenen Schönheit Kondwiramurs greift Wolfram zum Bild der «tauigen Rose», aber im Gegensatz zur Beschreibung Belakanes, wo er einen solchen Vergleich ironisiert, stellt er ihn hier ins Zentrum seiner Charakterisierung. Durch den «süßen Tau» erstrahlt diese Rose in einem Glanz («schîn»), «der beidiu wîz ist unde rôt».1 Das Bild einer zugleich weiß und rot erscheinenden Rose strapaziert unser Vorstellungsvermögen. Aber wir können im Zusammenklang der Farbempfindungen durchaus nachfühlen, worum es dem Dichter hier geht. Das Rot, die Farbe der Liebe und der Herzenswärme, ist hier vereint mit dem Weiß der seelisch-geistigen Reinheit und Unschuld. Und so sind auch die Liebesbande, die zwischen beiden geknüpft werden, zunächst rein seelisch-geistiger Art.

Nicht ein Hauch erotischer Anzüglichkeit ist im Verhalten der beiden jungen Menschen zu spüren, wenngleich der sinnliche Eindruck der Begegnung auf beiden Seiten sehr intensiv ist und sie seelisch heftig bewegt. Ihre Liebe wächst und entfaltet sich von innen nach außen. In der ersten Nacht erscheint die Königin in einem weißseidenen Hemd, darüber einen langen Mantel aus Samt – auch wenn es nicht eigens gesagt wird, stellen wir ihn uns unwillkürlich rot vor. «Von Kerzen hell wie am Tag war es vor seiner Schlafstätte. Zu seinem Bett ging ihr Weg.» Die beiden begegnen sich in tagheller Nacht, das Dunkle ist vom warmen Licht der Kerzen erleuchtet. Als das Mädchen vor dem noch Schlafenden niederkniet und weint, wird Parzival wach und schaut sie an («daz er si wachende an gesach»). Er richtet sich auf («ûf rihte sich der junge man») und bittet sie, sich zu erheben und sich neben ihn zu legen. Die äußere Gebärdensprache, das Aufrichten im hellen Lichtschein, nimmt vorweg, was sich im Innern des folgenden Gesprächs vollzieht. Kondwiramurs klagt ihm ihre Not, nicht ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen. Denn sie fürchtet, er könne danach nicht mehr schlafen. Eingehüllt in eine Atmosphäre heller Wachheit und empfindsamer Rücksichtnahme, ganz aus innerer Wahrhaftigkeit und nicht etwa unter den Vorzeichen höfischer Etikette oder in Courtoisie veredelter Liebesleidenschaft, finden sich die beiden in einer Liebesszene ganz individueller Art – bis zum Morgengrauen.

Eher wolle sie sich selber töten, als sich der Gewalt Klamidés zu ergeben, klagt die Königin. Als sie in der Offenbarung ihres Schicksals auch Liaze erwähnt, fällt Parzival aus seinem durchgeistigten Gemütszustand zurück in die Niederungen des Alltagsbewusstseins mit seinen gewöhnlicher Emotionen: «sîn hôher muot kom in ein tal: daz riet Lîâzen minne.» Hier – wie schon verschiedentlich seit seinem Wegritt von Gurnemanz – wird wieder deutlich, dass ihm die triebhafte und körperliche Liebe nicht mehr fremd ist. Doch in dieser nächtlichen Szene wird sie ganz außen vor gelassen. In dem Moment der «Talfahrt» bietet Parzival der Königin Hilfe und Schutz an, ohne auch nur einen Gedanken an ein erotisches Abenteuer mit ihr zu verschwenden. Offenbar ist ein geistiger Bund entstanden, der ganz im Mitleiden und im Verständnis des geliebten Wesens wurzelt, ohne jegliche Korrumpierung durch egoistische Wünsche. Das reine Interesse am anderen, ohne vordergründigen Eigennutz und ohne Spekulation mit irgendwelchen Belohnungen, hat zum Erwachen für das fremde und gemeinsame Schicksal geführt. Wir sehen hier, wie sich Parzivals geistige Individualität offenbart und sich gegen die Kräfte einer erwachenden Triebnatur durchsetzt. Die Szene, in all ihrem Liebreiz und ihrer frischen Leichtigkeit, ist durchdrungen von wahrhaftigem, tiefem Ernst. In gewisser Weise klingt hier das Thema des Gralskönigtums an: Handeln aus der Kraft jener geistigen Intuition, die nur die uneigennützige Liebe ermöglicht.

Parzival hat das Wesen der Liebe erfahren. Von nun an wird nicht mehr allein seine Mutter ihn geistig begleiten – von deren Tod er noch nichts weiß –, sondern auch im Irdischen wird ihn die Kraft der Liebe geleiten. Und das ist die «andere Seite» dieser Intuition: Kondwiramur, die «Geleiterin der Liebe», wird davor bewahrt, sich von der Erde zu lösen, sich zu entleiben. Sie wird durch Parzival mit neuen Lebenskräften begabt. Das kündigt sich schon im ersten Augenblick ihrer Begegnung an. Gleich nach der Ankunft Parzivals kommen wie durch ein Wunder wieder Nahrungsmittel übers Meer. Ganz überraschend und unvermittelt werden sie von Herzog Kyot und seinem Bruder aus ungenannter Quelle angekündigt, als die Königin gegenüber Parzival die große Hungersnot beklagt.2 Kyot von Katalangen ist ihr Oheim und der Gatte Schoysianes, der ersten Gralsträgerin von Munsalvaesche, die bei der Geburt ihrer Tochter Sigune starb. Wir ahnen hier die Nähe des Gralswirkens im Umfeld von Parzivals Erscheinen. Und nach seinem ersten Schwertkampf – mit Klamidés Seneschall Kingrun – legen wie aus heiterem Himmel Schiffe mit reicher Nahrung an3 – «das fügte Gott in seiner Weisheit» –, und Parzival lässt es sich nicht nehmen, die Nahrung eigenhändig zu verteilen. Später berichten dann die freigelassenen Ritter aus Klamidés Heer den ihrigen sogar: «Ihr braucht uns nicht zu bemitleiden … Da drinnen gibt es Speise von solcher Kraft, wenn ihr hier noch ein Jahr lagern wolltet, sie könnten euch noch mit ernähren.»4

Nachdem nun den Bürgern «wieder etwas in die Kohlen tropfte», werden die beiden aufgefordert, die Hochzeitsnacht zu begehen, was sie auch bejahen. Aber sie lassen sich nicht von den gesellschaftlichen Erwartungen bestimmen. Auch jetzt, in der zweiten Nacht, kommt es nicht zur körperlichen Vereinigung. Die beiden liegen nebeneinander und haben einander, jeder die Seele des anderen, aufmerksam und liebevoll im Bewusstsein. «Den man den Roten Ritter nannte, er ließ die Königin Jungfrau bleiben.» Es bleibt beim Gespräch, aber am nächsten Tag wähnt man sich «verheiratet» – nach der geistigen Vereinigung folgt die gesellschaftliche. Kondwiramurs bindet sich zum Zeichen der Ehe die Haube auf und gibt ihrem Gatten Burgen und Land. «si wâren mit ein ander sô, daz si durch liebe wâren vrô, zwên tage unt die dritten naht.» – Erst in der dritten Nacht üben sie endlich «den alten und neuen Brauch» – glücklicherweise fügen sich hier die Ratschläge der Mutter und die Lehren Gurnemanz’ einmal zusammen: «Oft dachte er an das Umarmen, das seine Mutter ihm geraten hatte; auch Gurnemanz hatte ihn gelehrt, Mann und Frau seien eins.»

Wie so oft bei Wolfram, kann man sich auch hier den Zusammenhang der Ereignisse nur schwerlich in dem dargestellten zeitlichen Rahmen vorstellen. Zwar ähnelt das Verhalten der beiden Liebenden äußerlich der traditionellen Übung der Enthaltsamkeit in den sogenannten «Tobiasnächten». Was wir aber von ihrer seelisch-geistigen Begegnung und den näheren Umständen ihrer Liebesbeziehung erfahren, ist himmelweit entfernt von zwanghafter Askese oder religiös motiviertem Ritual. Die drei Nächte sind vielmehr Stufen, auf denen sich die individuelle Liebe in die Welt entfaltet – geistig, seelisch, leiblich. So sehen wir nun überall im Handeln Parzivals – bei aller Streitbarkeit – eine Liebekraft wirksam werden, die über die Tugenden der ihn umgebenden Ritterwelt hinausgeht. Als Klamidé besiegt am Boden liegt und «Sicherheit bieten» soll, weigert er sich – wie zuvor auch schon sein Seneschall –, zum Hofe des Gurnemanz zu gehen. Denn er hat ihm «Herzensleid» zugefügt und weiß nur zu gut, dass in dessen Welt die Kraft des Verzeihens nicht ausreicht, ihm Gnade zu gewähren. Auch die Bürger von Pelrapeire fürchtet er aus dem gleichen Grund. Schließlich ist ihm nicht verborgen geblieben, wie die Bewohner der Stadt sich das Recht nahmen, an den wehrlos am Boden liegenden Rittern seines Heeres für das angetane Leid Rache zu üben – was Parzival übrigens, als er es bemerkt, strengstens untersagt. Kingrun und Klamidé werden daher schließlich zum Artushof geschickt, wo sie das Sicherheitsgelöbnis vor der guten Kunneware ablegen müssen. So großherzig folgt Parzival dem Rat seines Lehrmeisters und so nachsichtig behandelt er sogar seine erbitterten Todfeinde.

In Parzivals Gegenspieler Klamidé können wir dagegen sehen, wie besitzergreifende, fordernde Liebe in Hass und Gewalt mündet. Alle anderen sollen sich für ihn opfern, seinem Verlangen dienen. Dabei handelt er zwar selbstbezogen, aber keineswegs eigenverantwortlich aus individuellen Kräften: Er hat sich nicht selbst in der Gewalt, sondern lässt sich treiben, und wie ein Schatten begleitet ihn der gewalttätige Kingrun. Vor diesem hat auch die Königin mehr Angst als vor seinem Herrn selbst, denn ohne ihn hätte dieser den tödlichen Kampf mit Liazes Bruder Schenteflurs verloren, wie der König in Todesnot gesteht.5 So maßlos ist Klamidés Gier nach Liebe, dass er sich sogar dazu versteigt, den Schmerz über die vielen für ihn gefallenen Ritter für gering zu achten, verglichen mit der Verweigerung Kondwiramurs.6 Ja, das Maß seines Selbstmitleids ist so ungeheuer, dass ihn sogar die Strafe für den Verrat des Judas geringer dünkt – welch hintergründig-zynisches Bild für die Unfähigkeit, selbstlos zu lieben! Später, als Parzival verzweifelt den Artushof verlässt, um auf Gralssuche zu gehen, meint Klamidé, niemand könne einen größeren Verlust erleiden als er: «‹Des Grales Wert (werdekeit) … könnte mir nicht das Herzensleid (herzeleit) aufwiegen, das ich mir vor Pelrapeire zugezogen habe.›»7 Dabei ist es doch gerade diese Selbstbezogenheit, die ihn der Liebe Kondwiramurs unwürdig macht.

In einer der zahlreichen feinsinnigen Nebenhandlungen können wir dann verfolgen, welche Verwandlung die verzeihende Liebe bewirken kann. Beide, Klamidé und Kingrun, werden am Hofe von König Artus wohlwollend aufgenommen. Dass dem gefangenen König hier der Artusritter Gawan als Gesellschafter und Seelenbetreuer zugewiesen wird, verweist uns zum ersten Mal auf die besonderen sozialen Fähigkeiten dieses Menschenkenners, der dann ja einen großen Teil der Aventüren übernehmen wird. Es mag auch überraschen, dass man Klamidé in seinem Herzensjammer später Kunneware zur Frau gibt. Es ist jedoch offensichtlich, dass Wolfram keineswegs bestrebt ist, den selbstbezogenen und liebeskranken König als bloßen Bösewicht zu brandmarken, er bezeichnet ihn sogar als «Besiegten ohne Falschheit» («der betwungene valsches vrîe»).8 Mit seiner gewalttätigen Leidenschaft und seiner rücksichtslosen Selbstsucht bewegt er sich durchaus noch im Rahmen der ritterlichen Minnewelt. Haben wir doch gesehen, dass in der Tugendlehre Gurnemanz’, jenes Inbegriffs ritterlichen Edelmuts, die Nächstenliebe durchaus Grenzen hat, wenn es um die eigenen Herzensangelegenheiten geht. Deshalb ist auch hier der Konflikt, wie schon der mit Ither, aus den Kräften des Artusrittertums heraus nicht lösbar und hätte ohne Parzivals Eingreifen zu Tod und Verderben geführt. Ausgerechnet Kingrun ist es, dem – wohl durch das uneigennützige Auftreten Parzivals – für diese Zusammenhänge die Augen geöffnet werden, sodass er seinem Herrn erklärt: «‹Soll Artus jetzt den Ruhm davontragen, weil Keye im Zorn eine edle Fürstin schlug, die mit Herzensverständnis und ihrem Lachen den erwählt hat, dem man ehrlich und wahrhaftig den höchsten Ruhm zuerkennen muss? Die Berteneisen meinen, den Ruhmeszweig ganz hochstecken zu können: aber es ist ohne ihre Mühe so geschehen (ân ir arbeit istz getân), dass tot ihnen dahergebracht wurde der König von Kukumerland …›»9

In seinem Verlangen nach Kondwiramurs hat Klamidé zu hoch gegriffen. Doch unter der besonnenen Obhut Gawans wird er in das Leben der Artuswelt eingeführt. Die fürsorgliche, friedenstiftende Herzensklugheit Kunnewares, der er dort begegnet, wird ihn schließlich mit seinem Schicksal aussöhnen. Später fügt es sich dann, dass Klamidé und Kunneware den «Brautlauf» zu einem Zeitpunkt vollziehen, als Parzival, der diese Ehe vermittelt hat,10 die Suche nach dem Gral aufnimmt und die Artusrunde in Auflösung begriffen ist. Für Parzival ist der Artushof nur ein früher Durchgangsort auf einem viel weiter führenden, einsamen Schicksalsweg.

Der Parzival Wolframs von Eschenbach

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