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Wallfahrt und Wallfahrtsindustrie
ОглавлениеDie Wallfahrten nach Einsiedeln war in den Jahrzehnten um 1800 merklich zurückgegangen: teils der politisch unsicheren Zeiten wegen, teils weil weltliche und auch geistliche Obrigkeiten sie als Zeitverschwendung und voraufklärerisches Relikt aktiv bekämpften. Zudem machten sich in breiteren Bevölkerungsschichten Tendenzen der Säkularisierung bemerkbar, die auch die religiöse Praxis beeinflussten.84
Ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und verstärkt in den 1860er-Jahren ist jedoch wieder ein Aufschwung der Wallfahrt festzustellen. Dies lässt sich mit moderneren Transportsystemen – besseres Strassennetz, Dampfschiff, Eisenbahn – erklären, welche die Reisezeit für die Pilger massiv verkürzten. Der Aufschwung ist aber auch im Kontext der katholischen Revitalisierungsprozesse zu situieren, die international zu beobachten waren. Die Wallfahrt war ein integraler Bestandteil einer katholischen Massenbewegung, die sich im 19. Jahrhundert gegen den als negativ empfundenen modernen Zeitgeist formierte.85
In der Zeit zwischen 1860 und Erstem Weltkrieg zählte Einsiedeln durchschnittlich rund 170 000 Pilger pro Jahr. Wenn wir die Pilgerzahlen jedoch für einen längeren Zeitraum von etwa 1700 bis 1900 betrachten, zeigt sich, dass sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar etwas ansteigen, insgesamt aber erstaunlich konstant bleiben.86 Der Aufschwung der Wallfahrt ist indes nicht nur als quantitatives Phänomen zu verstehen. Sie erhielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine neue Qualität. Neben den traditionellen Landes- und Pfarreiwallfahrten kamen moderne Pilgerzüge auf, die Laien aus privatem Antrieb organisierten, sowie katholische Versammlungen und Grossveranstaltungen, die im Wallfahrtsort stattfanden und ebenfalls eine neue Spielform der traditionellen Wallfahrt darstellten. Einsiedeln entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Schaubühne des internationalen Katholizismus.87
Während in anderen Orten der Innerschweiz der Tourismus für wirtschaftliche Impulse sorgte,88 war es in Einsiedeln die Wallfahrt. Vor allem die Wirte der zahlreichen Gasthäuser profitierten von ihr. Die Steuerregister von 1848 führten unter den zwölf vermögendsten Einsiedlern nicht weniger als sieben Wirte.89 Zahlreiche Wirte hatten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder ins Gastgewerbe investiert, nachdem die Branche während der französischen Besetzung völlig zusammengebrochen war. Gerold Meyer von Knonau zählte 1835 in seiner Darstellung «Der Kanton Schwyz» bereits wieder 55 Wirtshäuser und 20 «Pintenschenken», also etwa gleich viele Betriebe wie zu Spitzenzeiten im 18. Jahrhundert.90 Die Zahl der Gastbetriebe nahm in den folgenden Jahrzehnten weiter zu. In den 1870er-Jahren wurden in Einsiedeln 25 «Pinten» und rund 70 Wirtshäuser gezählt.91
Weltliche Aspekte waren schon in der Vormoderne ein fester Bestandteil der Wallfahrt gewesen, und auch im 19. Jahrhundert blieb die Wallfahrt für viele Gläubige nicht nur eine religiöse Reise, sondern auch eine «Lustreise».92 Der Wirtshausbesuch, der Spaziergang in der näheren Umgebung und Souvenirs gehörten einfach dazu. Nun aber vermischten sich ältere Formen der Wallfahrt mit neuen Formen des touristischen Reisens. Peter Hersche sieht gar einen direkten Weg von der vormodernen Wallfahrt in die «Freizeit- und Erlebniskultur» unserer Tage.93
Zur selben Zeit entwickelten sich die verschiedenen der Wallfahrt zudienenden Gewerbe in Einsiedeln zu einer regelrechten Industrie. Der Historiker und Mönch Odilo Ringholz bezeichnete die Wallfahrtsindustrie als eine «nothwendige Folge» der Wallfahrt.94 Dazu zählte er neben dem Gastgewerbe alle Geschäfte, die wie der Benziger Verlag Gebetbücher, Bilder und Devotionalien industriell herstellten. 1908 soll es in Einsiedeln 68 Devotionalienunternehmungen gegeben haben. Für den lokalen Marktleader «Devotionalien Rickenbach» sollen damals achtzig Heimarbeiterinnen tätig gewesen sein.95 Auch Künstler und Kunsthandwerker zählte Ringholz zur Wallfahrtsindustrie. Kaum mehr bekannt sind jene Künstlerbiografien, vor allem im Bereich des Wachsbossierens, die ab dem 18. Jahrhundert aus dem Umfeld der Einsiedler Wallfahrtsindustrie hervorgingen.96
Heute ebenfalls weitgehend vergessen ist, dass Einsiedeln am Ende des 19. Jahrhunderts ein schweizweites Zentrum der Herstellung und Verbreitung religiöser Statuen war. In der Firma Lienhardt, einem der grösseren Unternehmen dieser Art am Platz, produzierten und verkauften um 1880 zwölf Angestellte religiöse Statuen. Das Unternehmen, das der ehemalige Klosterbuchdrucker Matthäus Lienhardt 1798 gegründet hatte, war spezialisiert auf Einsiedler- und Lourdes-Madonnen, Herz-Jesu- und Herz-Mariä-Statuen. Es belieferte sowohl Geschäfte im Dorf als auch auswärtige Kunden.97
Genaue Angaben zur Zahl der Personen zu machen, die einer direkt von der Wallfahrt abhängigen Arbeit nachgingen, ist freilich kaum möglich. Wo soll man den Bauern einordnen, der über den Winter in Heimarbeit Devotionalien herstellte? Wo seine Frau, die in Heimarbeit Seide wob oder Rosenkränze kettelte?98 Der Rechenschaftsbericht des Regierungsrats von 1882 nannte für Einsiedeln die Zahl von 976 Personen, die mit der Produktion von Andachtsartikeln beschäftigt waren. Demgegenüber stand die Zahl von 630 Seidenweberinnen und Seidenwebern.99 Etwa ab der Jahrhundertmitte, so darf man annehmen, überflügelte die Wallfahrts- die Textilindustrie, was die Zahl der Beschäftigten betraf, und wurde nach der Landwirtschaft zum wichtigsten Wirtschaftszweig der Region. Vermutlich wandten sich nicht wenige Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter, die infolge der Mechanisierung des Spinnprozesses in den 1820er- und 1830er-Jahren ihren Verdienst verloren, einer neuen Tätigkeit in der Wallfahrtsindustrie zu. Bis zu einem gewissen Grad dürften sich die beiden Industrien auch ergänzt haben, zumal die Pilger vor allem im Sommerhalbjahr nach Einsiedeln kamen und im Winterhalbjahr Zeit blieb, einer anderen Tätigkeit wie dem Seidenweben nachzugehen.
Halten wir an dieser Stelle einige zentrale Punkte fest: In Einsiedeln entwickelte sich im 19. Jahrhundert auf der Grundlage der Wallfahrt eine Industrie, die Bücher, Bilder, religiöse Statuen, Rosenkränze, Kerzen und Devotionalien hervorbrachte sowie weitere Dienstleistungen für die Pilger erbrachte. Der Benziger Verlag und weitere Einsiedler Druckerei- und Verlagsunternehmen haben sich aus dieser Wallfahrtsindustrie heraus entwickelt.
Die Nähe zu Zürich spielte bei dieser Entwicklung, vor allem in der Textilindustrie, sicherlich eine grosse Rolle. Wichtiger waren aber Impulse durch die Wallfahrt sowie die Stellung des Klosters als traditionelles Gewerbezentrum. Die Wallfahrer stammten ohnehin nicht aus dem protestantischen Zürich und nicht nur aus den umliegenden katholischen Kantonen. Das Einzugsgebiet umfasste sämtliche katholischen Orte der Schweiz sowie das umliegende Ausland. Schon im 18. Jahrhundert stammten die Pilger zu einem Drittel bis zur Hälfte aus dem Ausland.100 Die Wallfahrt brachte Verdienst ins Dorf und brachte einigen Familien das notwendige Kapital für weitere geschäftliche Investitionen.
Es wäre lohnenswert, Einsiedeln in einem internationalen Kontext mit anderen Wallfahrtsorten in Europa zu vergleichen. Bildeten sich dort ähnliche Industrien heraus? Solches ist zumindest zu vermuten. Im bayerischen Wallfahrtsort Altötting beispielsweise blühte im 19. Jahrhundert der Devotionalienhandel, in Kevelaer an der deutsch-niederländischen Grenze entwickelte sich ebenfalls eine bemerkenswerte Verlagsbranche, und Lourdes und Paray-le-Monial in Frankreich waren im ausgehenden 19. Jahrhundert Zentren der Produktion von religiösen Statuen. Die Liste liesse sich fortsetzen.