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Das Verhältnis des Katholizismus zur Moderne

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Wie hat die katholische Kirche auf die Herausforderungen der Moderne reagiert? Ist sie selbst als ein gestaltungsfähiger Akteur in einer modernen Welt zu verstehen oder doch eher eine Überlebende aus vormodernen Zeiten, die den Prozessen der Modernisierung reaktiv ausgesetzt war? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen hat eine lange Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Im Gesamtfeld der Fortschritts- und Modernisierungstheorien nahm die Religion bis vor wenigen Jahrzehnten eine randständige Position ein. Die meisten Modernisierungstheoretiker interessierten sich primär für Ökonomie und Politik, hingegen kaum für Religion. Umgekehrt interessierten sich Religions- und Kirchenhistoriker nur am Rand für Ökonomie und Politik.10 Dies änderte sich ab den 1970er-Jahren, als weltweit orthodoxe und teilweise fundamentalistische Kirchen sowie religiöse Bewegungen aufkamen, die so gar nicht ins Bild einer fortschreitenden Säkularisierung passten. Plötzlich war von einer «De-Säkularisierung», einer «Wiederverzauberung der Welt» und einer «Rückkehr der Götter» die Rede.11

Zunehmend begannen sich auch Historiker und Sozialwissenschaftler mit religiösen Themen in der Moderne zu beschäftigen.12 Die Hinwendung zum Religiösen geschah allerdings langsam. Noch im Jahr 1989 sah sich Urs Altermatt veranlasst, seinem Buch «Katholizismus und Moderne» ein «Plädoyer für die Sozialgeschichte des Religiösen» voranzustellen. Heute ist die Situation eine andere. Das Feld der Forschungsliteratur zum Thema ist mittlerweile stark gewachsen und unüberschaubar breit geworden. Wir behelfen uns im Folgenden damit, einige Argumente dreier Forscher kurz vorzustellen, die dem Feld seit den 1980er-Jahren wichtige Impulse verliehen haben.

Der Schweizer Historiker Urs Altermatt führte in seinem Buch von 1989 verschiedene seiner in den zwei Jahrzehnten zuvor erarbeiteten Thesen und Themen zusammen. Wie es der Untertitel «Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert» andeutet, ist die Schweiz Altermatts Untersuchungsraum, die er aber in einem internationalen Kontext situiert. Spätere Übersetzungen auf Französisch, Italienisch, Polnisch und Ungarisch zeugen von der Relevanz des Buches über die Schweizer Grenzen hinaus. Zeitlich behandelt Altermatt – mit Vor- und Rückgriffen – die Periode zwischen 1850 und 1950. Damit setzt er sich über gängige Epochengrenzen hinweg und nimmt in gewisser Weise auch die oben erwähnte These eines «Zweiten Konfessionellen Zeitalters» in der Moderne vorweg. Wie es der Titel des Buches andeutet, betont Altermatt die Ambivalenzen zwischen dem Katholizismus und der modernen Welt. Die katholische Kirche habe einen «Antimodernismus mit modernen Mitteln» betrieben, so eine breit rezipierte These des Buches, und gezielt moderne Neuerungen wie die Presse und Massenmedien oder das Vereins- und Verbandswesen dazu genutzt, gegen diese Moderne gerichtete Botschaften zu verbreiten.

Altermatt sah in Teilbereichen aber auch eine Modernisierung des Katholizismus. Deutlich kommt dies in seinen Überlegungen zur «katholischen Subgesellschaft» und zur Emanzipation der Katholiken in derselben zum Ausdruck. Altermatt argumentiert, die Schweizer Katholiken, die nach dem verlorenen Sonderbundskrieg 1847 nicht nur quantitativ, sondern auch sozial und politisch in eine Minderheitenposition geraten waren, hätten sich im jungen Schweizer Bundesstaat in eine organisierte und durchstrukturierte «Subgesellschaft» zurückgezogen. Von dort aus hätten sie sich letztlich – etwa über die Gründung von eigenen Parteien – auch politisch Gehör verschafft, sich also von der protestantischliberal geprägten Mehrheitsposition «emanzipieren» können.

Zahlreiche in Fribourg und anderswo verfasste Qualifikationsarbeiten haben Altermatts Thesen später empirisch unterfüttert.13 Er selbst hat seine Argumente in späteren Publikationen immer wieder variiert, tendenziell in Richtung Vielstimmigkeit verschoben und die modernisierenden Tendenzen innerhalb des Katholizismus betont.14

Der niederländische Historiker Staf Hellemans vertritt eine radikalere Position als Altermatt. In mehreren seit den frühen 1990er-Jahren entstandenen Publikationen entwickelte er sein Argument der «religiösen Modernisierung».15 Unter Modernisierung versteht er dabei nicht einen teleologischen Prozess, der auf einen wie auch immer gearteten Idealzustand zuläuft. Vielmehr ortet er eine Bewegung innerhalb des «sozialen Gebildes der Moderne», das den Rahmen für das gesamtgesellschaftliche Leben, also auch für den Bereich der Religiosität, bilde. Eine konservative Bewegung wie der Ultramontanismus gehört in dieser Optik genauso zur Moderne wie liberale Reformbestrebungen: Beide spielen sich im selben gesamtgesellschaftlichen Rahmen ab und reagieren auf dieselben Herausforderungen – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.16

Die Modernisierung ist für Hellemans etwas Unvermeidbares. Folglich, so sein Argument, habe sich der Katholizismus nicht weniger modernisiert als andere Konfessionen und Religionen oder andere Bereiche des Lebens wie die Politik oder die Ökonomie. Die Geschichte des Katholizismus in der Moderne sei deshalb konsequent als eine Geschichte der Modernisierung zu erzählen.

Der Blick auf diese religiöse Modernisierung sei allerdings rhetorisch verstellt, schreibt Hellemans, da Säkularisierungsbefürworter stets propagiert hätten, der Katholizismus sei nicht kompatibel mit der Moderne; auf der anderen Seite hätten die katholisch-konservativen Strömungen die Kontinuitäten zu vormodernen Zuständen auf Kosten des historischen Wandels in den Vordergrund gerückt.17 Hellemans seinerseits zieht daraus den Umkehrschluss und betont radikal den historischen Wandel gegenüber der Präsenz vormoderner religiöser Traditionen in der Moderne.

Der französische Islamwissenschaftler und Religionshistoriker Olivier Roy wendet sich in seinem Buch «La Sainte Ignorance» (2008)18 – in diesem Punkt Hellemans nicht unähnlich – gegen die Vorstellung einer «Rückkehr des Religiösen» im ausgehenden 20. Jahrhundert. Er vertritt die These, dass die Säkularisierung die Religionen zwar nicht ausgelöscht, diese aber verändert habe, indem sie sie aus ihrem kulturellen Kontext herauslöste. Die «Rückkehr des Religiösen» sei nicht mehr als eine «optische Täuschung», hervorgerufen durch eine Säkularisierung, die das Religiöse erst hervorhebe und sichtbar mache, indem sie die Religionen zu einer Neuformulierung in einem «säkularisierten Raum» zwinge. Fundamentalistische Formen von Religion seien so gesehen nicht vor- und auch nicht antimodern, sondern eben gerade besonders moderne Phänomene, da sie ihre eigene Dekulturation akzeptieren und daraus ihren «Anspruch auf Universalität» ableiten würden. Der Weg zum Heil führe bei solchen modernen Religionen nicht über das Wissen, sondern über den Glauben: Roy spricht von einer «sainte ignorance». Das Argument ist universal gedacht. Es bezieht sich nicht auf eine bestimmte Religion oder eine einzelne Region, sondern auf alle religiösen Bewegungen in der modernen Welt. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Säkularisierung, Religion und Kultur lassen sich indes auch als Ausgangspunkt für konkrete, problembezogene Fragestellungen anwenden.

Die drei Beispiele zeigen uns erstens, dass wir gut daran tun, Prozesse der religiösen Modernisierung genau zu studieren – auch dort, wo lange Traditionen und Formen vermeintlich zeitloser Religiosität vorliegen. Wir sollten also nicht nur danach fragen, welche modernen Mittel die Kirche einsetzte, sondern auch danach, wie sie alte Traditionen im 19. Jahrhundert umdeutete.19 Mit welchen neuen Funktionen und Attributen wurden beispielsweise die Heiligen ausgestattet? Und blieb die barocke Andachtsliteratur, die ihren Titeln nach bis ins 20. Jahrhundert in Tausenden von Ausgaben und Millionen von Exemplaren verbreitet wurde, die ganze Zeit dieselbe?

Die drei Beispiele zeigen uns zweitens aber auch, dass es sich lohnt, auf das Verhältnis zwischen Religion und Kultur zu achten. Die Epoche zwischen 1830 und 1960 war in der Geschichte des Katholizismus ein historischer Sonderfall. Den Einfluss, den die katholische Kirche bis in die hintersten Winkel des Alltags und des Familienlebens der Katholiken ausübte, gab es weder vorher noch nachher. Franz-Xaver Kaufmann sprach für diese Epoche von einer «Verkirchlichung»20 des Katholizismus, in der die Kirche sakralisiert, hierarchisiert und klerikalisiert und die Katholiken damit einhergehend diszipliniert wurden. Die Disziplinierung funktionierte durch eine tiefe Inkulturation des katholischen Glaubens und seiner Wertvorstellungen. Die Inkulturation vollzog sich in allen Sphären des Lebens: in der Schule, in Vereinen und im Gottesdienst genauso wie bei der Lektüre von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern.

Dem heutigen Betrachter mag das «katholische Milieu» des 19. und 20. Jahrhunderts zunächst als eine Art religiöser Monolith erscheinen. Diese hohe Sichtbarkeit könnte indes, liesse sich in Anlehnung an Olivier Roy sagen, damit zusammenhängen, dass die Säkularisierung weite Bereiche der Gesellschaft tatsächlich erfasste und dadurch die (noch) nicht säkularisierten Bereiche umso deutlicher hervortreten liess. Für die Katholiken aber, die sich innerhalb ihres Milieus bewegten, liessen sich Kultur und Religiosität kaum voneinander trennen. War es ein religiöser Akt, eine Fortsetzungsgeschichte in einer Missionszeitschrift zu lesen? Oder sonntags den Gottesdienst und anschliessend das Wirtshaus zu besuchen? Erfolgte der Eintritt in einen katholischen Turnverein aus religiöser Überzeugung? Dieser «kulturelle Katholizismus» ist, genauso wie aufgeklärt-liberale oder auch fundamentalistische Formen, eine von mehreren möglichen Gestalten, die Religionen in der Moderne annehmen können.

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