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2.2.9 Undoing gender, Grade an SalienzSalienz und Verzicht auf Relevantsetzung

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Gegen die Omnirelevanzannahme von Gender, die von weiten Teilen der Gender Studies zunächst geteilt wurde, stellt Hirschauer 1994 seine Idee des undoing gender, einer vorübergehenden situativen NeutralisierungNeutralisierung der Geschlechterdifferenz. Er rekurriert dabei auch auf Goffman (1977), der unterschiedliche Inszenierungsgrade von Gender seinerzeit schon im Blick hatte. Hirschauer (1994, 676) verweist auch auf die relative Signifikanz der Geschlechterunterscheidung im Vergleich zu anderen Klassifikationen wie Alter, Ethnizität oder Schicht. Dass bei allen Identitätsklassifikationen mit Kreuzungen und Kopplungen gerechnet werden muss, bestätigt die Interaktionsforschung schon seit langer Zeit (Günthner/Kotthoff 1991). Es gilt immer im Kontext zu rekonstruieren, welche Mitgliedschaftskategorien in welcher Kopplung zum Tragen kamen.

Wir stimmen dem Befund zu, dass es Kontexte gibt, in denen Geschlecht kaum eine Rolle spielt, in den Hintergrund des Handelns tritt. Wir stimmen auch zu, dass dieses Absehen NeutralisierungsarbeitNeutralisierung verlangen kann, die als undoing gender fassbar wäre (etwa bei institutionellen Entgenderisierungsverfahren wie Bemühungen um gleiche Repräsentanz von Männern und Frauen in bestimmten Berufsgruppen). Dies setzt allerdings voraus, dass für den Phänomenbereich historisch eine Geschichte von großer Genderrelevanz aufgefallen ist. Nur vor einem solchen Hintergrund ist dann die Rückstufung so auffällig, dass das Konzept des „undoing“ greifen würde.

Wenn man für die soziale Konstruktion von Gender eine Relevanzabstufung zwischen den Polen des ‚doing‘ und ‚undoing‘ versucht (Kotthoff 2002a, 2012a), begegnet man PraktikenKommunikative Aktivität und stilistischen Realisierungen derselben, die sozusagen hinter dem Rücken der Beteiligten mehr oder weniger Geschlechterrelevanz ergeben. Sie treten nur bei eklatanter Abweichung vom Erwartbaren ins Bewusstsein. Beim Sprechen sind es z.B. StimmeStimme und Prosodie, welche sowohl mit dem Körper verbunden sind als auch kulturell auf bestimmte Genderdifferenzen eingespielt werden, die normalerweise im Hintergrund der Interaktion bleiben (Kap. 3). In einigen Bereichen der Sportbekleidung ist die Genderisierung so heruntergefahren, dass beispielsweise bei Turn- oder Bergschuhen vieler Marken nur Größenunterschiede zählen. Da sonst im Schuhgeschäft eklatante Differenzierungen am Werk sind, die den Frauenschuh mit anderem Leder, Riemchen oder Absätzen bis hin zum Stiletto ausstatten und verzieren und den Männerschuh funktional und flach gestalten, kann im Sportschuhbereich beispielsweise von „undoing“ gesprochen werden.

Gender tritt in einer Abstufung von Relevanz und SalienzSalienz auf. In die unauffällige Alltagsbekleidung ist Gender beispielsweise dahingehend eingeschrieben, dass Männer in der westlichen Welt keine Röcke und Kleider tragen, Frauen erstens mehr Schmuck und zweitens einen besonderen Schmuck tragen, derzeit auch betont enge Hosen, um nur ein paar Besonderheiten zu nennen, die über die Jahrzehnte nur leicht variieren (hier ein Satz aus einer Werbung: „Ladies, show your legs mit Skinny Jeans! Skinny Jeans betonen deine Beine und bringen deine Kurven toll zur Geltung […]“)1. In den letzten drei bis vier Jahren hat sich an Schulen und Hochschulen im deutschen Sprachraum der hautenge, sehr körperbetonte Hosentyp („leggings“) als der am meisten verbreitete Typ durchgesetzt. Damit setzen junge Frauen ihren Körper mit seiner Kontur relevant. Diese genderdifferenten Hosen gehören unbedingt zu den Phänomenen, die Gender als bemerkbare Identitätskomponente kommunizieren und auch körperliches Geschlecht, weil die Hosen beispielsweise Schenkel und Hinterteil betonen. Greift der Mann zu einer solchen Strumpfhose oder zur Perlenkette, würde dies zunächst als „crossing“ bemerkt (mehr dazu in Kap. 12). In der Soziolinguistik wird das „Hineinwandern“ in fremde sprachliche Territorien als crossing bezeichnet (Androutsopoulos 2001). Wenn deutsche Jugendliche plötzlich ethnolektal reden, greifen sie einen Stil auf, der zunächst unter den GastarbeiterInnen zu Hause war und deutschen Jugendlichen streng genommen nicht gehört. Ähnlich würden sich Männer mit einer sogenannten „Skinny Jeans“ oder Perlenkette um den Hals verhalten2. Wenn dies von anderen Männern aufgegriffen würde, könnten wir entweder von undoing gender rund um die Semiotik der Leggins oder Perlenkette sprechen. Undoing will mit seiner spezifischen Veränderung einer Zuordnung bemerkt werden. Oder wir rekonstruieren die bemerkbare StilisierungStilisierung (Selbst- und Fremd-S.) von Inter- oder TransgenderTransgender.

Im flüchtigen Alltagshandeln ergibt sich die NeutralisierungNeutralisierung von Geschlecht aber auch unbemerkt, hintergründig, wenig „bemerkbar“ (wie EthnomethodologInnen sagen würden).

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