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2. Doing, undoing und indexing gender in Sprache und Gespräch 2.1 Was heißt „Konstruktion“ von Geschlecht?
ОглавлениеDen Basisgedanken einer gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht stützen wir auf Berger und Luckmanns (1966/1987) Sicht, nach der in der Alltagswelt die Vis-à-vis-Situation zentral ist, in der Menschen in Aktion, Reaktion und Gegenreaktion miteinander interagieren (Reziprozität). Die/der Andere ist dabei als anderes Subjekt wahrzunehmen und bildet ein Spiegelbild für die eigene Ich-Wahrnehmung. Die Vis-à-vis-Interaktion ist dynamisch und flexibel, folgt aber vorgeprägten sozialen Typisierungensoziale Typisierung, die im Laufe der Geschichte spezifische Prägungen erfahren haben. In solche Prägungen wird ein Kind zunächst hineingeboren. Eine historische Perspektive auf soziale Typisierung ist somit von Belang. Der Basisgedanke der gesellschaftlichen Konstruktion verleugnet in unserer Lesart keine biologischen Gegebenheiten, sondern beleuchtet deren Aus- oder Umbau, Unterstreichung und (Ir)Relevantsetzung.
Die sogenannten Baby X-Studien zeigen eindrücklich, dass und wie die Erwachsenen das gesellschaftliche Gendersystem an das Kind herantragen (mehr dazu in Kap. 10). Erwachsene fahren mit dem zunächst von der GenitalienbestimmungGenitalien ausgehenden SortiervorgangSortiervorgang für das Kind fort, indem sie z.B. das Schreien eines männlichen Babys eher als Ausdruck von Aggression hören als das Schreien eines weiblichen: Als den Erwachsenen in einem viel zitierten Experiment erzählt wurde, dass ein kleines Mädchen schreie, interpretierten sie dasselbe Schreien desselben Kindes eher als Ausdruck von Angst (Condry/Condry 1976).
Man hört derzeit manchmal die Kritik, in den Anfängen der Geschlechterforschung sei diese essentialistisch vorgegangen (Kerner 2007); sie sei von einer biologischen Essenz ausgegangen und habe aus dieser psychische Eigenschaften und Verhalten abgeleitet. Wir werden sehen, dass diese Kritik auf die linguistische Forschung nicht zutrifft. Zumindest weite Teile der sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung standen von Anfang an eher in einer durch George Herbert Mead geprägten, interaktionssymbolischen Tradition und in einer sozialkonstruktivistischen.
SozialkonstruktivismusKonstruktivismus in der Geschlechterforschung
In dieser Tradition geht man davon aus, dass Kinder durch eine historisch vorgeprägte Sicht auf soziale Typen indirekt ihre SelbstwahrnehmungSelbstwahrnehmung lernen. Das heißt nicht, dass man sie als eine „black box“ sieht, auf die das gesellschaftlich vorherrschende Genderbild einfach projiziert wird. Prägungen gehen aber entlang gängiger Vorstellungen von weiblichem und männlichem Verhalten vonstatten, die die Kinder in ihren jeweiligen Lebenswelten verstärken oder abmildern können. Im Zusammenhang mit der Interpretation ihrer Äußerungen und ihres Verhaltens bilden sie entsprechende Gefühle auch im Bezug auf sich selbst aus.