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4. Reform

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In neun Bereichen sind Änderungen des Jugendstrafrechts durch das seit 1. Dezember 1990 geltende 1. JGG-ÄndG erfolgt: Ausbau der informellen Erledigungsmöglichkeiten (Diversion), neue ambulante Maßnahmen wie Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich (soziale Gruppenarbeit und Betreuungshilfe sind gleichzeitig nach den seit 1.1.1991 geltenden §§ 29 und 30 SGB VIII Leistungen der Jugendhilfe mit Angebotscharakter), Beschränkung des Freizeitarrestes, Streichung der unbestimmten Jugendstrafe, geringe Erweiteruns der Strafaussetzung zur Bewährung, leichte Verbesserung der Funktion der Jugendgerichtshilfe, Ansätze zur Vermeidung von Untersuchungshaft, Einschränkung der Untersuchungshaft gegen Jugendliche (insbesondere gegen 14- und 15-Jährige) und Ausdehnung der notwendigen Verteidigung auf Fälle, in denen Untersuchungshaft gegen Jugendliche vollstreckt wird.

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Sieht man sich diese Veränderunsen an, wird man kaum von einer umfassenden Reform sprechen können, weil überwiegend nur die im Wege einer „inneren Reform“ veränderte Praxis gesetzlich abgesichert wird (freilich mit der Chance einer größeren Gleichbehandlung; vgl. Viehmann Die große Illusion, ZJJ 2010, 357-362). Der Wert des 1. JGGÄndG liegt eher in der kriminologischen Begründung und der klaren kriminalpolitischen Orientierung. Jugendkriminalität wird in erster Linie als entwicklungsbedingte Auffälligkeit und nicht als Erziehungsdefizit angesehen. Von daher ergibt sich die Forderung nach normalen Reaktionsformen auf ein normales Phänomen. Informelle Erledigung steht im Vordergrund. Neue ambulante Maßnahmen sollen die stationären Sanktionen weitgehend ersetzen, ohne dass sich die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht. Die schädlichen Nebenwirkungen von Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe werden ausdrücklich genannt (BT-Drucks. 11/5829 v. 27.11.1989).

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Überblick zum 1. JGG-ÄndG:

Böhm NJW 1991, 534; Böttcher/Weber NStZ 1990, 561; NStZ 1991, 7; Heinz ZRP 1991, 183 und JuS 1991, 896; Jung JuS 1992, 186; Trenczek DVJJ-J 1990, 58 und NJ 1991, 195, 245, 288; Viehmann FuR 1991, 256.

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Die kriminologischen Erkenntnisse und die kriminalpolitische Orientierung im 1. JGG-ÄndG bilden eine tragfähige Basis für weitergehende und grundlegende Reformen. Der Gesetzgeber ist sich der Notwendigkeit entsprechender Reformschritte bewusst. Am 20.6.1990 hat deswegen der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, bis zum 1.10.1992 den Entwurf des zweiten JGGÄndG vorzulegen, was aber nicht geschehen und mit dem Ende der Legislaturperiode gegenstandslos geworden ist. Lösungsvorschläge sollten insbesondere zu folgenden Problembereichen unterbreitet werden:

Die strafrechtliche Behandlung Heranwachsender;
das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln;
die Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe;
die vermehrte Mitwirkung von Verteidigern im Jugendstrafverfahren;
die Gefahr der Überbetreuung Jugendlicher (Erziehungsgedanke/Grundsatz der Verhältnismäßigkeit);
Straftaten-Denken und Aufschaukelungs-Tendenzen in der Sanktionspraxis der Jugendgerichtsbarkeit;
die Stellung und Aufgaben der Jugendgerichtshilfe im Jugendstrafverfahren;
das Ermittlungs- und das Rechtsmittelverfahren;
die Aus- und Fortbildung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten in Bezug auf jugendstrafrechtliche Besonderheiten;
die verstärkt notwendige Berücksichtigung von Belangen junger Mädchen und Frauen in der Anordnung und Durchführung jugendrichterlicher Sanktionen;
Aufwertung des Täter-Opfer-Ausgleichs (Plenarprotokoll 11/216 vom 20.6.1990).

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Reformbedarf wird also fast ausschließlich in Verfahrensfragen und bei den Reaktionsmöglichkeiten und Tatfolgen gesehen. Ein solcher Ansatz wird als „Flucht ins Prozess- und ins Sanktionsrecht“ kritisiert (Ostendorf in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 331).

Reformüberlegungen könnten aber bereits bei den Straftatvoraussetzungen ansetzen. Dann würde auch die Frage nach der Schaffung eines eigenständigen Deliktskatalogs und weitergehend die Frage nach einem selbstständigen Jugendkonfliktrecht aktuell. Sowohl national wie international wird aber überwiegend für die Trennung von Jugendhilfe einerseits und Jugendstrafrecht andererseits plädiert, freilich mit Weichenstellungen zur Jugendhilfe. Vorschläge für ein neues JGG sind von einer DVJJ-Kommission erarbeitet und auf dem Regensburger Jugendgerichtstag diskutiert worden (DVJJ-J 1992, 4 ff. u. DVJJ-J 1992, 271 ff.). Zu den Reformvorschlägen der AWO 1993 s. NK-Frommel 1994, 28 ff. Unter der Fragestellung, wie Jugendstrafrecht und Justiz männliche Herrschaft festigend werden der „Konstruktionsfehler“ und damit das Jugendstrafrecht als Jungenstrafrecht von Herz (KrimJ 1994, 296) kritisiert.

Zur Frage „Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Bedarf es und wenn ja welcher Veränderungen?“ sind beim 64. Deutschen Juristentag 2002 konkrete Reformvorschläge erarbeitet worden ausgehend von
dem Gutachten von H.-J. Albrecht
den Referaten von Landau, Ludwig und Streng und
den Ergebnissen der zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ (Zwischenbericht DVJJ-J 2001, 345 ff.; Abschlussbericht DVJJ-Journal Extra 5, 2 02).
Anlass für weitere Gesetzesänderungen war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.1.23010 in der § 51 Abs. 2 für mit Art. 6 Abs. 2 GG unvereinbar und damit für nichtig erklärt wurde. Die erforderliche Neuregelung ist im Rahmen des seit dem 31.12.2006 geltenden 2. JuMoG vom 22.12.2006 erfolgt.

Das sicherlich wichtigste Reformgesetz der letzten Jahre ist das 2. JGG-ÄndG vom 13.12.2007, in Kraft seit dem 1.1.2008, in dem erstmals in der Geschichte des Jugendstrafrechts 1923, 1943, 1953 und 1990 eine ausdrückliche Zielbestimmung verankert worden ist („vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken“). Zu nennen sind ferner das Gesetz zur Erweiterung jugendgerichtlicher Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012, das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012, das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 (seit 1.1.2014 in Kraft), das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.2017 (in Kraft seit 1.7.2017) und das seit dem 24.8.2017 geltende Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 sowie das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10.12.2019 (in Kraft seit 13.12.2019), vgl. auch die Auflistung im Vorwort V und VI.

Die Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ist durch das

Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 9.12.2019 ( BGBl. I S. 2146; in Kraft seit 17.12.2019/1.1.2020) in nationales Recht umgesetzt worden, ebenso wie die Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016 (sog. PKH-Richtlinie) durch das
Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl. I S. 2128; in Kraft seit 13.12.2019).
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