Читать книгу Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer - Страница 38
4. Allgemeine Grundsätze
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Auch ohne ausdrückliche (den §§ 79–81a vergleichbare) Bestimmungen können Vorschriften des allgemeinen Rechts schon deswegen unanwendbar sein, weil sie den Grundsätzen des Jugendgerichtsgesetzes widersprechen oder nicht zu einem jugendgemäßen Ergebnis führen würden (OLG Stuttgart StV 1987, 309 unter Hinweis auf Brunner 8. Aufl., § 2 Rn. 2). So verneinte das AG Saalfeld die Anwendbarkeit des § 31 BtMG im Jugendstrafverfahren (AG Saalfeld StV 2007, 16). Über den Erziehungsgedanken bzw. das allgemeine Gesetzesziel eines jugendgemäßen Präventionsstrafrechts (Ostendorf § 2 Rn. 4) wird also die Vorrangstellung des JGG gegenüber dem allgemeinen Recht gesichert. Mit Hilfe des Erziehungsaspektes dürfen freilich rechtsstaatliche Prinzipien nicht eingeschränkt werden. Hier findet der Vorrang des JGG seine eindeutige Grenze. So steht auch dem jugendlichen Angeklagten das Recht zu, sich effektiv gegen den Schuldvorwurf zu verteidigen, ohne befürchten zu müssen, dass ihm daraus Nachteile erwachsen. Die erzieherisch gemeinte Berücksichtigung, der Angeklagte habe jegliche Verantwortung abgelehnt, sich selbst noch 2 Jahre nach der Tat vollkommen uneinsichtig und ohne erkennbare Emotionen gezeigt, ist insoweit unzulässig (BGH NStZ 2010, 88).
Zum Erziehungsaspekt: Schlüchter Plädoyer für den Erziehungsgedanken, 1994, Streng Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht, ZStW 106 (1994), 61 ff., Ostendorf StV 1998, 297 ff.; Peterich DVJJ-J 1998, 10; Winkler Erziehung sinnlos? Zum sozialpädagogischen Umgang mit jungen Mehrfachauffälligen, in: BMJ (Hrsg.), 2009, 135–151. In seinem Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag, 2002 plädiert H. J. Albrecht dafür, das Erziehungsprinzip als Grundlage und Erklärung des Jugendstrafrechts aufzugeben; vgl. auch Kurzberg Jugendstrafe aufgrund schwerer Kriminalität, 2009, 252 und § 18 Rn. 10 sowie § 21 Rn. 1, § 38 Rn. 16.
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Vom allgemeinen jugendstrafrechtlichen Gesetzesziel her und unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsschutzes verbietet es sich, einen zur Tatzeit Jugendlichen durch öffentliche Zustellung nach § 40 Abs. 2 StPO zur Berufungsverhandlung zu laden (OLG Stuttgart StV 1987, 309; § 48 Rn. 13; a.A. für die Berufungsverhandlung LG Zweibrücken MDR 1991, 985). Kriminologisch geht es darum, Abstempelung und Ausgrenzung junger Menschen zu vermeiden. Da der Tatzeitpunkt maßgebend ist, ändert sich das Ergebnis nicht, wenn der Angeklagte, der im Ausgangsfall nach Unterbrechung der Untersuchungshaft in seine Heimat Türkei geflohen war, inzwischen über 21 Jahre alt geworden ist. (Insoweit zu § 40 Abs. 3 StPO fehlerhaft: KG ZJJ 2006, 200, 303 mit abl. Anm. Eisenberg/Haeseler JR 2006, 303).
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Umstritten ist, ob unter dem Aspekt des Erziehungsgedankens die dem verurteilten jugendlichen Angeklagten entstandenen Verteidigungskosten (Wahlverteidigergebühren) nach § 74 der Staatskasse auferlegt werden können. Diese Frage ist vom OLG Frankfurt NStZ 1984, 138 bejaht worden. Nach anderer Auffassung soll dieses Ergebnis nur gelten, wenn ausdrücklich ausgesprochen worden ist, dass auch die notwendigen Auslagen dem verurteilten jungen Angeklagten nicht auferlegt werden (OLG München NStZ 1984, 138). Der BGH hat auch diese Möglichkeit ausdrücklich verneint. Es gebe keine Vorschrift, die es gestatten würde, den Angeklagten auch im Fall seiner Verurteilung von der Tragung seiner notwendigen Auslagen zu befreien. § 74 käme schon deswegen nicht in Betracht, weil es an einer Bestimmung fehle, wer die Kosten der Wahlverteidigung anstelle des Angeklagten zu tragen hätte. Sie der Staatskasse aufzubürden, überschreite die Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung. Auch würde die Wortlautgrenze entgegenstehen. Hätte der Gesetzgeber etwas anderes gewollt, wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich gewesen (BGHSt 36, 27; zu den Konsequenzen aus dieser Entscheidung: Zieger StV 1990, 323 ff.; § 74 Rn. 28 m.w.N.).
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Die erweiterten Befugnisse des Verletzten, die der Gesetzgeber in den §§ 406d–406l StPO durch das Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 geschaffen hat, um die Rechtsstellung als selbstständiger Prozessbeteiligter zu sichern, können ebenfalls mit der Zielrichtung des Jugendstrafrechts kollidieren. Hier ist dem Jugendstrafrecht eine Vorrangstellung einzuräumen (Schaal/Eisenberg NStZ 1988, 50). Zur Problematik der durch das 2. JuMoG vom 22.12.2006 zugelassenen Nebenklage gegenüber Jugendlichen und die Ausweitung durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10.12.2019 vgl. § 80.