Читать книгу Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer - Страница 35

1. Straftatvoraussetzungen

Оглавление

3

Auf der Ebene der Straftatvoraussetzungen stellt § 3 JGG die einzige Sondervorschrift gegenüber dem allgemeinen Strafrecht dar. Danach ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher positiv festzustellen. Mangels Sonderregelungen bleiben die Tatbestände des BT des StGB und aus dem AT die Abschnitte 1, 2, 4 und 5, die das Strafgesetz, die Tat, Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen und Verjährung betreffen, anwendbar, ausgenommen ist also nur der 3. Abschnitt zu den Rechtsfolgen der Tat.

4

Auf dieser Ebene wird besonders deutlich, wie wenig der Gesetzgeber Chancen für Reformmöglichkeiten genutzt hat. Hier setzt die Kritik an der Flucht in das Verfahrens- und Sanktionenrecht an (Ostendorf in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 331). Die Schaffung neuer Sondervorschriften im JGG würde die Anwendung des allgemeinen, mitunter nicht jugendgemäßen Strafrechts zurückdrängen. Denkbar wäre eine Heraufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze von 14 auf 16 oder gar 18 Jahre. Nach dem 1973 vorgelegten Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes sollte ausgehend von der Überlegung, dass eine Unterscheidung zwischen Jugendverwahrlosung (Dissozialität) und Jugendkriminalität (Delinquenz) angesichts vergleichbarer Entstehungszusammenhänge nicht gerechtfertigt erscheint, bei den unter 16-Jährigen auf den Einsatz von (Jugend-)Strafrecht zu Gunsten eines ausschließlich am Erziehungsgedanken orientierten neuen und erweiterten Jugendhilfegesetzes verzichtet werden. Auch bei Straftaten in der Altersgruppe der 16- bis unter 18-Jährigen war nur ausnahmsweise die Anwendung des JGG vorgesehen, und zwar bei bevorstehender oder inzwischen erreichter Volljährigkeit, bei Verfehlungen, die nach dem allgemeinen Strafrecht mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bedroht sind, und schließlich bei der Anordnung der Aufnahme in ein sozialtherapeutisches Jugendzentrum auf Grund schwerer oder häufig wiederholter strafbarer Verhaltensweisen (§ 11 DE-JHG 1973). Der Diskussionsentwurf, der auf den von Karl Peters 1965 auf dem Jugendgerichtstag in Münster unterbreiteten Vorschlägen für ein erweitertes Jugendhilferecht und der von der Arbeiterwohlfahrt 1970 erarbeiteten Stellungnahme beruhte, wurde 1974 durch einen Referentenentwurf abgelöst, der das strafrechtsersetzende Konzept schon nicht mehr weiterverfolgte (vgl. allgemein zu den Möglichkeiten der Jugendhilfe zur Einschränkung jugendstrafrechtlicher Konfliktlösungen: Müller-Dietz in: FS Pongratz, 1986, S. 102). Das Bundesministerium der Justiz hat auf eine Große Anfrage zur Reform des Jugendgerichtsverfahrens im Dezember 1986 erklärt, dass an eine Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf die Vollendung des 16. Lebensjahres nicht gedacht sei (BT-Drucks. 10/6739, 28).

5

Denkbar wäre auch eine Heraufsetzung der Bestrafungsmündigkeitsgrenze auf 16 Jahre. Bestrafungsmündigkeit ist der gegenüber der Strafmündigkeit engere Begriff, der festlegt, von welchem Alter an Jugendstrafe verhängt und vollzogen werden darf. Die Konferenz der Jugendminister und -senatoren hatte 1980 beschlossen, wenn schon nicht die Strafmündigkeits- so doch wenigstens die Bestrafungsmündigkeitsgrenze anzuheben, um 14- und 15-Jährige aus dem Vollzug herauszunehmen – eine Forderung, die von der Konferenz der Justizminister und -senatoren 1981 einstimmig abgelehnt worden ist. Eine auch als Folge dieser Kontroverse vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Auftrag gegebene Studie zur tatsächlichen Situation der genannten Altersgruppe im Strafvollzug führte zu folgendem Ergebnis:

6

„Wollte man die Gruppe der 14- bis 16-Jährigen aus dem Strafvollzug herausnehmen, so wäre es notwendig, zeitlich und lokal vor den Mauern ein Angebot an sozialen Diensten zur Verfügung zu stellen, das mit nichtrepressiven Methoden den Jugendlichen reale Lebensmöglichkeiten eröffnet und gleichzeitig zum Abbau überindividueller kriminogener bzw. kriminalisierender Strukturen beiträgt. Bleiben Alternativen hinter diesen grob skizzierten Minimalforderungen zurück, so werden nach unserer Ansicht die 14- bis 15-jährigen Strafgefangenen die jüngsten und zugleich hoffnungslosesten Rekrutierungsjahrgänge für den Fortbestand gesellschaftlich produzierter Abweichungen bleiben“ (P.A. Albrecht/Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an 14- und 15-Jährigen, 1983, S. 16).

7

Der Gesetzgeber hat bisher nur zögerlich reagiert, immerhin aber im 1. JGG-ÄndG 1990 den Ausbau informeller Erledigungsmöglichkeiten und die Ersetzung stationärer Sanktionen durch neue ambulante Maßnahmen ermöglicht. Die Schaffung eines eigenständigen Jugendkonfliktrechts und eines Jungtäterstrafrechtes für die Altersgruppe von 18-25 (oder 27) Jahren (dazu Asbrock ZRP 1977, 191) werden auf der Gesetzgebungsebene gegenwärtig aber nicht diskutiert. Zu neueren Reformvorschlägen vgl. die Ergebnisse des Regensburger Jugendgerichtstages (DVJJ-J 1992, 271; zur DVJJ-Kommission 1992, 4) und AWO 1993 (NK 1994, 28 – Frommel/Maelicke) sowie das Gutachten von H. J. Albrecht zum 64. DJT 2002 und die Vorschläge der Zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ, DVJJ-Extra Nr. 5, 2002.

In der 17. Legislaturperiode sind die seit dem 1.1.2011 geltende Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012 (in Kraft seit 1.6.2013) verabschiedet worden. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, sind auch die Erhöhung der Jugendstrafe auf 15 Jahre für Heranwachsende bei Mord wegen der besonderen Schwere der Schuld, der „Warnschussarrest“ (Jugendarrest neben der Aussetzung der Verhängung oder Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung) und die Vorbewährung im Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012 verankert worden (zu verfassungsrechtlichen und systematischen Bedenken sowie zu Lösungsmöglichkeiten Radtke ZStW 2009, 416–449 sowie einerseits Müller-Piepenkötter/Kubink ZRP 2008, 176–180 und andererseits Verrel/Käufl NStZ 2008, 177–181 sowie Breymann/Sonnen NStZ 2005, 669–673).

8

Da es auch zukünftig keinen eigenständigen Deliktskatalog gibt, stellt sich das Problem einer jugendgemäßen Gesetzesinterpretation. Ostendorf hat in diesem Zusammenhang drei Tatbestandsgruppen genannt:

Tatbestände, die von Jugendlichen und Heranwachsenden generell nicht verstanden werden (z.B. Einsatz einer Spielzeugpistole als Qualifikationstatbestand – §§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b), 250 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b) StGB; der selbst ausgefüllte Entschuldigungszettel als Urkundsdelikt; das Auswechseln des Kettenritzels zur Geschwindigkeitserhöhung als Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz und die Abgabenordnung),
Tatbestände, die für Jugendliche und Heranwachsende nicht passen (z.B. Gruppendelikte als Bandendiebstahl oder Bandenraub),
Tatbestände, die für Jugendliche und Heranwachsende nicht notwendig sind, z.B. Schwarzfahren, Mofa-Frisieren, Ladendiebstahl im Bagatellbereich.

(BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 325, 332 ff.); zum Verhältnis von Gruppendynamik und Jugendstrafrecht: Hoffmann StV 2001, 196 ff.

9

Gegen eine jugendspezifische Tatbestandsauslegung werden unter dem Aspekt von Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Berechenbarkeit sowie Gleichbehandlung Bedenken geäußert (Brunner/Dölling § 2 Rn. 7), die jedoch nicht berücksichtigen, dass eine teleologische Interpretation und daraus resultierende Tatbestandsreduktion verfassungsmäßig zulässig sind. Dies gilt jedoch nur für eine Gesetzesauslegung zu Gunsten Jugendlicher. Eine Schlechterstellung gegenüber Erwachsenen ist nicht zulässig (BayObLG DVJJ-J 1993, 79 = StV 1992, 433 = NStZ 1991, 584 m. Anm. Scheffler NStZ 1992, 491; Albrecht 2000, 83; Bohnert NJW 1980, 1930; Bottke ZStW 95 (1983), 80; Dünkel ZStW 105 (1993), 139; a.A. § 55 Rn. 7).

10

Praxisbeispiele für die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation sind:

Der 14-jährige T hat seine 13-jährige Klassenkameradin so geküsst, dass ein „Knutschfleck“ deutlich sichtbar blieb und ihr mehrfach mit seinen Händen an das bedeckte Geschlechtsteil gegriffen. Trotz „gegenseitiger Zuneigung“ ist er vom AG Arnstadt am 1.11.2011 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 StGB verwarnt und zu 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden (zur DNA-Identitätsfeststellung bei jugendtypischer Sexualstraftat in diesem Fall = BVerfG Beschl. v. 2.7.2013 – 2 BvR 2392/12, StV 2014, 578, 579).
Die Verurteilung eines 15-Jährigen wegen sexueller Beziehungen zu seiner 13-jährigen Freundin nach § 176 StGB zu Jugendstrafe (berichtet von Böhm/Feuerhelm S. 39, die vorschlagen, in solchen Fällen eine Verurteilung über die Anwendung von § 3 oder § 17 StGB zu vermeiden).
Wegnahme einer typischen Skinhead-Jacke gegenüber einem nicht zur Gruppe gehörenden Opfer (Verneinung der Zueignungsabsicht: AG Berlin-Tiergarten vom 7.11.1988, berichtet von Eisenberg § 1 Rn. 24c.
Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes (BGH NStZ 1983, 365; NStZ 1986, 549; StV 1997, 8; NStZ 2003, 369; StV 2004, 74; NStZ 2008, 94 – Eisenberg/Schmitz; NStZ-RR 2008, 370 u. BGH ZJJ 2010, 326 m. Anm. Eisenberg; NStZ 2013, 538: (äußerst) gefährliche Gewalttaten können einen Schluss von der obj. Gefährlichkeit auf einen bedingten Tötungsvorsatz ermöglichen. Bei einer spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlung, kann jedoch aus dem Wissen um einen möglichen Erfolgseintritt nicht ohne eine Gesamtwürdigung von tat- und täterbezogenen Merkmalen auf das voluntative Vorsatzelement geschlossen werden.).
Verneinung eines vorsätzlich jugendgefährdenden Verhaltens (OLG Köln NJW 1971, 225).

Allgemein wird die restriktive Interpretation vor allem im Bereich der subjektiven Tatbestandsmäßigkeit zu diskutieren sein (so auch Eisenberg § 1 Rn. 24c, d). Ein genereller Ausschluss für bedingten Vorsatz und unbewusste Fahrlässigkeit (vgl. Märker Vorsatz und Fahrlässigkeit bei jugendlichen Straftätern, 1995) ist nach geltendem Recht aber nicht vertretbar; Lüderssen Die Beurteilung der inneren Tatseite bei jungen Tätern, speziell mit Blick auf den bedingten Vorsatz, in: FS Schreiber, 2003, S. 289–314.

Auch bei § 24 StGB sind die Rücktrittsvoraussetzungen jugendspezifisch zu interpretieren.

Zu den Straftatvoraussetzungen des § 244a StGB hat das LG Koblenz NStZ 1998, 197 m. krit. Anm. Glandien entschieden, dass die Vorschrift nicht auf Verbrecherbanden aus dem Bereich der organisierten Kriminalität beschränkt ist, sondern auch auf Jugendbanden Anwendung findet, eine Position, die jetzt auch der BGH in NStZ-RR 2000, 344; BGH Beschl. v. 22.3.2006 [5 StR 38/06] vertritt. Die typischen Abziehdelikte werden strafrechtlich als Raub oder räuberische Erpressung bewertet (vgl. AG Bremerhaven DVJJ-J 2000, 190), doch sollte das Tatbestandsmerkmal der Drohung „mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben“ angesichts prahlerischer und häufig rein verbaler Aggression jugendgerecht, also restriktiv interpretiert werden (Rentzel-Rothe DVJJ-J 2000, 192).

11

Reformchancen auf der Ebene der Straftatvoraussetzungen ergeben sich schließlich bei den Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen. Ein Beispiel dafür ist der von der Deutschen Bewährungshilfe entwickelte und über die Fraktion DIE GRÜNEN in das Gesetzgebungsverfahren zum 1. JGGÄndG eingebrachte Vorschlag, der allerdings nicht mehr berücksichtigt, sondern nur als Merkposten festgehalten werden konnte:

§ 4 Rechtliche Einordnung der Taten Jugendlicher

Die Tat eines Jugendlichen ist nicht strafbar,

1. wenn sie keine oder nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat oder
2. wenn die Folgen der Tat im Wesentlichen beseitigt, wiedergutgemacht oder sonst ausgeglichen worden sind (Tatfolgenausgleich).

(Kerner u.a., DVJJ-J 1990, 19 f. und DVJJ-J 1990, 63).

Nach dem geltenden öJGG ist gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 ein Jugendlicher nicht strafbar, wenn er vor Vollendung des 16. Lebensjahres ein Vergehen begeht, ihn kein schweres Verschulden trifft und nicht aus besonderen Gründen die Anwendung des Jugendstrafrechts geboten ist, um den Jugendlichen von strafbaren Handlungen abzuhalten (vgl. Jesionek/Edwards Das österreichische Jugendgerichtsgesetz, 4. Auflage 2010).

Jugendgerichtsgesetz

Подняться наверх