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1. Kinder

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Kinder sind nach § 19 StGB schuldunfähig, woraus sich materiell-rechtliche und prozessuale Konsequenzen ergeben:

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Auch bei Dauerdelikten und natürlicher oder rechtlicher Handlungseinheit darf der Zeitraum vor Vollendung des 14. Lebensjahres nicht berücksichtigt werden. Unter dem Aspekt des Gebotenseins ist Notwehr gegenüber Angriffen von Kindern regelmäßig ausgeschlossen. Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Schuldunfähigkeit nicht erkennbar und dieser Irrtum unvermeidbar war (SK-Rudolphi/Rogall § 199 Rn. 7, 8). Ein Kind kann Vortäter einer Hehlerei sein (BGHSt 1, 47), freilich nicht in der Beschuldigten-, sondern nur in der Zeugenrolle. Die Beteiligung von Kindern kann für den schuldfähigen Täter den Qualifikationssrund gemeinschaftlich z.B. der §§ 224 Abs. 1 Nr. 4, 244 Abs. 1 Nr. 2, 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllen. zugunsten eines Kindes ist eine Begünstigung nach § 257 StGB möglich, dagegen eine Strafvereitelung nach § 258 StGB ausgeschlossen.

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Das Alter von 14 Jahren ist eine Verfahrensvoraussetzung. Schuldunfähigkeit und damit Strafunmündigkeit sind ein in jedem Stadium des Verfahrens zu beachtendes Prozesshindernis. Eine Strafverfolgung gegenüber Kindern ist unzulässig (vgl. auch Polizeiliche Dienstvorschrift [PDV] 382 „Bearbeitung von Jugendsachen“ 1995, Nr. 3.4.1), Ein Kind kann nicht Beschuldigter sein, Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen verbieten sich. Die Festnahme eines erkennbar Strafunmündigen kann nicht nach § 127 StPO gerechtfertigt werden. Die entgegenstehende Entscheidung KG JR 1971, 30 (vorläufige Festnahme nach Schneeballwürfen) überzeugt nicht, weil der Hinweis auf die Verhinderung weiterer Taten und die Feststellung der gesetzlichen Vertreter zwecks Klärung einer Aufsichtspflichtverletzung das Kind in eine Objektrolle drängt. Ostendorf spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer unzulässigen strafrechtlichen Vertreterhaftung ( § 1 Rn. 3). Für Durchsuchungen gegenüber Kindern bietet weder § 102 StPO (kein Verdacht einer strafbaren Handlung) noch § 103 StPO (Kind ist keine „andere Person“) eine Rechtsgrundlage (a.A. OLG Bamberg NStZ 1989, 40 m. krit. Anm. Wasmuth). Eine körperliche Untersuchung nach § 81a StPO ist ebenso ausgeschlossen wie eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 81b StPO (zust. Hirt Krim 2003, 572). Entsprechendes gilt für alle Eingriffsnormen, die an den Beschuldigten-Status anknüpfen (Eisenberg StV 1989, 556).

Entscheidend ist nämlich, dass es sich gem. § 152 Abs. 2 StPO um eine verfolgbare Straftat handelt – eine Voraussetzung, die bei Kindern gerade nicht gegeben ist. Im Strafverfahren ist auch die Polizei dem Legalitätsprinzip unterworfen, so dass der Beschuldigtenbegriff der StPO nur einheitlich interpretiert werden kann und nicht unter präventiv-polizeilichen Aspekten verändert werden darf. § 163 Abs. 1 StPO gibt der Polizei keine weitergehenden Befugnisse. Auch können Erwachsene, die als strafunmündige Kinder Delikte begangen haben für ihre Taten nicht ausgeliefert werden (OLG Hamm StraFo 2007, 160). Obwohl Kinder »von der Berührung mit der Strafrechtspflege zu bewahren“ sind (schon RGSt 57, 206 f.), gab es nach einer in Berlin durchgeführten empirischen Untersuchung gegenüber angezeigten Kindern in der Altersgruppe zwischen 10 und 14 Jahren bei über 6 % Durchsuchungen und bei fast 27 % kurzfristig freiheitsentziehende prozessuale Zwangsmaßnahmen (Bruckmeier u.a. in: Autorengruppe Jugenddelinquenz (Hrsg.): Handlungsorientierte Analyse von Kinder- und Jugenddelinquenz 1983, 197). Auch Nr. 2 RLJGG zu § 1 gibt hierfür keine genügende Rechtsgrundlage.

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Nach dieser Richtlinie prüft die Staatsanwaltschaft bei Schuldunfähigkeit, wer zu benachrichtigen ist (Familiengericht, Schule) und ob gegen Aufsichtspflichtige einzuschreiten ist. Die Richtlinien haben nur den Charakter von einfachen Verwaltungsvorschriften. Als solche vermögen sie nicht umfassende Ermittlungen zur familiären und pädagogischen Situation von Kindern zu rechtfertigen. Präventiv polizeiliche Befugnisse der Gefahrenabwehr kamen regelmäßig auch nicht in Betracht (str.), weil die Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu beachten sind und Delinquenz im Kindesalter als normales Phänomen kein prognostisch relevanter Faktor für spätere Jugendkriminalität ist (Pongratz/Schäfer/Jürgensen/Weiße Kinderdelinquenz, 1975, S. 91; vgl. Hoops Was hilft bei Kinderdelinquenz? 2009 [Diss. Leipzig 2007]; Schwerpunkt Kinderdelinquenz, ZJJ 4/2012). Frehsee hat die Ergebnisse zur „Strafverfolgung“ von Strafunmündigen sehr anschaulich zusammengefasst (ZStW 100 (1988), 290, 321):

Jede Ermittlung, Registrierung, Speicherung und Weitergabe von Informationen, die nicht lediglich der Identifizierung sich unerträglich verdichtenden Schädigungsverhaltens dient, ist unzulässig.
Deshalb dürfen nur die für die Identifizierung der Schwer- und Vielfachauffälligkeit an sich nötigen Personal- und Tatdaten registriert werden.
Aufgenommene Anzeigen gegen Kinder sind sofort an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Soweit Gefährdungen des Kindes erkennbar werden, sind Eltern oder Jugendamt zu benachrichtigen.
Die Staatsanwaltschaft ist nach der Einstellung zu keiner weiteren strafprozessualen Verwertung der Informationen befugt.
Insbesondere ist es unzulässig, im Falle späterer Auffälligkeit im strafmündigen Alter polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und Unterlagen beizuziehen und an den Richter weiterzuleiten.

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Allgemein zur Problematik:

Apel/Eisenhardt StV 2006, 490 ff., Erkennungsdienstliche Behandlung von Kindern – Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung; Eisenberg StV 1989, 554; Hirt Kriminalistik 2003, 570-578; Holzmann Polizeilicher Umgang mit unter 14-jährigen, 2008; Müller, S./Peter (Hrsg.), Kinderkriminalität, 1998; Neubacher ZRP 1998, 121; Ostendorf DVJJ-J 1997, 375; Polizei und Sozialarbeit: Wie gehen wir mit Kindern um?, DVJJ-J 2002. Pongratz/Jürgensen Kinderdelinquenz und kriminelle Karrieren. Eine statistische Nachuntersuchung delinquenter Kinder im Erwachsenenalter, 1990; vgl. auch Praxis der Rechtspsychologie 16 (2006), Themenschwerpunkt: Kinderdelinquenz; Verrel Kinderdelinquenz – ein strafprozessuales Tabu?, NStZ 2001, 284 ff.; Wetzels FPR 2007, 36 ff. (Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund); Schwerpunkt Kinderdelinquenz, ZJJ 4/2012; Sonnen FPR 2013, 408 (Kinder- und Jugenddelinquenz in der strafrechtlichen Ermittlung); Themenschwerpunkt Delinquente Kinder und Jugendliche, FPR 10/2013.

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