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2. Zweifel am genauen Alter von Jugendlichen und Heranwachsenden

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Bei Zweifeln über den genauen Tatzeitpunkt bzw. über das exakte Geburtsdatum, was mitunter bei Ausländern und bei unbegleiteten jungen Geflüchteten vorkommen kann, gilt die jeweils günstigere Rechtsfolge (BGHSt 5, 366 f.; OLG Köln NJW 1964, 1684 f., BGH StV 2000, 187). Wenn sich nicht ausschließen lässt, dass der Beschuldigte noch keine 14 Jahre alt war, ist das Verfahren einzustellen. In den beiden anderen Grenzbereichen – einerseits Jugendlicher/Heranwachsender und andererseits Heranwachsender/Erwachsener – entscheidet der Vergleich zwischen den jugendstrafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten und den Rechtsfolgen nach allgemeinem Strafrecht. Dabei gilt kein generell-abstrakter, sondern ein individuell-konkreter Maßstab. Jugendstrafrecht ist nämlich nicht grundsätzlich das mildere Recht, sondern eher ein „aliud“ als ein „minus“ gegenüber dem allgemeinen Strafrecht (Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 30 und 575). Dies zeigt sich auch daran, dass im Jugendstrafrecht relativ mehr freiheitsentziehende Sanktionen als im allgemeinen Strafrecht verhängt werden (Heinz Sanktionensystem, 2010, S. 104). Bei Freiheitsentzug entscheidet die Dauer. So ist eine Freiheitsstrafe von kürzerer Dauer nach allgemeinem Strafrecht stets günstiger als eine bestimmte Jugendstrafe von längerer Dauer (BGHSt 10, 100, 103). Ambulante Maßnahmen haben gegenüber stationären Sanktionen Vorrang (z.B. Geldstrafe gegenüber Jugendarrest). Innerhalb der ambulanten Maßnahmen sind die Konsequenzen bei Nichtbefolgung ebenso wie die registerrechtlichen Folgen zu berücksichtigen (Albrecht S. 83). Entscheidend ist aber immer eine tatsächliche Prüfung und Abwägung im Einzelfall oder ein konkret fiktiver Einzelfallvergleich (M/R/T/W/Rössner § 1 Rn. 7).

Neben diesen beiden einzelfallbezogenen Positionen wird auch vertretenJ den Zweifels Grundsatz in dubio pro reo auch im Verfahrensrecht und nicht nur im materiellen Recht anzuwenden, Eisenberg § 11 Rn. 11 mit Kritik an BGH ZJJ 2017, 414.

Inzwischen gilt in Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 der Zweifelssatz für die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften, wenn zweifelhaft istJ ob der Beschuldigte zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr vollendet hat (Art. 3 der Richtlinie):

Falls Zweifel daran bestehen, ob eine Person das 18. Lebensjahr vollendet hat, gilt diese Person als Kind (Person im Alter von unter 18 Jahren). Voraussetzung dafür ist, dass nach eigenen Aussagen des Beschuldigten; Überprüfung des Personenstandes, dokumentarischen Recherchen und bei dessen Fehlen einer medizinischen Untersuchung als letztes Mittel weiterhin Zweifel hinsichtlich des Alters bestehen (Erwägungsgrund 13). Die Zweifelssatz entpflichtet nicht von durchzuführenden Verfahren zur Altersfeststellung. Praktische Fragen der Alterseinschätzung ergeben sich angesichts der großen Zahl von ausländischen unbegleiteten Kindern und Jugendlichen mit dem Anstieg ihrer Asylanträge von 163 im Jahr 2008 auf 35.359 im Jahr 2016. Das Problem der exakten Altersbestimmung bewegt sich in einem Bereich zwischen fehlender amtlicher Geburtsregistrierung in den Herkunftsländern bis zur Täuschung, um als Minderjähriger statt in Sammelunterkünften in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht werden zu können. Nach § 42a SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise vorläufig in Obhut zu nehmen. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme ist die Minderjährigkeit durch Befragung und Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Auf Antrag des Betroffenen oder von amtswegen hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen (§ 42f SGB VIII) behördliches Verfahren zur Altersfeststellung). Nach dem Erwägungsgrund 13 der Richtlinie EU 2016/800 soll eine medizinische Untersuchung nur als letztes Mittel und unter strikter Achtung der Rechte der Kinder, seiner körperlichen Unversehrtheit und der Menschenwürde durchgeführt werden. Mit Blick auf die § § 81a, 81b StPO in Verbindung mit § 2 Abs. 2 sieht der Gesetzgeber hier keinen Umsetzungsbedarf.

Zu den Methoden der Altersbestimmung:

Alnajar Methoden zur forensischen Altersdiagnostik und Auswertung von Altersgutachten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Diss. Hamburg 2017; Gundelach, Lasse Beweiswürdigung von Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung, ZJJ 2018, 139

Jung, Thomas Die Altersermittlung im Strafverfahren, StV 2013, 51

Klein, Anne Altersschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen – Gefährdung des Kindeswohls?, Kritische Justiz 2015, 405

Stenger, Andreas/Bertolini, Stefan Unbegleitete minderjährige Ausländer – Herausforderungen bei der Identitäts- und Altersfestellung aus Perspektive der Sicherheitsbehörden, Kriminalistik 2018, 497

ZEKO Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Ärztekammer – „Medizinische Altersschätzung bei unbegleiteten Flüchtlingen“, 2016

Der Beweisantrag eines ausländischen Angeklagten, er sei zwei Jahre jünger als in seinem Pass vermerkt und deswegen noch Heranwachsender, kann nur nach § 244 Abs. 3 StPO abgelehnt werden und nicht etwa mit der Begründung, dass sich das Gericht bereits im „Freibeweisverfahren“ die Überzeugung verschafft habe, dass das im Pass des Angeklagten angegebene Alter richtig sei (BGH StV 1982, 101). Zur Aufklärungspflicht BGH NStZ 1998, 50 f.; zur Behandlung des Sachverständigengutachtens im Verfahren OLG Hamburg StV 2005, 206 f.

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