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I. Ziel und Anwendungsbereich

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§ 2 Abs. 1 enthält erstmals in der Geschichte des JGG eine ausdrückliche Zielbestimmung. Ziel des Jugendstrafrechts ist es, erneuten Straftaten entgegenzuwirken, also Rückfallkriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden zu vermeiden. Die Formulierung „vor allem“ lässt Raum für weitere Reaktionsüberlegungen wie Normverdeutlichung (vgl. § 13) und Schuldausgleich (vgl. § 17 Abs. 2, 2. Var.). Ausgeschlossen bleiben Aspekte der negativen Generalprävention, der Abschreckung anderer (BT-Drucks. 16/6293, 10), wie sich aus dem Wortlaut ergibt, dass erneuten Straftaten eines und nicht von Jugendlichen und Heranwachsenden entgegengewirkt werden soll. Unzulässig ist die eigenständige Verfolgung generalpräventiver Zwecke, auch wenn etwa normverdeutlichende Nebeneffekte nicht auszuschließen sind (Streng § 1 Rn. 15-23).

Der Weg zur Zielerreichung ist „vorrangig“ der Erziehungsgedanke. „Vorrangig“ weist darauf hin, dass sich nicht hinter jeder Straftat eines jungen Menschen ein Erziehungsdefizit verbirgt. Nicht immer ist ein erzieherischer Bedarf gegeben. Die Frage, ob durch die ausdrückliche Zielbestimmung der Legalbewährung die Kritik „am diffusen Inhalt des Erziehungsprinzips“ ausgeräumt ist, hat die Bundesregierung dahingehend beantwortet, dass das Ziel eines künftigen Lebens ohne Straftaten dem Maß und der Gestaltung der erzieherischen Einwirkung „klare Konturen“ gibt und zugleich Grenzen setzt (BT-Drucks. 16/13142, 6, 7). In der Tat bedarf es an dieser Stelle keiner Stellungnahme dazu, ob der Erziehungsgedanke pädagogisch, psychologisch, soziologisch oder juristisch zu verstehen ist (Erziehung „durch“, „statt“ oder „als“ oder „nach“ Strafe). Erziehung meint positive Individual-(Spezial-)Prävention, setzt auf soziale Integration und orientiert sich an § 1 SGB VIII (Recht auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit), wobei der Akzent auf Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit zu setzen ist (zum Problem „Werte und Gesellschaft“ Schumacher ZJJ 2008, 374–378); Herrmann/Dölling Kriminalprävention und Wertorientierungen in komplexen Gesellschaften, 2001; Herrmann Werte und Kriminalität, 2003; Herrmann/Dölling/Resch Zum Einfluss elterlicher Werteerziehung und Kontrolle auf Kinderkriminalität, in: FS Wolfgang Heinz, 2012, S. 398-414).

Der Erziehungsgedanke diente 1923 der Ablösung der absoluten Straftheorie des Schuldausgleichs und der Vergeltung, 1943 dem NS-ideologischen Menschenbild und 1953 der fürsorgerischen Orientierung im JWG. 1990 ist die sozialpädagogische Leitfunktion in § 1 SGB VIII als Recht auf Förderung und Erziehung verankert worden, freilich nicht als subjektives Recht, sondern als Grundorientierung mit Konsequenzen auch für das Jugendstrafrecht über die §§ 12, 38 JGG, 52 SGB VIII (Mitwirkung der Jugendhilfe in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz als andere Aufgabe neben Leistungen zugunsten junger Menschen und Familien). Die am Kindeswohl ausgerichteten Ziele der Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung, der Vermeidung und des Abbaus von Benachteiligungen, die Unterstützung der Eltern sowie die angestrebte Verwirklichung, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu schaffen oder zu erhalten, reichen wesentlich weiter als, erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenzuwirken. Der in Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 neuformulierte § 38 Abs. 2 nimmt ausdrücklich Bezug auf die im Hinblick auf die Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe bedeutsamen Gesichtspunkte („Jugendhilfe vor Strafrecht“, Trenczek). Im Zusammenhang mit dem Recht auf individuelle Begutachtung werden in der europäischen Richtlinie als besondere Bedürfnisse von Personen unter 18 Jahren Schutz, Erziehung, Ausbildung und soziale Integration genannt (Artikel 7 Abs. 1). Ein Überblick über die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in jugendkriminalrechtlichen Fragen wie zur erzieherischen Orientierung ist für Knauer Anlass für weitergehende Überlegungen zu einem neuen Erziehungsbegriff, entwickelt über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Rechts der Europäischen Union (Knauer ZJJ 2019, 39-41).

Gegenwärtig ist Erziehung selbst nicht Ziel und Anliegen des Jugendstrafrechts, sondern Orientierungshilfe bei der Interpretation der im JGG verwendeten Begriffe „erzieherische Einwirkung“, „aus Gründen der Erziehung“ oder „erhebliche erzieherische Nachteile“. Gemeint sind erzieherische Mittel zur Zielerreichung nicht nur als äußere Reaktion, sondern auch innerlich verbunden mit positiven Einstellungen wie Unrechtseinsicht und Normakzeptanz (BT-Drucks. 16/6293, 9). Ein in sich geschlossenes System der Ausrichtung des Erziehungsgedankens für das Verfahren unter dem Vorbehalt des elterlichen Erziehungsrechts und für die Rechtsfolgen hat Rössner entwickelt (Meier/Bannenberg/Höffler 4. Auflage, 2019, S. 1-30 – Rössner/Bannenberg). Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt ist das als Resozialisierung bezeichnete Vollzugsziel der sozialen Integration bzw. das Erziehungsziel im Jugendstrafrecht unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Schutzfunktion. „Zwischen dem Integrationsziel des Vollzuges und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz“ (BVerfG Urt. v. 31.5.2006, NJW 2006, 2093 ff = ZJJ 2006, 193 ff.). Eine gelingende soziale Integration ist der beste Schutz potentieller Opfer und wird der Sicherungsaufgabe als Hauptziel neben der Erziehung gerecht. Für die Gesellschaft ergibt sich die Verpflichtung, für die Sozialisation junger Menschen Rücksicht auf ihre noch nicht abgeschlossene Entwicklung zu nehmen und bei den Rechtsfolgen sich an den Grundsätzen von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu weniger ausgrenzenden Reaktionsformen zu orientieren wie Jugendhilfe vor Strafrecht, informell statt formell, ambulant statt stationär. Für Jugendliche und Heranwachsende geht es darum, Verantwortung zu übernehmen auf dem Weg zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Das Leitprinzip „Verantwortung“ gilt insoweit doppelt (Streng § 1 Rn. 23) und gehört für Rössner zum Aufgabenfeld des Normenlernens. Die Einschränkung, „vor allem“ erneuten Straftaten entgegen zu wirken in Satz 1, erlaubt bei der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld auch Aspekte des Schuldausgleichs zu berücksichtigen, ohne die erzieherische Orientierung ganz aus der Zumessung zu verbannen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 2 ist die negative Generalprävention als Nebenziel ausgeschlossen und die positive Generalprävention zwar kein Nebenziel, wohl aber ein erwünschter Nebeneffekt.

Die Mittel zur Zielerreichung sind nach Satz 2 „vorrangig“ am Erziehungsgedanken auszurichten, gemeint als empirisch gesicherte Erkenntnisse kriminologischer, pädagogischer, jugendpsychologischer und anderer fachlicher Forschung, zugleich als Ergänzung zu § 37 bei der Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte gedacht (BT-Drucks. 16/6293, 10). Der Erziehungsbegriff orientiert sich an interdisziplinären Erkenntnissen zur Sozialisation junger Menschen im Teilbereich der sozialen Kontrolle und an der Wirklichkeit des Normlernens (Rössner a.a.O., § 1 Rn. 15 und 17:

„Jugendstrafrecht ist zu beschreiben als staatliche Institution des Normlernens, die erzieherische und sanktionierende Mittel unter Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Formen der sozialen Kontrolle einsetzt und so in das Gesamtgeschehen des sozialen Normlernens eingebunden ist“). Nur der weite Erziehungsbegriff werde der „Multifunktionalität“ gerecht und könne das sozialpädagogische Potential des Jugendhilferechts gemäß §§ 3 S. 2, 12, 38 Abs. 2, 45 Abs. 2 S. 1 berücksichtigen (Vorgabe der Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Sanktionen).

Allg. zum Erziehungsgedanken: Cornel Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht: Historische Entwicklungen in: Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität, 2018, 533; Pieplow Erziehungsgedanke – noch einer, in: GS Walter 2014, S. 341-357; ders. Erziehung als Chiffre, in: Walter (Hrsg.), Beiträge zur Erziehung im Jugendstrafrecht, 1989, 511; ders. Der Erziehungsgedanke im Jugendgerichtsgesetz – Einführung zu Francke (1927), ZJJ 2018, 48-56. Schrapper L. Zum Verhältnis von Erziehung und Strafe – 15 Thesen, ZJJ 3/2014, 285-288; Schwerpunkt Erziehen und Strafen, ZJJ 1/2014.

Hinsichtlich eines erzieherisch gestalteten Jugendstrafverfahrens ist das elterliche Erziehungsrecht zu beachten. Erzieherische Möglichkeiten mit zwingendem Charakter dürfen aus verfassungsrechtlichen Gründen das Elternrecht nicht zurückdrängen. Allerdings sind die Elternrechte durch die Verpflichtung zur Rechtstreue begrenzt. Wird das Wohl des Kindes gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder in der Lage, die Gefahr abzuwenden, trifft das Familiengericht gem. § 1666 BGB die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr. Art und Ausmaß des zulässigen Eingriffs bestimmen sich danach, was im Interesse des Kindes geboten ist (BVerfGE 24, 119 [145] = NJW 1968, 2233); zudem kann die Ausübung des Elternrechts durch den Staat – soweit die Wahrnehmung von Erziehungsrechten in einem Jugendstrafverfahren betroffen ist – auch zum Schutz kollidierender Grundrechte Dritter sowie anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung begrenzt werden (BVerfGE 107, 104 [118] = NJW 2003, 2004); zur Durchsetzung dieser Verfassungsaufgabe (BVerfGE 107, 104 [119] = NJW 2003, 2004) ist die staatliche Strafrechtspflege grundsätzlich nicht gehindert, auch in das elterliche Erziehungsrecht einzugreifen (RhPfVerfGH Beschl. v. 13.7.2012 – VGH B 10/12 = FPR 2013, 447).

§ 2 Abs. 1 beschränkt sich nicht auf normative Erwägungen, sondern verlangt in erster Linie empirische Einschätzungen und die Berücksichtigung gesicherter empirischer Erkenntnisse der kriminologischen Sanktionsforschung. Die Vorschrift steht insoweit in Zusammenhang mit dem kriminologischen, soziologischen, pädagogischen und jugendpsychologischen Anforderungsprofil in § 37 für Juristinnen und Juristen in der Jugendgerichtsbarkeit. (Größere Verbindlichkeit war geplant in § 37 JGG-E im RE „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellem Missbrauchs [StORMG]“ v. 7.12.2010, aber nicht Gesetz geworden). Es bleibt aber die Pflicht, Wirkungszusammenhänge zu berücksichtigen und empirisch gesicherte Einschätzungen in den Vordergrund der Beantwortung der Frage zu stellen, was der Zielerreichung der Legalbewährung dient (BT-Drucks. 16/6293, 10). Schlagwortartig geht es um eine „sozialintegrative“ und „evidenz-basierte Orientierung“ der Anwendung des Jugendstrafrechts in (J)Strafverfahren.

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Die Vorschrift gilt für die Strafverfolgung von Jugendlichen und Heranwachsenden, und zwar sowohl vor Jugendgerichten als auch vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§§ 104 Abs. 1 Nr. 1, 112). § 2 Abs. 2 korrespondiert mit § 10 StGB, nach dem für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden das StGB nur gilt, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Es geht um die Abgrenzung zwischen dem Sonderstrafrecht für junge Menschen und dem allgemeinen Strafrecht. Ziel der Vorschrift ist insoweit die Klarstellung und zugleich die Sicherung des Vorranges der Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende.

Jugendgerichtsgesetz

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