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2. Einsichtsfähigkeit

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Ein strafrechtlicher Schuldvorwurf ist ausgeschlossen, wenn dem Täter bei der Tat trotz zumutbarer Anstrengung seiner Erkenntniskraft und seiner sittlichen Wertvorstellungen die Unrechtseinsicht verwehrt bleibt (BGHSt 2, 194 ff.; 4, 1 (5); BGH Beschl. v. 6.10.1953 – 1 StR 419/53). Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit bedeutet weder die Kenntnis der Strafbarkeit, noch die Kenntnis der das Verbot enthaltenden gesetzlichen Vorschrift; andererseits genügt es auch nicht, dass der Täter sich bewusst ist, sein Tun sei sittlich verwerflich. Vielmehr muss er, zwar nicht in rechtstechnischer Beurteilung, aber doch in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Wertung das Unrechtmäßige der Tat erkennen (BGHSt 2, 194 ff., 202). Dabei genügt es einerseits nicht, wenn der Jugendliche nur allgemein Recht und Unrecht, nicht Verbotenes und Verbotenes unterscheiden kann; andererseits ist nicht zu fordern, dass der Jugendliche seine Tat auch als eine ein Strafgesetz verletzende strafbare Handlung erkennen kann (BGHSt 10, 35 ff.; RGSt 58, 99 f.; Peters Handbuch S. 260 ff., 264). Er muss vielmehr wissen, dass das konkrete Verhalten Unrecht ist (s. auch Bauer/Remschmidt Handbuch, S. 470). Das Unrechtsbewusstsein ist sonach vorhanden, wenn der Täter die von dem Straftatbestand umfasste spezifische Rechtsgutverletzung als Unrecht erkennt (BGHSt 15, 377 ff., 383; Beschl. v. 20.8.1982 – 2 StR 272/82; RGSt 47, 385 ff., 386 m.w.N.; BGHSt 15, 377 ff., 383 = NJW 1961, 1031). Die Strafnorm selbst muss er nicht kennen. Entscheidend für das Vorliegen des Unrechtsbewusstseins ist auch nicht, dass der Jugendliche die einzelnen Rechtsbegriffe des von ihm verwirklichten Straftatbestandes kennt oder die Wertung des Gesetzgebers nachvollzieht, aus der sich die Strafbarkeit der jeweiligen Tat ergibt, sondern dass er die tatsächlichen Umstände kennt und als rechtlich verboten einschätzt, aus denen sich die Strafbarkeit seines Tuns ergibt (BGHSt 22, 77 ff., 80; Beschl. v. 23.3.1976 – 5 StR 81/76). Das Unrechtsbewusstsein muss sich auf diejenige Tatbestandsverwirklichung beziehen, die dem Täter zur Last gelegt wird (BGHSt 10, 35 ff., 39). Weder das allgemeine Bewusstsein, etwas Unrechtes zu tun, noch das auf einen anderen Tatbestand bezogene Unrechtsbewusstsein kann den besonderen Schuldvorwurf für den vom Täter verwirklichten Tatbestand rechtfertigen. Das Unrechtsbewusstsein muss sich auf das dem jeweiligen Straftatbestand zu Grunde liegende Verbot erstrecken (BGH a.a.O.). Der Täter muss das Unrecht dieser Tatbestandsverwirklichung (BGH a.a.O., 41; BGHSt 2, 209), aber weder den Straftatbestand selbst, noch die Strafbarkeit erkennen (BGHSt 10, 35 ff., 41). Daher kommt es auch nicht auf das Bewusstsein erhöhter Strafbarkeit bei einer bestimmten Art der Verwirklichung eines Grundtatbestandes an (BGH a.a.O., 42). Kennt der Täter die rechtliche Wertwidrigkeit seines Verhaltens, so ist unbeachtlich, ob er diese von ihm verletzte Norm als strafrechtliche, zivil- oder verwaltungsrechtliche Norm qualifiziert, sofern er sie nur in dem sie tragenden materiellen Wertgehalt richtig erfasst und damit das konkrete Unrecht seines Verhaltens kennt (SK-Rudolphi § 17 Rn. 5). Die Frage, wie er dieses von ihm richtig erkannte Unrecht einschätzt, d.h. welche Rechtsfolge er nach seinen Vorstellungen damit verknüpft, ist unbeachtlich (SK-Rudolphi § 17 Rn. 5). So braucht der Täter in den Fällen des § 211 Abs. 2 StGB weder den Rechtsbegriff der Verdeckungsabsicht zu kennen, noch die Wertung des Gesetzgebers nachzuvollziehen, auf Grund deren die Tötung in Verdeckungsabsicht als besonders verwerfliche Tötung zu gelten hat (BGH Urt. v. 23.3.1976 – 5 StR 81/76; BGHSt 22, 77, [80]). Auch bei einem jugendlichen Täter ist daher bei der Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nicht vorauszusetzen, dass er nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung reif genug ist, diese Wertung nachzuvollziehen oder dass er die rechtliche Bedeutung der Verdeckungsabsicht kennt (BGH a.a.O.). Die Voraussetzungen des § 3 sind stets schon dann erfüllt, wenn es dem Jugendlichen bewusst ist, dass er etwas Verbotenes tut (BGH GA 1959, 47 [Herlan]).

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Gefordert ist die Einsicht in das Unrecht der konkreten Tat. Bei mehreren Taten muss die strafrechtliche Verantwortlichkeit für jede Tat gesondert geprüft werden. Dies folgt einmal daraus, dass das Gesetz den materiellen Tatbegriff verwendet (§ 2, § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB; RGSt 51, 369), zum anderen daraus, dass die einzelnen Tatumstände von der Unrechtseinsicht unterschiedlich erfasst werden können (RGSt 47, 385 ff., 386 m.w.N.). Wie sich auch die Frage der Hemmungsfähigkeit eines Täters bei verschiedenen Straftaten nur selten einheitlich beantworten lässt, muss auch bei einem Jugendlichen, der zur gleichen Zeit mehrere verschiedene Straftaten begangen hat, die Frage der Einsichts- und Handlungsfähigkeit nach § 3 für jede einzelne Tat gesondert geprüft und möglicherweise verschieden beantwortet werden (BGH Beschl. v. 31.1.1961 – 4 StR 507/60 = GA 1961, 358 [Herlan]; BGHSt 14, 114, 116). Daraus folgt:

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Bei tatmehrheitlich zusammentreffenden Delikten ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit hinsichtlich jeder einzelnen Tat zu prüfen. Fehlt bei tateinheitlich zusammentreffenden Delikten das Unrechtsbewusstsein hinsichtlich eines Deliktes, so hindert dies nicht die Bestrafung wegen der anderen hiermit ideell konkurrierenden Straftaten (RGSt 51, 363 ff., 371; BGHSt 10, 35). Das Unrechtsbewusstsein ist somit bei tateinheitlicher Verletzung verschiedener Strafgesetze „teilbar“ (BGHSt 10, 35; RGSt 51, 363, 370).

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Fehlt in Fällen der Gesetzeskonkurrenz die Unrechtseinsicht hinsichtlich des das allgemeine Strafgesetz verdrängenden speziellen Gesetzes, so erfolgt die Ahndung aus dem allgemeinen Gesetz, wenn die erforderliche Einsichts- und Handlungsfähigkeit hierfür vorliegt (RGSt 47, 385 ff., 388; Dallinger/Lackner § 3 Rn. 22). Hat beispielsweise ein Jugendlicher, dessen Verhalten objektiv den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs eines Kindes erfüllt, nicht die erforderliche Einsicht in das spezifische Unrecht des § 176 StGB, wohl aber in eine gleichzeitig damit begangene, von § 176 StGB verdrängte Beleidigung, so erfolgt eine Ahndung aus § 185 StGB (so der vom RG entschiedene Fall).

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Ist die Strafe an eine besondere Folge der Tat (z.B. Körperverletzung mit Todesfolge) oder an qualifizierende Umstände (z.B. Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung) geknüpft, so muss die reifebedingte Einsichtsfähigkeit auch hinsichtlich dieser Umstände vorliegen. Ist das nicht der Fall, kommt nur eine Strafbarkeit nach dem Grundtatbestand in Betracht (vgl. BGH Urt. v. 3.2.2005 – 4 StR 492/04 = ZJJ 2005, 205 m. Anm. Ostendorf).

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Bei objektiv fehlender Unrechtseinsicht ist festzustellen, ob der Jugendliche nach seinem individuellen Entwicklungsstand (Rn. 11 ff.) reif genug war, sie zu haben, d.h., ob er sie nach den Umständen hätte haben können, mithin, ob der Irrtum über das Verbotene seines Tuns für ihn nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung vermeidbar war (a.A. Walter/Kubink DVJJ-J 1995, 113 ff., die das Kriterium der individuellen Vermeidbarkeit an dieser Stelle für systemwidrig halten). Der Täter muss in einer seiner Gedankenwelt entsprechenden allgemeinen Wertung das Unrechtmäßige der Tat erkennen oder bei gehöriger Gewissensanspannung erkennen können (BGHSt 2, 194 ff., 202). Dies bedeutet, dass der Täter verpflichtet ist, alle seine Erkenntniskräfte und alle seine sittlichen Wertvorstellungen einzusetzen, wenn es gilt, sich über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens klar zu werden (BGHSt 4, 1). Der Schuldvorwurf ist demnach ausgeschlossen, wenn dem Täter trotz zumutbarer Anstrengung seiner Erkenntniskraft und seiner sittlichen Wertvorstellungen die Unrechtseinsicht verwehrt bleibt (BGHSt 2, 194; 4, 1 [5]; Urt. v. 6.10.1953 – 1 StR 419/53). Die Unvermeidbarkeit kann darin liegen, dass der Täter auf Grund seiner „geistigen und sittlichen Enge“ und seiner Unterentwicklung keine Unrechtseinsicht hat (BGH Urt. v. 6.10.1953 – 1 StR 419/53). Jugendliches Alter und die Unreife eines Täters können gegen eine Vorsatztat sprechen, so dass der Tatvorsatz von Jugendlichen umso kritischer zu prüfen ist, je jünger sie sind (vgl. BGH 1 StR 212/18 = StV 2019, 606).

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Bei der Frage, welche Anforderungen dabei an die Gewissensanspannung des Jugendlichen zu stellen sind, dürfen auch im Rahmen des § 3 keine allgemeinen Maßstäbe angelegt werden, auch nicht generell geringere Anforderungen an die Gewissensanspannung gestellt werden (s. Rn. 24; a.A.: Dallinger/Lackner § 3 Rn. 36; Eisenberg § 3 Rn. 32; kategorisch Ostendorf § 3 Rn. 2). Eine solche Verallgemeinerung liefe dem erzieherischen Präventionsziel des JGG zuwider, das mit seinem abgestuften Rechtsfolgensystem gerade der individuellen Entwicklung Rechnung tragen will. Die individuelle Prüfung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit setzt die besonders sorgfältige strenge Prüfung der Täterpersönlichkeit und der Tatumstände voraus, soweit sie Licht auf den behaupteten Verbotsirrtum werfen können (BGH Urt. v. 6.10.1953 – 1 StR 419/53). Feste Regeln – auch der Art, dass generell an die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums bei Jugendlichen geringere Anforderungen zu stellen seien als bei Erwachsenen – lassen sich nicht aufstellen (BGH a.a.O.). Mit der Anwendung eines allgemeinen Maßstabs würde der Gedanke der Vorwerfbarkeit aufgegeben (BGH a.a.O.).

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