Читать книгу Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer - Страница 54
5. Prüfung und Feststellung der Reife
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Ob die erforderliche Verantwortungsreife gegeben ist, hat der Tatrichter auf der Grundlage seiner Feststellungen zur persönlichen Entwicklung des Jugendlichen, zu dessen Persönlichkeit zur Tatzeit und den Umständen der konkreten Tat – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – wertend zu beurteilen (BGH NStZ 2017, 644). Die Prüfung dieser Reife hat nach § 3 individuell und in allen Fällen zu erfolgen und muss im Urteil ausgeführt werden. Die Anwendung eines Regel-Ausnahme-Maßstabes ist nach der Fassung des Tatbestandes nicht zulässig (s. Rn. 2). Es muss aber andererseits beachtet werden, dass Jugendliche im Vergleich zu den Erwachsenen generell unreif sind und das JGG diesem Umstand schon durch sein Rechtsfolgensystem Rechnung trägt. Die Verneinung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit verlangt daher einen erheblichen Grad an Unreife (Lenckner Handbuch, S. 3 ff., 249 ff.). Die Beurteilung der Reife i.S.v. § 3 kann daher nur im Wege des Vergleichs zwischen dem individuellen Entwicklungsstand des Täters und dem erfahrungsgemäßen Entwicklungsstand anderer Jugendlicher in vergleichbaren Lebensumständen erfolgen (Schaffstein ZStW 77 [1965], S. 191 ff., 203). Gradmesser ist somit der erfahrungsgemäß durchschnittliche Entwicklungsstand von Jugendlichen in der gleichen Altersgruppe. Beachtliche Abweichungen hiervon sind ein Indiz für das Vorliegen von Unreife des Täters in der konkreten Situation. Da in der Praxis nicht grundsätzlich, sondern nur in Fällen, die zu Zweifeln Anlass geben, ein Sachverständiger zur Beurteilung der Reife i.S.v. § 3 herangezogen werden kann (zur Begutachtung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit aus der Sicht eines Jugendpsychologen s. etwa Schilling NStZ 1997, 261 ff.) und zudem ersichtlich wissenschaftlich gesicherte Kriterien zur Beurteilung der Reife i.S.v. § 3 fehlen (h.M.; vgl. etwa Lenckner Handbuch, S. 252 m.w.N.; Bresser ZStW 1962 [Bd. 74], S. 579 ff., 586 ff.; Bohnert NStZ 1988, 249 ff.), kommt es entscheidend auf die eigene Sachkunde des Jugendrichters (-staatsanwaltes) sowie der Jugendgerichtshilfe an.
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Ein Sachverständiger ist nur dann erforderlich und geboten, wenn Erfahrung und Sachkunde der Gerichts- und Gerichtshilfepersonen nicht ausreichen, um Zweifel am Vorliegen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu beseitigen (zur forensisch-psychiatrischen Begutachtung der relativen Strafmündigkeit s. etwa Bauer/Remschmidt, Handbuch S. 470 ff.; Peters Handbuch Bd. II, S. 260 ff. mit Einzelfällen; Moser Jugendkriminalität, 1987; Lempp Strafmündigkeit 1973, S. 15 ff.; Bresser ZStW 1962 [Bd. 74], S. 579 ff.). Die abweichende Meinung der Jugendgerichtshilfe hinsichtlich des Vorliegens der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zwingt nicht zur Hinzuziehung eines Sachverständigen, wenn jene nach Überzeugung des Gerichts vorliegt (OLG Hamm ZJJ 2006, 76). Die psychologische und soziologische Exploration eines jeden jugendlichen Täters würde nicht nur zu einem Stillstand der Rechtspflege und einer erzieherisch unerwünschten Verzögerung des Verfahrens, sondern zumindest im Bereich der einfachen und mittleren Kriminalität unter Umständen auch zu einer unnötigen Stigmatisierung des häufig schuldeinsichtigen Täters führen, die zu der abzuurteilenden Tat völlig außer Verhältnis stünde. Die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist in erster Linie eine wertende Entscheidung des Gerichts (Dallinger/Lackner § 3 Rn. 25), dessen Sachkunde in den meisten Fällen zumindest der leichten und mittleren Kriminalität als ausreichend zu betrachten ist. Dies gilt um so mehr, als wegen des Fehlens allgemeingültiger, wissenschaftlich gesicherter Kriterien für die Reifebestimmung (s. Rn. 14) mit der Zuziehung eines psychologischen Sachverständigen immer die Gefahr besteht, dass die Entscheidung lediglich auf die subjektive Beurteilungsebene einer anderen, nach dem JGG hierfür unzuständigen Person verlagert wird. Es bleibt in allen Fällen dabei, dass die entscheidenden Vorstellungen über die Reife des Jugendlichen im konkreten Fall auf einem persönlichen Eindruck beruhen, der oft trügerisch sein kann (Ostendorf § 3 Rn. 12), oft aber auch zutrifft. Der Glaube an die größere Zuverlässigkeit so genannter wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden (Ostendorf § 3 Rn. 13) wird jedenfalls im Bereich der Reifeprüfung nach § 3 durch die herrschende Unsicherheit bei der Bestimmung allgemeingültiger, wissenschaftlich fundierter Kriterien (s. Rn. 14; eingehend Eisenberg § 3 Rn. 10 ff. m.w.N.) erheblich erschüttert. Auch wenn der Gerichtssaal möglicherweise der „ungeeignetste Ort (ist), in das geistig-seelische Leben eines Menschen einzudringen“ (Peters Handbuch, S. 405, zit. bei Eisenberg § 3 Rn. 55), so ist er doch in der Rechtsordnung des Grundgesetzes in diesen Fällen der grundsätzlich vorgeschriebene.
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Nachdem auch das 1. JGGÄndG den § 3 S. 1 entgegen beachtlichen Argumenten der Literatur zu Gunsten einer Abschaffung des § 3 S. 1 mit alleiniger Geltung der §§ 17, 20, 21 StGB (vgl. Brunner 9. Aufl., § 3 Rn. 2; Bohnert NStZ 1988, 249 ff.; Bresser ZStW 1962 (Bd. 74), S. 579 ff., 594) unverändert beibehalten hat und daher auf einen positiven Nachweis der strafrechtlichen Verantwortlichkeit de lege lata nicht verzichtet werden kann, andererseits aber wissenschaftlich gesicherte Kriterien für die Beurteilung der Reife i.S.v. § 3 S. 1 nicht vorliegen und wohl auch nicht aufgestellt werden können (Bresser ZStW 1962 (Bd. 74), S. 579 ff. eingehend: Rupp-Diakojanni S. 54 ff.; a.A. Lempp Strafmündigkeit, 1973, S. 15 ff. mit Beispielsfällen, die allerdings so außergewöhnlich sind, dass sie die Anwendung der §§ 20, 21 StGB nahelegen), ist in der Praxis auf folgende Prüfungsmaßstäbe abzustellen, die festgestellt und in den Urteilsgründen unter Berücksichtigung aller weiteren nach den Umständen des Einzelfalles in Betracht kommenden subjektiven und objektiven Umstände in der Tat und in der Person des Täters erörtert werden müssen:
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Das Lebensalter: Reifemängel werden um so näher liegen, je dichter der Jugendliche noch an der Grenze zur Strafunmündigkeit (§ 19 StGB) steht, bei 16–17jährigen dagegen weniger häufig auftreten; die Lebensumstände des Täters, insbesondere Elternhaus, Umgang, Gewohnheiten, der Umstand der Heimerziehung (vgl. Moser Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, 1987). Eine besonders sorgfältige Prüfung ist auch dann angezeigt, wenn eine ausländische Herkunft des Täters auf völlig andere kulturelle Anschauungen schließen lässt und konkrete Tatsachen darauf hinweisen, dass der Jugendliche mit den hiesigen Wertvorstellungen (noch) nicht zurechtkommt; der körperliche Gesundheitszustand des Jugendlichen; die Schulbildung und der allgemeine Bildungsstand des Täters (Bohnert NStZ 1988, 249 ff., 250 m.w.N.) wie z.B. allgemeines Erfahrungswissen, Merkfähigkeit, das Vorhandensein bestimmter Begriffe und Vorstellungen, das Denk- und Kombinationsvermögen, die Fähigkeit der Erfassung von Zusammenhängen. Die Feststellung, inwieweit der Jugendliche die seiner Straftat widersprechenden Werte zu einer sittlichen Reife verinnerlicht hat, kann gegebenenfalls durch die Erörterung einfacher Fragen über Recht und Moral erfolgen (Kohlhaas EJF Bd. 2, CI Nr. 3, Anmerkung).
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Liegen bei den genannten Kriterien mindestens durchschnittliche Verhältnisse vor, so muss die Reife i.S.v. § 3 bejaht werden. Eine weitere Konkretisierung von Maßstäben ist angesichts der Vielfalt individueller und sozialer Verhältnisse nicht möglich. Die Orientierung am Durchschnitt ist daher legitim und geboten und für eine funktionsfähige Strafrechtspflege unumgänglich.