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8. Verhältnis zum allgemeinen Strafrecht

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Der Tatumstandsirrtum (§ 16 StGB) ist unabhängig von der Altersreife i.S.v. § 3 (allg.M.). Sie ist unbeachtlich, wenn der Täter, gleichviel aus welchen Gründen, einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört; es gelten die allgemeinen Grundsätze (z.B. BGHSt 18, 235 ff.; zur Unterscheidung von natürlichem Vorsatz und Schuldfähigkeit allgemein etwa Bruns JZ 1964, 473 ff.). Die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wird erst dann relevant, wenn die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tatbegehung in Betracht kommt (§ 16 Abs. 1 S. 2 StGB), denn erst dann entsteht die Frage, ob der Jugendliche für den Irrtum über den Tatumstand verantwortlich zu machen ist.

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Die Regelung des Verbotsirrtums in § 17 StGB betrifft ebenso wie § 3 S. 1 die strafrechtliche Bedeutung der Unrechtseinsicht als Schuldelement. Der reifebedingte Verbotsirrtum des § 3 ist kein aliud, sondern ein Unterfall des in § 17 allgemein geregelten Verbotsirrtums (a.A. Streng DVJJ-J 1997, 379 ff., 381 m.Nw.; ders. Jugendstrafrecht, Rn. 49). Daher sind beide Vorschriften anwendbar und selbstständig voneinander zu prüfen. Dabei ist zunächst festzustellen, ob die strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Satz 1 vorliegt; wird sie verneint, so erübrigt sich die Feststellung anderer Ursachen mangelnder Unrechtseinsicht im konkreten Fall. Wird sie bejaht, so ist damit ein auf anderen Gründen beruhender Verbotsirrtum (z.B. unrichtige Rechtsauskunft) nicht ausgeschlossen. Mit der Bejahung der Altersreife wird jedoch in der Regel ein unvermeidbarer Verbotsirrtum zu verneinen sein. Der auf anderen Ursachen beruhende Verbotsirrtum dagegen ist allerdings – wie auch sonst – nur dann eigens zu prüfen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen.

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Die Milderungsvorschrift des § 17 S. 2 StGB ist im Jugendstrafrecht wegen der eigenständigen Rechtsfolgeregelungen praktisch ohne Bedeutung. Der darin enthaltene Rechtsgedanke kommt jedoch dann zur Entfaltung, wenn Zuchtmittel oder Jugendstrafe als Rechtsfolgen in Betracht gezogen werden, weil hier das Maß der Schuld für die Ahndungszwecke der Sühne und Vergeltung von Bedeutung ist (§ 5 Rn. 11).

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Nicht gefolgt werden kann der Auffassung, dass bei Jugendlichen grundsätzlich weniger hohe Anforderungen an die für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums erforderliche Gewissensanspannung zu stellen sein sollen, als bei Erwachsenen (Dallinger/Lackner § 3 Rn. 36; Ostendorf JZ 1986, 665). Eine derartige Regel findet weder in dem dem JGG zu Grunde liegenden Erziehungsgedanken, noch in den zur Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen (s. Rn. 3, 4, 8, 9) eine Grundlage. Mit der Anwendung eines derartigen allgemeinen Maßstabes würde der Gedanke der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit aufgegeben (BGH Urt. v. 6.10.1953 – 1 StR 419/53; s. Rn. 9). Voraussetzung ist in jedem Einzelfall wie überall die besonders sorgfältige, strenge Prüfung der Täterpersönlichkeit und aller wesentlichen Tatumstände, soweit sie Licht auf den behaupteten Verbotsirrtum werfen (BGH a.a.O.), gleichviel, ob dieser seine Ursachen in dem geistigen und sittlichen Entwicklungsstand des Jugendlichen oder in anderen Umständen hat.

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§ 3 S. 1 und die §§ 20, 21 StGB unterscheiden sich von ihren Voraussetzungen her derart, dass sie in allen Fällen selbstständig voneinander geprüft werden müssen (BayObLGSt 1958, 263; vgl. auch BVerfG NStZ-RR 2007, 187; allg.M.; zum Verhältnis von § 3 zu §§ 20, 21 StGB s. auch Gabber ZJJ 2007, 167 ff.). Während der auf den biologischen und soziologischen Reifungsprozess zugeschnittene Satz 1 nur entwicklungsbedingte Reifemängel im Sinne eines noch nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozesses mit möglicher Nachreifung erfasst, betreffen die §§ 20, 21 StGB von dieser Entwicklung grundsätzlich unabhängige Störungen der Bewusstseinstätigkeit pathologischer Art im Sinne einer strukturellen, bleibenden oder nur mangelhaft ausgleichbaren Unreife (Bauer/Remschmidt, Handbuch S. 470 ff, 471; Schilling NStZ 1997, 261 ff., 264 f.; Dallinger/Lackner § 3 Rn. 27; Eisenberg § 3 Rn. 33; Peters Handbuch 1967, S. 279). Überschneidungen sind denkbar, etwa in Fällen einer pathologischen Entwicklungsstörung (Schwachsinn) oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (z.B. erhebliche Fehlentwicklung der Persönlichkeit durch suchtartigen Konsum von Horrorfilmen bei gleichzeitigem Erziehungsversagen der Eltern, BGH NJW 1997, 1165 ff.). Liegen die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vor, so gilt Folgendes:

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Die Feststellung einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB ist grundsätzlich mit der Bejahung der Reife des Jugendlichen gemäß Satz 1 vereinbar (BGH Beschl. v. 13.6.1985 – 1 StR 247/85 = NStZ 1985, 447 [Böhm]; BGHSt 5, 366, 367; vgl. auch BGH NJW 1997, 1165 ff. mit krit. Anm. Eisenberg NJW 1997, 1136 ff.). Zwar kommt in diesen Fällen eine Strafrahmenmilderung gem. §§ 21, 49 Abs. 1 StGB nicht in Betracht, weil die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts nicht gelten (§ 18 Abs. 1 S. 3). Die gem. § 21 StGB verminderte Schuldfähigkeit kann sich aber dennoch bei der Zumessung der Jugendstrafe mildernd auswirken (BGHSt 5, 366, 367; BGH Beschl. v. 29.10.1981 – 1 StR 676/81; BGH StV 1982, 473; BGH Beschl. v. 13.6.1985 – 1 StR 247/85 = NStZ 1985, 447 [Böhm]; Schönke/Schröder-Perron/Weißer § 21 Rn. 27), und zwar auch dann mit vollem Gewicht, wenn sie nicht erwiesen, sondern nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nur unterstellt ist (BGH Beschl. v. 13.6.1985 – 1 StR 247/85 = NStZ 1985, 447 [Böhm]; BGH StV 1984, 69; StV 1984, 464). Sie muss bei der Strafzumessung beachtet werden, und die Urteilsausführungen müssen erkennen lassen, ob oder ggf. weshalb nicht eine Strafmilderung aus diesem Grunde vorgenommen wurde (BGH StV 1982, 473). Da im Jugendstrafrecht die Anwendung des § 49 StGB und damit eine Verschiebung des Strafrahmens ausscheidet, muss die Verminderung der Schuldfähigkeit i.S.d. § 21 StGB mit ihrem vollen Gewicht bei der eigentlichen Strafzumessung berücksichtigt werden (BGH StV 1989, 545). Wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit verneint, so ist § 21 StGB für die Frage der Unterbringung zu prüfen (§ 7; § 63 StGB; dazu Rn. 28).

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Liegen die Voraussetzung des § 20 StGB vor, so wird daneben die Frage der Entwicklungsreife bedeutungslos (BGHSt 26, 67 ff., 70; Brunner JR 1976, 116 f.; Peters Handbuch 1967, S. 279 ff.; a.A. Streng Jugendstrafrecht, Rn. 60; differenzierend Schönke/Schröder-Perron/Weißer § 20 Rn. 44: beruht die Unreife auf einer Entwicklungsstörung, die zwar pathologische Ursachen hat, aber mit zunehmendem Alter einen Ausgleich erwarten lässt, so ist die Schuldfähigkeit sowohl nach § 20 StGB, als auch nach § 3 ausgeschlossen).

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Über die Unterbringung eines Jugendlichen in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß §§ 20, 21, 63 StGB ist auch dann zu entscheiden, wenn seine strafrechtliche Verantwortlichkeit i.S.v. Satz 1 ausgeschlossen ist, mit der Folge, dass der Jugendliche untergebracht werden muss, wenn die Voraussetzungen der §§ 62, 63 StGB vorliegen (BGHSt 26, 67 = JR 1976, 16; BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 14; ThürOLG Beschl. v. 29.1.2007, 1 Ws 16/07; absolut h.M., s. § 7 Rn. 4; Dallinger/Lackner § 3 Rn. 34; Streng DVJJ-J 1997, 379 ff., 380; a.A. Eisenberg Rn. 34 ff., 39; differenzierend Meier/Rössner/Trüg/Wulf-Remschmidt/Rössner JGG 2. Aufl., Rn. 34, wonach je nach konkret vorliegendem Erfordernis Maßnahmen nach Satz 2 oder nach § 63 StGB anzuwenden sind; ähnlich auch OLG Karlsruhe NStZ 2000, 485, das eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung nach Landesrecht im Wege einer Anordnung nach S. 2 für zulässig hält; ebenso Dehne-Niemann NStZ 2018, 374). Dies gilt auch dann, wenn beim Zusammentreffen entwicklungsbedingter und krankhafter Störungen, die einerseits die Nichtverantwortlichkeit nach § 3, andererseits eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begründen und somit die Möglichkeit für Maßnahmen in beide Richtung besteht (BGHSt 26, 68; a.A. insoweit Schönke/Schröder-Perron/Weißer § 20 Rn. 44; Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 185; Ostendorf § 3 Rn. 4; siehe aber unten Rn. 29). Die Unterbringung gem. § 63 StGB, die, wie der Regelung in §§ 5, 7 zu entnehmen ist, zu den grundsätzlich auch gegen Jugendliche statthaften Maßregeln gehört, ist im Falle der Verneinung der Verantwortlichkeit wegen fehlender Reife des Jugendlichen nicht ausgeschlossen. Der Vorschrift des § 3 ist ein solcher Ausschluss nicht zu entnehmen (BGHSt 26, 68; a.A. Eisenberg § 3 Rn. 39 und NJW 1986, 2408 ff., der einen dogmatischen Vorrang von § 3 mit dessen Satz 2 begründet, somit bei fehlender Verantwortlichkeit gem. Satz 1 jede strafrechtliche Reaktion ausschließt und nur Maßnahmen nach Satz 2 für zulässig hält). § 3 hat es nämlich ausschließlich mit entwicklungsbedingten Störungen zu tun und gibt dem Jugendrichter in diesem Rahmen die Befugnis, dieselben Maßnahmen wie der Familienrichter anzuordnen (Satz 2). Über ihr Verhältnis zu den §§ 20, 21 StGB und über die Frage, ob nach Feststellung einer Entwicklungsunreife Raum für Maßregeln bleibt, die das allgemeine Strafrecht mit der Regelung des § 63 StGB an den Zustand krankhafter Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit knüpft, gibt die Bestimmung keine Auskunft (BGHSt 26, 68/69). Der Ausschluss der Unterbringung bei fehlender strafrechtlicher Verantwortlichkeit nach Satz 1 lässt sich in den Fällen des § 21 StGB auch nicht damit begründen, dass diese Vorschrift in erster Linie in ihrer Bedeutung für die Straffrage zu sehen ist (a.A. Ostendorf § 3 Rn. 4). Für die Frage der Unterbringung ist vielmehr entscheidend, dass krankheitsbedingt geminderte Schuldfähigkeit im Rahmen des § 63 StGB dem krankheitsbedingten Ausschluss der Schuldfähigkeit, bei dem eine Bestrafung immer auszuscheiden hat, sachlich uneingeschränkt gleichgestellt wird (BGHSt 26, 69/70). Für das Jugendstrafrecht kommt hinzu, dass dann, wenn die Voraussetzungen des § 20 StGB vorliegen, daneben die Frage der Entwicklungsreife gänzlich bedeutungslos wird. Ihr dann entgegen der Gleichordnung in § 63 StGB in völliger Umkehrung dieses Verhältnisses in ihrer Bedeutung das Übergewicht zu geben, wenn ein Zustand i.S.d. § 21 StGB vorliegt, wäre nicht nur logisch verfehlt, sondern auch sachwidrig, weil nicht nur dem allgemeinen Sicherungsbedürfnis, sondern auch dem Wohl des betroffenen Jugendlichen mit einer Behandlung in einer psychiatrischen Krankenanstalt auf jeden Fall besser gedient ist (BGHSt 26, 70).

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Liegen die Voraussetzungen des § 63 StGB vor, so ist danach auch eine Wahlmöglichkeit zwischen Erziehungsmaßnahmen nach Satz 2 und der Unterbringung nach § 63 StGB ausgeschlossen, gleichviel, ob es sich um eine irreparable seelische Störung handelt oder um eine solche, die zwar pathologisch bedingt ist, aber mit zunehmendem Alter einen Ausgleich erwarten lässt (a.A. Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 185; Schönke/Schröder-Perron/Weißer § 20 Rn. 44; Meier/Rössner/Trüg/Wulf-Remschmidt/Rössner, Rn. 34). Sind nämlich die Voraussetzungen des § 63 StGB erfüllt, so hat das Gericht die Unterbringung anzuordnen (BGHSt 26, 67, 68, s. hierzu § 5 Rn. 15, § 7 Rn. 4). Diese eindeutige gesetzliche Regelung wird auch nicht durch einen zusätzlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgehoben (a.A. Ostendorf § 3 Rn. 20), denn diesem Grundsatz ist bereits mit §§ 62, 63 StGB Rechnung getragen. Ist danach die Unterbringung nicht geboten, so kommen Maßnahmen nach Satz 2 in Betracht (Rn. 35).

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Verbleiben nach Ausschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten Zweifel, ob das Fehlen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (nur) entwicklungsbedingt ist oder (zugleich) auf vom Reifeprozess unabhängigen Beeinträchtigungen i.S.d. §§ 20, 21 StGB beruht, so ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ nur § 3 anzuwenden (allg. M., s. etwa Dallinger/Lackner § 3 Rn. 33; Brunner/Dölling § 3 Rn. 14; Eisenberg § 3 Rn. 40 m.w.N.), weil dies im Hinblick auf § 63 StGB die für den Betroffenen günstigere Lösung ist.

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