Читать книгу Jugendgerichtsgesetz - Herbert Diemer - Страница 77
2. Erziehungsgedanke
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Der Erziehungsgedanke darf nicht, schon gar nicht „deutlich“ zurücktreten (BGH Beschl. v. 9.4.1997 – 1 StR 134/97; BGH StV 1982, 79; BGH Beschl. v. 18.8.1992 – 4 StR 313/92 = BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 8). Das gilt auch, wenn wegen der Schwere der Schuld Jugendstrafe verhängt wird (vgl. BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 8). Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Gericht dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Bedeutung beigemessen hat. Ein pauschaler Hinweis auf die erzieherische Notwendigkeit reicht nicht aus (vgl. auch BGH Beschl. v. 6.10.1999 – 5 StR 429/99). § 18 Abs. 2 verlangt aber nicht, dass der Grundsatz der Erziehung, der das Jugendstrafrecht beherrscht, allein für die Höhe der Jugendstrafe bestimmend sein muss (BGH StV 1981, 26 f., 27). Soweit einzelne Entscheidungen des BGH dahin verstanden worden sind, dass der Erziehungszweck das allein ausschlaggebende Kriterium sein müsse und auch allein die Obergrenze der nach § 18 Abs. 2 JGG zu bemessenden Jugendstrafe bestimme, hat der BGH inzwischen ausdrücklich klargestellt, dass er an einer solchen Auffassung nicht festhalte (BGH JR 1982, 432; NStZ 1983, 448 [Böhm]). Auch die Jugendstrafe soll Schuld vergelten und Sühne ermöglichen, sie ist keine bloße Erziehungsmaßregel. Ihr Rahmen bestimmt sich auch nach dem Maß der Schuld. Ihr Mindestmaß muss schuldangemessen sein und ihr Höchstmaß darf auch bei Berücksichtigung des Erziehungszwecks nicht das noch vertretbare Sühnebedürfnis übersteigen (BGH Urt. v. 15.5.1968 – 4 StR 89/68; zur jugendstrafrechtlichen Strafzumessung zwischen Tat- und Täterprinzip s. auch Streng GA 2017, 80 ff.). Eine die Strafrahmenobergrenze des Erwachsenenrechts übersteigende Jugendstrafe kommt nur ausnahmsweise in Betracht (BGH Urt. v. 14.5.1996 – 1 StR 51/96 m.N.). Beim Verstoß gegen des Beschleunigungsgebot (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) darf der Ausgleich für eine Verfahrensverzögerung nicht dazu führen, dass die zur Erziehung erforderliche Dauer der Jugendstrafe unterschritten und dadurch die Erreichung des Erziehungsziels gefährdet wird (BGH NStZ 2003, 364 f.). Generalpräventive Erwägungen sind bei der Bemessung der Jugendstrafe unzulässig (ständige Rspr. des BGH s. Urt. v. 7.9.1993 – 5 StR 455/93 = BGHR JGG § 18 Abs. 2 Strafzwecke 3 m.w.N.).
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Bei der Verhängung der Jugendstrafe gegen bereits erwachsene Angeklagte wird der Erziehungsgedanke desto weiter zurückzutreten haben, je länger die Tat zurückliegt. Er muss insbesondere dann gänzlich in den Hintergrund treten, wenn der Angeklagte keinerlei Reiferückstände mehr hat und inzwischen sozial angepasst lebt (Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 473). Dies ergibt sich aus § 18 Abs. 2, wonach die Jugendstrafe nur die erforderliche erzieherische Einwirkung ermöglichen muss. In diesen Fällen kommt dem Ahndungs- und Sühnecharakter der Strafe und der Schwere der Schuld entscheidende Bedeutung zu (s. die Auswertung von Gerichtsentscheidungen bei Budelmann Jugendstrafrecht für Erwachsene, 2005, insb. S. 110 ff.). Bei einem Heranwachsenden kommt dem Erziehungsgedanken nach der Rspr. des 3. Senats des BGH mit zunehmendem Alter, „wenn überhaupt“, nur noch eine geringe Bedeutung zu, wenn dieser zum Zeitpunkt der Verurteilung schon das 21. Lebensjahr vollendet hat (3 StR 417/15 = NStZ 2016, 680 f.; 3 StR 214/15 = NStZ 2016, 101 f.). Der 1. Senat neigt sogar dazu, in solchen Fällen erzieherische Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Schwere der Schuld überhaupt nicht zu berücksichtigen (BGH 1 StR 178/13 = NStZ 2013, 658 f.). Eine der Verfassung zu entnehmende absolute Altersgrenze etwa dahingehend, dass das Erziehungsrecht des Staates spätestens nach dem 21. Lebensjahr erlischt (Eisenberg NStZ 2000, 484), existiert indessen nicht (BGH NStZ 2002, 204, 207; vgl. auch BVerfGE 74, 102, 125). Beim Vollzug ist jedoch § 89b zu beachten. Zur Problematik der Anwendung von Jugendstrafrecht auf bereits erwachsene Angeklagte s. Budelmann Jugendstrafrecht für Erwachsene, 2005; zur vergleichenden Darstellung der Auffassungen in der Rspr. und Literatur s. etwa Rose NStZ 2019, 57 ff.).