Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 13

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Dr. Nacier, mit dem ich noch befreundet war und der sich nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus von Biskra, wo er als Assistenzarzt seinen Wehrdienst leistete, der Geriatrie zugewandt hatte, arbeitete zu jener Zeit in einem Altenpflegeheim am Pariser Stadtrand, wohin er mich auf einen Besuch einlud, zu dem ich einen Fotoapparat mitbrachte, der leicht in der Tasche des weißen Kittels zu verstecken war, welchen ich auf sein Geheiß anzog, damit er mich während der allgemeinen Sprechstunde als Kollegen ausgeben konnte. Wegen des Fotoromans über meine Großtanten, die damals fünfundachtzig beziehungsweise fünfundsiebzig Jahre alt waren, meinte Dr. Nacier, ich hegte eine geheime Neigung für todgeweihtes Fleisch. Er lag da völlig falsch, was mich anging, denn ich machte in jenem Altenpflegeheim nicht eine einzige Aufnahme, außerdem reizte es mich nicht im Geringsten, eine zu machen, diese Visite in Verkleidung flößte mir Scham und Abscheu ein. Dr. Nacier, dieser hübsche Kerl, der den alten Frauen so gefiel, dies ehemalige Model, das sich glücklos als Schauspieler versucht hatte, bevor es geknickt in die medizinische Fakultät eintrat, dieser Beau, der damit prahlte, er sei als Fünfzehnjähriger im Grand Hôtel von Vevey, wo er mit seinen Eltern abgestiegen war, kurz vor dem Autounfall, dem sein Vater zum Opfer fallen sollte, von einem der Schauspieler, die den James Bond gespielt hatten, vergewaltigt worden, dieser Ehrgeizling konnte sich einfach nicht zu einer Laufbahn als praktischer Arzt herablassen, um in einer Stadtteilpraxis, die leicht zur Jauchegrube verkommen könnte, von seinen schmerbäuchigen, stinkenden, kleinkarierten Patienten fünfundachtzig Francs pro Konsultation zu kassieren. Aus diesem Grund versuchte er zunächst, sich mit der Kreation eines durchgestylten Sterbehauses mit eingetragenem Warenzeichen einen Namen zu machen, wo er in einer Art Hightech- oder Baukastenklinik die endlosen, widerlichen Agonien durch ein reibungsloses, märchenhaftes Hinübergleiten auf einer Reise zum Mond erster Klasse ersetzen wollte, ohne Erstattung durch die Kasse. Um an die Bankbürgschaften zu kommen, musste Dr. Nacier eine moralische Autorität ausgraben, die dafür sorgen sollte, dass man sein Vorhaben nicht für zwielichtig hielt. Muzil war hier der ideale Pate. Durch meine Vermittlung bekam Dr. Nacier leicht einen Termin bei ihm. Nach ihrer Unterredung sollte ich mit Muzil zu Abend essen. Zu meiner Überraschung hatte er strahlende Augen und war irrsinnig aufgekratzt. Dieser Plan, auf den er im Ernst keinen Pfifferling geben wollte, juckte ihn wie ein Floh. Nie hat Muzil so viele Lachanfälle gehabt wie als Todkranker. Als Dr. Nacier gegangen war, sagte er zu mir: „Weißt du, was ich deinem Kumpel geraten habe: Seine Bude da dürfte nicht eine Einrichtung sein, in die man zum Sterben kommt, sondern in die man kommt, um so zu tun, als stürbe man. Natürlich müsste alles prunkvoll sein, mit prächtigen Bildern und sanfter Musik, aber nur, damit des Pudels Kern besser versteckt wird, denn ganz hinten in dieser Klinik gäbe es eine kleine Tür, vielleicht hinter einem von diesen Bildern, die einen ins Träumen bringen, man würde in der einlullenden Melodie des Nirwana aus der Spritze verstohlen hinter das Bild schlüpfen und schwups! wäre man verschwunden, tot in aller Augen, und man würde auf der anderen Seite der Wand wieder auftauchen, im Hinterhof, ohne Gepäck, mit nichts in den Händen, ohne Namen, und müsste sich eine neue Identität erfinden.“

Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat

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