Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 20
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ОглавлениеMittlerweile hatte Eugénie mir geraten, Dr. Lérisson aufzusuchen, einen Homöopathen. Marine und Eugénie waren nach Dr. Lérisson völlig verrückt. Eugénie verbrachte ganze Nächte in seinem Wartezimmer, mitsamt Gatten und Kindern, in Erwartung eines unverhofften Termins, umgeben von mondänen Damen und Pennern, denn Dr. Lérisson rechnete es sich als Ehre an, Comtessen tausend Francs pro Konsultation zu berechnen und die gleiche Zeit Landstreichern zu widmen, ohne einen Pfennig dafür zu nehmen, dabei starrte Eugénie, bis sie Halluzinationen bekam, die Tür des Behandlungszimmers an, durch die manchmal, gegen drei Uhr früh, mit einer schlaffen Handbewegung Dr. Lérisson die ganze kleine Familie, alle bei vollkommener Gesundheit, hindurchschleuste, woraus sie mit Rezepten für zehn gelbe Gelatinekapseln von der Größe eines Schokoriegels, die sie jeweils vor den Mahlzeiten schlucken sollten, dazu für fünf rote Gelatinekapseln mittlerer Größe, sieben blaue Pillen und einen Haufen Kügelchen, die sie unter der Zunge auflösen sollten, wieder auftauchten. An dieser Medikation wäre Eugénies Sohn fast krepiert, als er eine schlichte Blinddarmentzündung hatte, Dr. Lérisson ist gegen hartes Vorgehen, chirurgische Eingriffe oder chemische Behandlung, er vertraut dem Gleichgewicht der Natur und Kräuterwickeln, und schon hatte sich Eugénies Sohn eine Bauchfellentzündung eingehandelt, mit diversen Nebeninfektionen als Komplikation, erkennbar an drei aufeinanderfolgenden Schnitten, von denen ihm eine niedliche Narbe blieb, von der Scham bis an den Hals. Marine verkündete mir ekstatisch, Dr. Lérisson sei ein Heiliger, der seiner Kunst alles Privatleben opfere und sogar seine arme Gattin, die sie mit Vergnügen leer ausgehen sah. Als Marine ihn rund drei-, viermal pro Woche aufsuchte, ging sie mitnichten durch das Wartezimmer: Eine Sprechstundenhilfe ließ sie, sobald sie ihre dunkle Brille erkannte, durch eine verborgene Tür in ein Boudoir neben Dr. Lérissons Praxis ein, wo dieser die täuschendsten Experimente für seine berühmtesten Patientinnen bereithielt, welche er nackt in Metallkisten einschloss, nachdem er ihren Leib über und über mit in Kräuterextrakt getauchten Nadeln gespickt hatte, Extrakt von Tomaten, Bauxit, Ananas, Zimt, Patchouli, Rübchen, Lehm und Karotten, denen sie mit weichen Knien, scharlachrot und wie trunken wieder entstiegen. Dr. Lérisson nahm in seiner überfüllten Praxis keine weiteren blinden Jünger an. Dank der außerordentlichen Empfehlungen von Eugénie und Marine wurde mir endlich, nach Unterhandlungen mit einer okkulten Sekretärin, ein Termin für das folgende Quartal gewährt. Ich hatte vier Stunden lang im Wartezimmer geschmort, im Kreise bedrückender Physiognomien, als der unscheinbarste Sprechstundenhelfer der Welt eine Tür öffnete und meinen Namen nannte, ich sagte zu ihm: „Nein, ich habe einen Termin bei Dr. Lérisson.“ – „Treten Sie ein“, sagte er. „Nicht doch“, entgegnete ich, einen Betrug witternd, „ich möchte zu Dr. Lérisson persönlich.“ – „Aber ich bin doch Dr. Lérisson!“ sagte er und schlug ärgerlich hinter mir die Tür zu. Aufgrund der einstimmigen Schwärmereien von Eugénie und Marine hatte ich mir einen Don Juan vorgestellt. Mit einem Blick hatte Dr. Lérisson erfasst, woran es bei mir hing, er kniff mir in die Lippe, starrte meine Lider an und sagte: „Sie leiden an Schwindelanfällen, oder?“ Nach meiner Antwort, die sich von selbst verstand, fuhr er fort: „Sie sind einer der unglaublich spasmophilsten Menschen, die mir je begegnet sind, vielleicht noch mehr als Ihre Freundin Marine, und die ist schon ein ausgeprägter Fall.“ Dr. Lérisson erläuterte mir, Spasmophilie sei nicht recht eigentlich eine Krankheit, übrigens weder organisch noch psychisch, sondern vielmehr ein großartiges Hilfsmittel, das von Kalziummangel dynamisiert und durchaus in der Lage sei, den Körper zu quälen. Spasmophilie sei daher kein psychosomatisches Leiden, doch die Festlegung von Gegenstand und Ort der Beschwerden, die sie hervorrufen könne, hinge ihrerseits von einer halb willentlichen oder häufiger unbewussten Entscheidung ab.