Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 8
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ОглавлениеDer Zerstörungsprozess, der in meinem Blut begonnen hat, greift von Tag zu Tag weiter um sich und lässt meinen Fall zurzeit als Leukopenie erscheinen. Die jüngste Analyse, sie stammt vom 18. November, gibt mir 368 T4-Zellen, ein Mann verfügt bei guter Gesundheit über rund 1000 bis 1300 davon. Die T4-Zellen sind jene Gruppe weißer Blutkörperchen, die das Aids-Virus hauptsächlich angreift und wodurch der Immunschutz nach und nach geschwächt wird. Die schwersten Attacken, die Pneumocystis, welche die Lungen, und die Toxoplasmose, welche das Hirn befällt, schalten sich im Bereich unter 200 T4-Zellen ein; mittlerweile verzögert man sie mittels Verschreibung von AZT. Zu Beginn der Geschichte von Aids nannte man die T4-Zellen „the keepers“, die Hüter, und die T8-Zellen, eine andere Fraktion der Leukozyten, „the killers“, die Mörder. Vor dem Auftauchen von Aids hatte ein Erfinder von Computerspielen das Umsichgreifen der Krankheit im Blut vorgezeichnet. In seinem Spiel für Jugendliche erschien das Blut auf dem Bildschirm als Labyrinth, in dem der Pac-Man umherschweift, ein gelber, von einem Hebel gesteuerter Shadok, der im Vorbeigehen alles frisst, die verschiedenen Gänge von Plankton leert und dabei zugleich von immer zahlreicher umherwimmelnden roten, noch gefräßigeren Shadoks bedroht wird. Wollte man das Pac-Man-Spiel, das sich einige Zeit gehalten hat, bevor es aus der Mode kam, auf Aids übertragen, so bildeten die T-Zellen die Urbevölkerung des Labyrinths, die T8-Zellen wären die gelben Shadoks, bedrängt von HIV, dies wiederum durch die roten Shadoks verkörpert, die danach gieren, mehr und mehr Immunplankton zu vertilgen. Lange bevor die Untersuchungen mir die Gewissheit meiner Erkrankung bestätigten, hatte ich das Gefühl, mein Blut sei plötzlich freigelegt, entblößt, als sei es immer von einem Kleidungsstück oder einer Kapuze beschützt worden, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, da es selbstverständlich war, und als habe etwas, ich begriff nicht was, diesen Schutz entfernt. Ich musste fortan mit bloßgelegtem, ausgesetztem Blut leben, wie der entkleidete Körper einen Alptraum durchqueren muss. Mein Blut war entlarvt, überall, allerorten und für immer, es sei denn, unwahrscheinliche Transfusionen würden ein Wunder bewirken, mein Blut war nackt zu jeder Zeit, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn ich auf der Straße ging, war unablässig von einem Pfeil bedroht, der zu jeder Zeit auf mich zielte. Sieht man es den Augen an? Meine Sorge ist weniger, ob ich mir einen menschlichen Blick bewahren kann, sondern ob mein Blick womöglich allzu menschlich wird, wie jener der Gefangenen in NACHT UND NEBEL, dem Dokumentarfilm über die Konzentrationslager.