Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 15
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ОглавлениеSo wie er darauf achtete, außerhalb der Grenzen, die er um sein Œuvre zog, seinen Namen, den die Berühmtheit allzu sehr in der ganzen Welt hatte anschwellen lassen, zu tilgen, so zielte er darauf ab, sein Gesicht verschwinden zu lassen, das doch durch einige Merkmale und der zahlreichen Aufnahmen wegen, die die Presse von ihm seit gut zehn Jahren verbreitete, so besonders leicht erkennbar war. Lud er selten einmal einen der wenigen Freunde, deren Zahl er in den Jahren, die seinem Tod vorausgingen, drastisch verringert hatte, indem er die Bekanntschaften in einen Bereich fern der Freundschaft verbannte, der ihm erlaubte, sie zu vernachlässigen und den Kontakt auf einen Brief dann und wann oder einen Anruf zu beschränken, ins Restaurant ein, so steuerte er, kaum hatte er das Lokal betreten, auf die Gefahr hin, einen jener wenigen Freunde, mit denen er noch gern essen ging, beiseite zu rempeln, auf geradem Weg den Stuhl an, der ihm erlaubte, dem Publikum den Rücken zuzukehren und zugleich einem Spiegel zu entgehen, dann besann er sich und bot höflich den Stuhl oder die Bank an, die er verschmäht hatte. Er wandte dem Publikum den rätselhaften, in sich gekehrten Schimmer seines Schädels zu, den er sorgfältig jeden Morgen rasierte und auf dem mir manchmal, wenn er mir die Tür öffnete, Spuren getrockneten Blutes, die seiner Kontrolle entgangen waren, auffielen, zugleich mit der Frische seines Atems, in dem Moment, wenn er mich mit zwei winzig kleinen, sonoren Küssen rechts und links des Mundes begrüßte, was mich daran erinnerte, dass er die Aufmerksamkeit besaß, sich kurz vor der verabredeten Zeit nochmals die Zähne zu putzen. Paris hinderte ihn am Ausgehen, hier fühlte er sich zu bekannt. Ging er ins Kino, so richteten sich alle Blicke auf ihn. Manchmal sah ich ihn nachts von meinem Balkon in der Rue du Bac 203 aus vor das Haus treten, in schwarzer Lederjacke, mit Ketten und Metallringen in den Schulterklappen, und über die offene Galerie, die die verschiedenen Aufgänge der Rue du Bac 205 verbindet, zu der Tiefgarage gehen, von der aus er mit seinem Auto, das er unbeholfen steuerte, wie ein Kurzsichtiger verängstigt hinter der Windschutzscheibe klebend, Paris durchquerte, um zu einer Bar im 12. Arrondissement zu fahren, Le Keller, wo er seine Opfer aushob. Stéphane fand in einem Schrank in der Wohnung, die durch das handschriftliche Testament vor dem Eindringen der Familie bewahrt blieb, eine große Tasche voller Peitschen, Ledermasken, Gurte, Knebel und Handschellen. Diese Gerätschaften, von denen er nichts gewusst haben will, flößten ihm angeblich einen überraschenden Widerwillen ein, als seien auch sie nun tot, eiskalt. Auf Anraten von Muzils Bruder ließ er die Wohnung desinfizieren, bevor er sie in Besitz nahm, dank des Testaments, noch ohne zu wissen, dass die meisten Manuskripte vernichtet waren. Muzil liebte leidenschaftliche Saunaorgien. Die Angst, erkannt zu werden, hinderte ihn daran, die Pariser Saunen zu frequentieren. Wenn er jedoch zu seiner alljährlichen Tagung nach San Francisco reiste, stürzte er sich in den zahlreichen Saunen dieser Stadt ins Vergnügen, die heute wegen der Epidemie stillgelegt und zu Supermärkten und Parkhäusern umgewandelt sind. Die Homosexuellen San Franciscos lebten in diesen Einrichtungen die irrwitzigsten Fantasien aus, sie installierten an Stelle der Urinale alte Badewannen, in denen die Opfer ganze Nächte in der Erwartung verbrachten, besudelt zu werden, sie hievten schrottreife Trucks in die engen Räume und richteten darin ihre Folterkammern ein. Als Muzil im Herbst 1983 von der Tagung zurückkam, hustete er sich die Lungen aus dem Leib, ein trockener Husten griff ihn immer mehr an. Dennoch, zwischen zwei Anfällen, schwärmte er genüsslich von seinen jüngsten Eskapaden in den Saunen von San Francisco. Ich sagte an jenem Tag zu ihm: „Wegen Aids ist wohl kein Mensch mehr dort?“ – „Von wegen“, entgegnete er, „im Gegenteil, nie waren so viele Leute in den Saunen, es ist ganz fantastisch geworden. Diese schwebende Bedrohung hat ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen, neue Zärtlichkeiten, eine neue Solidarität. Früher hat keiner ein Wort gesagt, jetzt reden wir miteinander. Jeder weiß sehr genau, wofür er dort ist.“