Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 17
13
ОглавлениеEr hatte seine Sittengeschichte begonnen, bevor ich ihn kennengelernt hatte, Anfang ’77, denn mein erstes Buch, La Mort propagande, ist ungefähr im Januar 1977 erschienen, und ich hatte das Glück, auf diese Veröffentlichung hin in seinen kleinen Freundeskreis aufgenommen zu werden. Von seiner monumentalen Sittengeschichte war bereits der erste Band erschienen, ursprünglich die Einleitung zum ersten Band, die er dann aber so ausgearbeitet hatte, dass sie ein ganzes Buch für sich wurde und die Veröffentlichung des eigentlichen ersten Bandes hinausschob, welcher so zum zweiten wurde, schon zur Drucklegung bereit, als dieser Renner von Einleitung ihn überholte und schnitt, im Frühling ’76, zu jener Zeit, da ich ihn noch nicht kannte, da er für mich lediglich ein illustrer und faszinierender Nachbar war, von dem ich noch kein Buch gelesen hatte. Anlässlich des Erscheinens der Einleitung, gegen die schon so viel gehetzt worden war, da er darin eine These aufstellte, die derjenigen, welche damals die Intelligenzija beherrschte, diametral entgegengesetzt war, hatte er sich zum ersten und letzten Mal, denn später schlug er alle Einladungen aus, bereit erklärt, an einer Folge der Unterhaltungssendung für Intellektuelle, „Apostrophes“, teilzunehmen, die ich damals nicht gesehen hatte, von der aber Christine Ockrent, die Moderatorin, die Muzil allen anderen vorzog, er erwartete sogar von mir, abends, wenn ich bei ihm zum Essen eingeladen und etwas früh dran war, um den Häuserblock, in dem er wohnte, Runden zu drehen, damit er bis halb neun mit ihr allein sein konnte, in ihrer Nachrichtensendung, die er um nichts in der Welt verpasst hätte, am Abend seines Todestages im Juni 1984 einen kurzen Ausschnitt brachte. Christine Ockrent, die er oft jubelnd seinen kleinen oder großen Liebling nannte, brachte eigentlich nichts weiter als ein maßloses, nicht enden wollendes Lachen, das sie im Verlauf jener Unterhaltungssendung aufgenommen hatte, bei der man Muzil in Anzug mit Weste und Krawatte sich buchstäblich vor Lachen winden sehen konnte, in einem Moment, da man von ihm erwartete, mit päpstlichem Ernst eine der Vorschriften für jene Sittengeschichte, deren Grundlagen er unterhöhlte, zu verkünden, und dies Lachen wärmte mir das Herz in einem Augenblick, da es mir kältestarr schien, als ich bei Jules und Berthe, zu denen ich mich am Abend seines Todestages geflüchtet hatte, den Fernseher einschaltete, um einmal zu sehen, wie man in den Nachrichten den Nachruf auf ihn gestalten würde. Für mich war dies das letzte Mal, dass ich bereit war, ein bewegtes Bild von Muzil anzusehen, denn seitdem weigere ich mich, aus Angst, darunter zu leiden, mich mit irgendwelchen Vorspiegelungen seiner Anwesenheit herumzuschlagen, außer denen der Träume, und dieses Lachen, das ich unwiderruflich zum Standbild erklärt habe, bezaubert mich noch heute, wenn ich auch ein wenig eifersüchtig bin, dass aus Muzil ein so prachtvolles, so ungestümes, so leuchtendes Lachen hervorquellen konnte, zu einer Zeit kurz vor Beginn unserer Freundschaft. So wie er mit dieser neuen Arbeit die Grundlagen des Konsenses über die Sexualität über den Haufen warf, hatte er begonnen, die Wege seines eigenen Labyrinths zu untergraben. Er hatte auf der Rückseite des ersten Bandes seiner monumentalen Sittengeschichte die Titel der vier Folgebände genannt, da er den nächsten Band schon fertig verfasst und die Recherchen zu den folgenden abgeschlossen hatte. Und nun, da schon das erste Drittel des Baus, zu dem er die Pläne, die Pfeiler und das Maßwerk gezeichnet hatte, auch die Dunkelzonen und die Verbindungswege, fertiggestellt war, alles den Regeln des Systems gemäß, welches sich in den vorausgegangenen Büchern, die seinen internationalen Ruf begründeten, bewährt hatte, da wird er plötzlich von Verdruss oder gar furchtbarem Zweifel übermannt. Er unterbricht die Bauarbeiten, verwirft all seine Pläne, stoppt diese monumentale Sittengeschichte, die er schon im Vorhinein auf dem Notenpapier seiner Dialektik geordnet hatte. Zunächst gedenkt er den zweiten Band ans Ende zu verlegen, ihn jedenfalls in Wartestellung zu versetzen, um seinen Gegenstand von einem neuen Ausgangspunkt her anzugehen, den Ursprung seiner Geschichte zu verlegen und neue Forschungsmethoden zu erfinden. Von Abweg zu Abweg, da er sich auf zentrumsferne Wege ausrichtet, auf Auswüchse, die seinem ursprünglichen Plan entsprießen und nun selber eher zu ganzen Büchern als zu bloßen Abschnitten werden, verirrt er sich, verliert den Mut, zerstört, lässt liegen, baut wieder auf, pfropft erneut auf und lässt sich nach und nach von der nervösen Benommenheit des Rückzugs, der fortwährenden Versäumnis im Publizieren umfangen, Zielscheibe aller möglicher äußerst eifersüchtiger Gerüchte, er sei unfähig und verfalle geistig, oder gestehe ein, sich geirrt oder nichts zu sagen zu haben, während ihn mehr und mehr der Traum von einem unendlichen Buch lähmt, das alle irgend möglichen Fragen eröffnen würde und das durch nichts begrenzt werden könnte, das nichts anhalten könnte, es sei denn der Tod oder die Erschöpfung, das mächtigste und zerbrechlichste Buch der Welt, ein fortschreitender Schatz in der Hand, der ihn bei jedem Auffedern des Gedankens dem Abgrund nähert und von ihm wegführt, bei der mindesten Erschlaffung zum Feuer hin und wieder weg, eine der Hölle geweihte Bibel. Die Gewissheit seines baldigen Todes machte diesen Traum zunichte. Da seine Tage nun gezählt waren, machte er sich voller Klarheit an die Neuordnung seines Buchs. Im Frühling ’83 war er mit Stéphane nach Andalusien gereist. Ich wunderte mich, dass er zweit- und drittklassige Hotels gebucht hatte, er hatte diesen Sinn für Sparsamkeit, dabei fand man nach seinem Tod in seiner Wohnung etliche Schecks über mehrere zehntausend Francs, die zur Bank zu bringen er nachlässig versäumt hatte. Eigentlich erschreckte ihn Luxus geradezu. Dennoch warf er seiner Mutter Geiz vor, die ihm nichts als ein paar angestoßene Kaffeeschalen überlassen hatte, als er sie um einen kleinen Beitrag für das Landhaus bat, das er gerade gekauft hatte, er träumte davon, dort in unserer Gesellschaft arbeitsreiche Sommer zu verbringen. Am Abend vor seiner Abreise nach Andalusien bestellte mich Muzil zu sich und sagte feierlich, indem er auf zwei dickleibige, mit Papieren vollgestopfte Aktendeckel wies, die Seite an Seite auf seinem Schreibtisch lagen: „Das sind meine Manuskripte; ich bitte dich, wenn mir auf dieser Reise irgendetwas zustößt, dann komm her und vernichte sie beide, du bist der Einzige, den ich darum bitten kann, ich rechne fest damit, dass du es mir versprichst.“ Ich antwortete, dass ich unfähig sein würde, das zu tun, und daher seine Bitte ausschlüge. Muzil zeigte sich über meine Reaktion entrüstet und furchtbar enttäuscht. Er sollte seine Arbeit tatsächlich erst Monate später vollenden, nachdem er sie ein letztes Mal vollkommen über den Haufen geworfen hatte. Als er in seiner Küche zusammenbrach und Stéphane ihn leblos in einer Blutlache fand, hatte er beide Manuskripte bereits seinem Verleger ausgehändigt, begab sich aber allmorgendlich in die Bibliothèque du Chaussoir, um die Fußnoten auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.