Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 16
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ОглавлениеSein Assistent, den ich am Tag seiner Beerdigung kennenlernte, wohin ich Stéphane begleitete, und den ich einige Tage darauf im Autobus wieder traf, machte mir verschiedene aufschlussreiche Mitteilungen. Man wusste noch nicht, ob Muzil sich der Art der Krankheit, die ihn umbrachte, bewusst war oder nicht. Sein Assistent versicherte mir, er sei sich jedenfalls der Unheilbarkeit dieser Krankheit bewusst gewesen. Im Lauf des Jahres ’83 nahm Muzil regelmäßig an den Sitzungen einer humanitären Organisation teil, in einer Hautklinik, deren Chefarzt jener Vereinigung angehörte, die Ärzte in die ganze Welt entsendet, je nachdem, wo sich politische oder elementare Katastrophen ereignen. In dieser Klinik wurden wegen der dermatologischen Symptome die ersten Aidsfälle behandelt, vor allem wegen des Kaposi-Sarkoms, das rote, eher bläulichrote Flecken verursacht, zunächst auf den Fußsohlen und an den Beinen, dann über den ganzen Körper bis hin zur Haut des Gesichts. Muzil hustete während dieser Versammlungen, bei denen es um die Lage in Polen nach dem Staatsstreich ging, wie ein Verrückter. Obwohl Stéphane und ich es ihm wiederholt dringend nahegelegt hatten, weigerte er sich beharrlich, einen Arzt aufzusuchen. Schließlich gab er dem Drängen des Chefarztes der Hautklinik nach, den dieser trockene, heftige, hartnäckige Husten beunruhigte. Muzil ging für einen Morgen zu Untersuchungen ins Krankenhaus, er berichtete mir, in welchem Maß, er habe es vergessen gehabt, der Körper alle Identität verliert, wenn er erst einmal in den Krankenhausbetrieb gerät, und nichts mehr von ihm bleibt als ein willenloser Fleischklumpen, der hin- und hergeschoben wird, gerade noch eine Karteinummer, ein Name, der durch die Verwaltungsmühle gedreht wird, es saugt ihm seine Geschichte und Würde aus. Man schob ihm einen Tubus durch den Mund, der seine Lungen erkunden sollte. Der Chefarzt der Hautklinik war nach diesen Untersuchungen bald in der Lage, auf die Art der Krankheit zu schließen, tat jedoch alles Nötige, um den Namen seines Patienten und Vereinskollegen zu schützen, kontrollierte den Umlauf der Krankenzettel und Untersuchungsergebnisse, die diesen berühmten Namen mit der neuen Krankheit verknüpften, fälschte und zensierte sie, damit das Geheimnis bis zum Schluss gewahrt blieb und er bis zu seinem Tod Ellenbogenfreiheit für seine Arbeit hatte, ohne die Behinderung durch ein Gerücht, auf das er würde reagieren müssen. Er beschloss, gegen das übliche Verfahren, nicht einmal Stéphane, Muzils Lebensgefährten, zu informieren, den er ein wenig kannte, um ihre Freundschaft nicht durch dieses Schreckgespenst zu beeinträchtigen. Hingegen informierte er Muzils Assistenten, damit dieser sich mehr als je dem Willen seines Meisters unterordnete und ihn bei seinen letzten philosophischen Projekten unterstützte. Der Assistent berichtete mir im Autobus, seine Unterredung mit dem Chefarzt der Hautklinik habe stattgefunden, kurz nachdem der Chefarzt und Vereinskollege Muzil das Untersuchungsergebnis mitgeteilt und erläutert hatte. Muzils Blick sei in jenem Augenblick, so hatte der Chefarzt der Hautklinik dem Assistenten erzählt, der es Monate später mir berichtete, unverwandter und schärfer gewesen denn je, mit einer Handbewegung habe er jede weitere Diskussion abgeschnitten: „Wie lange?“ habe er gefragt. Das war die einzige Frage, die ihn bewegte, um seiner Arbeit willen, er wollte sein Buch fertigstellen. Ob der Chefarzt ihm da die Natur seiner Krankheit enthüllte? Heute zweifle ich daran. Vielleicht ließ Muzil ihn nicht zu Wort kommen? Ein Jahr zuvor, während eines unserer Abendessen in seiner Küche, hatte ich ihn auf die Frage der Ehrlichkeit zwischen Arzt und Patient im Falle tödlicher Krankheiten gelenkt. Ich fürchtete, von einer nachlässig behandelten Hepatitis Leberkrebs davongetragen zu haben. Muzil hatte gesagt: „Der Arzt sagt dem Patienten nicht unvermittelt die Wahrheit, sondern bietet ihm durch eine ungefähre Darstellung die Mittel und die Freiheit, sie selbst zu erfassen, indem er ihm genauso erlaubt, nichts davon zu wissen, wenn er diese Möglichkeit im Grunde seines Herzens bevorzugt.“ Der Chefarzt der Hautklinik verschrieb Muzil höchstdosierte Antibiotika, die, indem sie den Husten unterdrückten, den fatalen Ausgang in ungewisse Zukunft verschoben. Muzil nahm die Arbeit an seinem Buch mit neuem Schwung auf, er beschloss sogar, die Vortragsreihe zu halten, die er eigentlich bis auf Weiteres hatte verschieben wollen. Weder Stéphane noch mir gegenüber erwähnte er dieses Gespräch mit dem Chefarzt der Hautklinik. Eines Tages verkündete er mir, indem er mich seltsam prüfend anblickte, er habe beschlossen, doch an seinem Blick sah ich sehr wohl, dass er mich um Rat fragte, dass der Entschluss nicht wirklich feststand, mit einer Delegation jener humanitären Organisation, die er unterstützte, ans Ende der Welt zu reisen, zu einer gefährlichen Mission, von der er, so gab er mir zu verstehen, vielleicht nicht zurückkehren würde. So wollte er am Ende der Welt jenen kleinen Ausschlupf hinter dem Bild suchen, den er für das ideale Sterbehaus erträumt hatte. Entsetzt von diesem Plan und zugleich bemüht, ihm das Ausmaß meines Entsetzens nicht zu zeigen, antwortete ich ihm leichthin, er täte besser daran, sein Buch zu vollenden. Sein Buch ohne Ende.