Читать книгу Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat - Hervé Guibert - Страница 21

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Weil der Körper durch die Mitteilung der gutartigen Missbildung der Nieren und danach die Spasmophilie-Theorie frustriert war, begann er, für den Augenblick seiner Leidensmöglichkeiten beraubt, ohne Zweifel gierig, tief in seinem Innern zu bohren, blind umhertastend. Ich erlitt keine epileptischen Anfälle, doch war ich in der Lage, mich von einem Moment zum anderen buchstäblich vor Schmerzen zu winden. Ich habe niemals so wenig gelitten wie seit dem Zeitpunkt, als ich erfuhr, dass ich Aids habe, ich achte äußerst aufmerksam auf die Anzeichen für das Vordringen des Virus, ich glaube die Kartografie seiner Kolonisierung zu kennen, seiner Angriffe und Rückzüge, ich meine zu wissen, wo es schwelt und wo es zuschlägt, meine, die noch unversehrten Zonen zu spüren, doch dieser Kampf in meinem Inneren, der nun wirklich äußerst real ist, wie die medizinischen Untersuchungen bezeugen, ist im Augenblick noch gar nichts, wart nur ab, Freundchen, gegenüber den gewiss fiktiven Leiden, die mich torpedierten. Von deren Äußerungen beunruhigt, schickte Muzil mich in die Sprechstunde des alten Dr. Aron, der seinen Beruf so gut wie aufgegeben hatte, aber trotzdem immer noch täglich zwei, drei Stunden in der Praxis herumspukte, die er von seinem Vater übernommen hatte und wo seit bald hundert Jahren alles unverrückt an seinem Platz zu stehen schien, ein mäusewinziger, durchsichtiger Mann inmitten seiner riesigen, vorsintflutlichen Röntgengeräte. Dr. Aron lauschte meiner Leidensgeschichte, bat mich dann, mich in den Nebenraum seiner Praxis zu begeben, wo sich riesige Apparate mit Gelenken, Armen, Hebeln und Bullaugen reckten, die ihn wie das Innere eines U-Boots wirken ließen, und mich dort auszuziehen. Der winzig kleine, weißlich-durchscheinende Mann kauerte zu meinen Füßen nieder und begann, sein Hämmerchen wie den leichten Schlägel einer Zymbal über meine Zehen, Knöchel und Knie tanzen zu lassen, was sie mit Schauern überzog. Dann schoss er mir den Lichtstrahl einer Rundlampe, die er sich auf die Stirn geschnallt hatte, tief in die Iris und sagte, nach einem sehr langen Seufzen: „Wirklich, Sie sind ein komischer Mensch.“ Ich setzte mich wieder an seinen Schreibtisch und sagte jenen Satz zu ihm, ja, ich erinnere mich sehr gut daran, ich sagte genau diesen Satz zu ihm, 1981, kurz bevor Bill zum ersten Mal die Existenz jener Erscheinung erwähnte, die uns schon alle miteinander verband, Muzil, Marine und so viele andere, ohne dass wir es wissen konnten: „Ich würde dem die Hände küssen, der mein Todesurteil verkündet.“ Dr. Aron zog eine Enzyklopädie zurate, las schweigend einen Artikel darin und sagte: „Ich habe die Krankheit herausgefunden, an der Sie leiden, eine ziemlich seltene Krankheit, aber seien Sie nicht allzu sehr besorgt, diese Krankheit verursacht gewiss viele Beschwerden, aber sie vergeht im Allgemeinen mit dem Alter, eine Jugendkrankheit, die bei Ihnen gegen die Dreißig verschwinden dürfte, ihr verständlichster Name lautet Dysmorphophobie, das heißt, Ihnen ist jegliche Art von Entstellung verhasst.“ Er schrieb ein Rezept aus, ich verlangte, es zu sehen, er verschrieb mir Antidepressiva: Fürchtete er nicht, sie könnten mir eher schaden als nutzen? Téo, der mir den Fall eines Regisseurs berichtete, der sich vor kurzem in dem Raum, der an das Zimmer grenzte, in dem sein Bühnenbildner schlief, das Hirn aus dem Kopf gepustet hatte, gab Antidepressiva die Schuld daran und sagte, nur sie und sie allein gäben im Allgemeinen die euphorische Kraft, der Stumpfheit zu widerstehen und Ernst zu machen. Als ich Dr. Arons Praxis verließ, zerriss ich das Rezept und ging zu Muzil, um ihm die Sitzung zu schildern. Mein Bericht stimmte ihn wütend: „Unglaublich“, sagte er, „diese kleinen praktischen Ärzte haben den Auswurf und die Durchfälle ihrer Patienten dermaßen über, dass sie sich auf die Psychoanalyse verlegen und die verrücktesten Diagnosen stellen!“ Von Stéphane und mir dazu gedrängt, wegen des Hustens, der ihn wieder gar nicht mehr zu Atem kommen ließ, einen Arzt aufzusuchen, konsultierte Muzil widerwillig, kurz bevor er einen Monat vor seinem Tod in seiner Küche bewusstlos zusammenbrach, einen alten praktischen Arzt in seinem Viertel, der ihm, nachdem er ihn untersucht hatte, frohgemut verkündete, er befinde sich bei bester Gesundheit.

Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat

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