Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 10

Erster Montag

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Der Limbacherweg hatte allen Versuchen getrotzt, die alten Villen abzureißen, die großen Grundstücke aufzuteilen und mit kleineren Häusern zu bebauen. Riesige Linden bildeten ein grünes Dach über dem Kopfsteinpflaster, das auch ohne Schild Tempo dreißig erzwang, und zwischen den Bäumen parkten kreuz und quer Autos der oberen Preisklasse. In die Renovierung vieler alter Häuser war mehr Geld als Geschmack investiert worden, bei manchen bunten Fassaden verzog Kramer das Gesicht, aber es war eine lebendige Straße geblieben, und er bremste fast freudig, als er einen Fußball auf die Fahrbahn rollen sah.

Auch an dem Haus Nummer 18 hatte die Farben- und Lackindustrie gut verdient, allerdings hätte er die Butzenglasscheiben links und rechts neben der Haustür nicht erneuert. Auf dem Schild neben der Klingel stand "Adler".

Die grauhaarige Frau musterte ihn abweisend.

"Guten Tag, mein Name ist Kramer, Rolf Kramer. Frau Adler?"

Statt einer Antwort nickte sie nur knapp.

"Frau Adler, ich bin Privatdetektiv und suche einen Mann, der bis zum Mai 1975 in diesem Haus gewohnt hat und seitdem spurlos verschwunden ist. Können Sie mir helfen?"

Bei dem Wort "Privatdetektiv" hatte sie ein leichtes Zucken nicht unterdrücken können, und deshalb wartete er geduldig. Noch hatte sie nicht angebissen, und ihre erste Frage erstaunte ihn nicht: "Können Sie sich ausweisen?"

"Ich kann Ihnen meinen Personalausweis zeigen."

"Nein, ich meine, als Privatdetektiv."

"Dafür gibt es keinen Ausweis, Frau Adler. Es ist kein staatlich anerkannter Beruf. Jeder kann sich Privatdetektiv nennen, sobald er sich einen Gewerbeschein besorgt hat."

"Dann habe ich nur Ihr Wort, dass Sie...?"

"Ja."

"Also, ehrlich scheinen Sie ja zu sein", sagte sie unschlüssig. "Und wenn das eine besondere Masche - kommen Sie herein!"

"Vielen Dank."

Sie führte ihn durch eine große Diele in einen kleinen Raum, der bis auf den letzten Zentimeter mit hellen Bücherregalen vollgestellt war. Die Bretter bogen sich unter der Last, ringsum konnte man über Bücherstapel auf dem Boden stolpern, und er staunte einen Moment über den großen Computer, den sie jetzt abschaltete.

"Ein kleiner Test muss aber noch sein", begann sie spöttisch. "Wie heißt denn der Mann, den Sie suchen?"

"Ludwig Baldur. Ihm und seinem Bruder Joachim gehörte dieses Haus einmal je zur Hälfte."

"Der Kandidat hat hundert Punkte", murmelte sie boshaft, aber ihr Gesicht strafte den Tonfall Lügen. "Trinken Sie einen Kaffee?"

"Gerne sogar."

Helga Adler - so stellte sie sich vor, und er gab ihr seine Karte, was sie mit einem amüsierten Zwinkern quittierte - stellte erst einmal klar, dass er an der falschen Haushälfte geklingelt hatte. "Die Eltern meines Mannes haben diesen Teil 1964 von Joachim Baldur gekauft. Eigentlich wollten sie das ganze Haus erwerben, aber Baldur - also, Joachim Baldur - hat ihnen erklärt, dass der andere Teil seinem Bruder Ludwig gehöre und unverkäuflich sei. Meine Schwiegereltern dachten, der Bruder sei auf Reisen oder im Ausland tätig. Erst beim Notar hat Baldur dann gestanden, dass sein Bruder wegen Totschlags im Gefängnis säße. Was nicht angenehm war, aber - na ja."

"Dann hat der Nachbarteil die ganze Zeit leer gestanden?"

Sie nickte verärgert. "Länger als zehn Jahre. Alle drei Monate erschien so ein Kerl von einer Grundstücksbetreuungsgesellschaft und schaute drüben nach. Wasser, Heizung, Licht, Fenster, na, das Übliche. Ich kann mich nicht beschweren, das Haus wurde gut in Schuss gehalten, und als wir uns entschlossen, unseren Teil der Villa zu renovieren, hat diese Betreuungsgesellschaft sofort mitgespielt und auch drüben renovieren lassen."

"Sind Sie in der Zeit einmal drüben gewesen?"

"Ja, oft. Immer mit diesem Betreuer zusammen - nein, Schlüssel hatten wir nicht. Türen und Fenster waren gut gesichert, da hat sich nie ein Penner oder Ganove eingeschlichen." Sie strich sich über die Haare. "Trotzdem, es war schon ein komisches Gefühl."

"Haben Sie Ludwig Baldur einmal kennengelernt?"

"Ja, nach seiner Entlassung. Das muss - Moment - 1974 gewesen sein. Da waren meine Schwiegereltern schon ausgezogen, und wir hatten das Haus - diese Haushälfte - übernommen. Ein unangenehmer Mensch, Herr Kramer."

"Wie meinen Sie das?"

"Voller Hass, jähzornig, unbeherrscht. Uns gegenüber nicht wirklich unhöflich, aber doch so, dass man gleich merkte, er wünschte alle anderen Menschen zum Teufel."

"Sie und Ihren Mann also auch?"

"Und die Kinder."

"Ludwig hat dann im Mai 1975 dem Anwalt, der ihn verteidigt hatte, einen Brief geschrieben, er würde wegziehen. Seitdem hat der Anwalt kein Lebenszeichen mehr von ihm bekommen. Der Bruder Joachim übrigens auch nicht."

"Das wundert mich nicht. Ludwig hasste alles und jeden. Auch uns hat er nur einen Zettel in den Briefkasten geworfen, er habe einen Käufer für seinen Teil gefunden, der würde dann und dann einziehen."

"Dann wissen Sie also nicht, wohin Ludwig Baldur gezogen ist?"

"Nein. Eines Tages stand ein Möbelwagen vor der Tür, und als ich hinüberging, war Ludwig Baldur schon fortgefahren."

"Hm." Der Kaffee war so gut wie die Auskunft mager. "Wie lange hat er drüben gewohnt?"

"Vielleicht sechs, sieben Monate."

"Haben Sie in der Frist einmal einen Menschen kennengelernt, mit dem Ludwig Baldur verkehrte? Kontakt hatte?"

"Nein." Sie sagte es ohne zu zögern, aber doch mit einem seltsamen Tonfall. "Nein, nicht kennengelernt."

"Aber, Frau Adler?"

"Da war etwas - also, vier oder fünf Wochen nach seiner Rückkehr aus dem Knast hatte er sich eine Frau angelacht. Ob sie drüben gewohnt hat, weiß ich nicht, aber sie war jedenfalls häufig da. Auch über Nacht. Eine nette Frau, Herr Kramer, hübsch, nichts Besonderes, aber nett und freundlich. Vielleicht Mitte zwanzig. Vorgestellt hat sie sich nicht, aber sie hat immer höflich gegrüßt, wenn sie uns sah. Gesprochen habe ich nur einmal mit ihr, am Heiligabend, das muss - ja, 1974 gewesen sein."

Als er mit fragendem Blick seine Zigaretten herausholte, nickte sie rasch: "Eine kann ich jetzt gebrauchen. Rauchen gehört auch zur Vergangenheit...na schön, es war gegen Mittag, ich musste Schnee fegen, und da kam sie mit verheultem Gesicht auf die Straße. Einen kleinen Koffer hatte sie bei sich, und irgendwie wusste ich, dass sie für immer fortgehen wollte. Als sie mich sah, hat sie sich zusammengerissen und mir und meiner Familie fröhliche Weihnachten gewünscht. Mir war das etwas peinlich, verstehen Sie?, ihr Fest schien alles andere als fröhlich, na, wie auch immer, zum Glück hielt gleich danach ein Auto, auf das sie offenbar gewartet hatte. Und den Fahrer kannte ich."

Bei ihrem leisen Glucksen musste er unwillkürlich lachen.

"Die Welt ist manchmal klein, nicht wahr? Der Mann hieß Peter Rickling, ein Nachbarsjunge, der mich schon in der Sandkiste verhauen hatte."

"Was Sie sich nicht gefallen ließen."

"Nein, aber er war größer und stärker."

"An dem Tag hat er Sie wiedererkannt?"

"Natürlich, er hat mir auch noch ein schönes Fest gewünscht. Und dann sind die beiden fortgefahren."

Rickling - der Name war ungewöhnlich genug, ihn im Adress- oder Telefonbuch ausfindig zu machen.

"Andere Bekannte oder Besucher von Ludwig Baldur haben Sie nicht kennengelernt?"

"Nein. Baldur wünschte keinen Kontakt."

"Können Sie sich noch daran erinnern, wie die Umzugsfirma hieß, die Baldurs Sachen abgeholt hatte?"

Nach langem Überlegen schüttelte sie den Kopf. "Nein. Aber vielleicht kann Ihnen diese Betreuungsgesellschaft weiterhelfen. Laubach & Lemcke. Die gibt's heute noch, direkt am Alten Markt."

"Fein. Das ist ein Schritt weiter. Und drüben - wem gehört die andere Hälfte heute?"

"Einem jungen Paar." Sie verzog das Gesicht. "Genauer gesagt, ihr, und der momentane Lebensabschnittsgefährte hat dort seine Anzüge in den Schrank gehängt."

"Ich muss mich sehr herzlich bedanken, Frau Adler."

Auf dem fest montierten Klingelschildchen las er "Gisela Thome". Darunter war ein improvisiertes, mit Klarsichtfolie abgedecktes Schild montiert: "Klaus Pauli". Der Momentane also. Er klingelte.

Eine junge Frau riss die Tür auf und schmollte sichtlich, als sie ihn sah. Offensichtlich hatte sie einen anderen erwartet, was ihm aufrichtig leid tat; hübsch war sie, aber eine Spur zu kokett.

"Guten Tag, Frau Thome, mein Name ist Kramer, Rolf Kramer. Ich bin Privatdetektiv und wollte mich gern nach einem Vorbesitzer dieser Haushälfte erkundigen."

"Wa...aass?" Der 'Privatdetektiv' hatte sie aus der Fassung gebracht; Mund, Augen und selbst die Nasenlöcher wurden kugelrund.

"Ja, er heißt Ludwig Baldur und ist im Mai 1975 ausgezogen."

So verwirrt, wie sie ihn immer noch anstaunte, war sie in diesem Monat noch nicht geboren; er lächelte geduldig, endlich blinzelte sie rasch und kicherte dann hektisch: "Das ist ja - ein Privatdetektiv. Ich habe noch nie mit einem Privatdetektiv gesprochen."

"Wir sind ganz normale Männer, Frau Thome."

Damit trat er in einen Fettnapf, vor fremden Männern an der Tür hatte man sie gewarnt, sie zuckte zusammen und zog unwillkürlich die Tür etwas zu. "Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen."

"Haben Sie den Namen Ludwig Baldur schon einmal gehört?" Ins Haus würde sie ihn nicht bitten, aber er hatte keine Lust, sich jetzt einfach vor der Tür abfertigen zu lassen.

"Nein, wir sind erst..." Sie brach ab und errötete sacht.

"Also doch!", sagte er friedfertig und trat einen Schritt zurück. Der Trick wirkte, sie entspannte sich sichtlich und versicherte hilfsbereit: "Doch, Baldur, Baldur - den Namen hat schon mal jemand - ich weiß wieder. Vor vier oder fünf Wochen. Da stand hier ein Mann an der Tür und fragte mich, wo Ludwig Baldur wäre. Einfach so: Wo ist Ludwig Baldur?"

"Toll!", lobte er, und sie nahm es dankbar als Kompliment.

"Ja, ein kleiner Mann. Graue Haare, etwa sechzig Jahre alt. Ein Ossi, man konnt's deutlich hören."

"Solche Zeugen wie Sie sind unser Traum. Hat er gesagt, warum er Ludwig Baldur suchte?"

"Nei...ein, das nicht." Sie zögerte.

"Hat er seinen Namen genannt?"

"Auch nicht."

"Ach, das ist schade."

"Ja? Ich hab' die Tür schnell wieder zugemacht, wissen Sie, er hatte eine riesige Fahne, und bei Betrunkenen weiß man ja nie." Jetzt flehte ihre Miene um Verständnis, und er bekräftigte: "Völlig richtig, Frau Thome. Betrunkene sind unberechenbar. Vielen Dank und Auf Wiedersehen."

Anielda würde knöttern, er solle nicht immer harmlose Frauen veräppeln, aber kokette Dummerchen trübten stets seine gute Laune. Erst recht, wenn sie hübsch waren.

Laubach Senior musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen und studierte das Schreiben, das Joachim Baldur unterschrieben hatte, als ob er es auswendig lernen wollte. Sein Misstrauen war mit Händen zu greifen, und Kramer wappnete sich mit Geduld. Grobiane wie Laubach konnte man nicht überreden.

"Der Bruder, häh? - krank, was? - Baldur, Ludwig, so so! - Ludwig Baldur."

"Ja, Limbacherweg 18."

"Weiß ich, weiß ich, Männeken. Hm. Privatdetektiv, auch das noch."

Weil er gröbere Beleidigungen gewöhnt war, brummelte Kramer nur freundlich.

"Na, also, ich weiß nicht - nee, also, keine Ahnung, wo Ludwig Baldur heute steckt."

"Mir würde schon helfen, wenn Sie wüssten, wohin er im Mai 1975 gezogen ist."

"Woher soll ich denn das jetzt noch wissen? Glauben Sie, alle Kunden interessierten mich so?"

"Nein, aber ein Mann wie Sie führt ordentliche Akten."

Eine ganze Weile schwankte Laubach, ob er die Behauptung als Hohn oder Schmeichelei auffassen sollte, dann knurrte er verärgert: "Warten Sie."

Eine Viertelstunde später erschien er wieder, eine dicke, verstaubte Akte in der Hand, und sein finsteres Gesicht verriet, dass er am Ende seiner Geduld und Hilfsbereitschaft angelangt war.

"Nix, Herr - Herr..."

"Kramer."

"...Privatschnüffler. Den Umzug hat die Spedition Kleine gemacht, aber die Firma gibt's nicht mehr. Und wir haben mit dem Limbacherweg seit dem März 1975 nichts mehr zu tun."

"Sie haben mir sehr geholfen, Herr Laubach."

Das "leider" hörte er noch, als er die Tür leise hinter sich schloss.

Ein "Rickling, Peter", war tatsächlich im Telefonbuch eingetragen. Restaurationsbetriebe, Kahlenbergstraße.

Das Büro lag versteckt hinter einem großen Restaurant; aus Interesse hatte er am Eingang die ausgehängte Speisekarte studiert und sich seinen Reim gemacht. Deutsche Küche der einfachen Art, nicht teuer, aber einfallslos. Wie die Einrichtung des Lokals. Essenszeiten von 12 bis 15 und von 18 bis 23 Uhr. Wahrscheinlich abends eine Menge Nachbarschaftsbetrieb und mittags Berufstätige, die Kahlenbergstraße war eine Mischung aus alten Wohnhäusern und etwas jüngeren Bürogebäuden. Mit der Suche nach einem Parkplatz hatte er fünf Minuten verbracht.

Peter Rickling schien der beste Kunde seiner Restaurants zu sein, er schleppte 15, wenn nicht 20 Kilo zu viel mit sich herum und schnaufte bei der Anstrengung, sich von seinem breiten Stuhl zu erheben. Das Fenster zum ummauerten Hof war geschlossen, ein Ventilator surrte unangenehm laut.

"Helga Adler - Helga Adler - ach, Sie meinen die Helga Wittig."

"Ihren Mädchenname kenne ich nicht, sie hat mir nur verraten, dass Sie schon in der Sandkiste gerauft haben."

"Ja, ja, natürlich. Die Helga mit den Lederhosen. Ja, frech und rotzig." Der Gedanke an frühere Siege stimmte ihn fröhlich, und Kramer lächelte ausdruckslos.

"Heiligabend 1974. 1974 - hm."

"Limbacherweg 18. Sie haben eine junge Frau dort abgeholt, die mit einem gewissen Ludwig Baldur bekannt war. An dem Tag hat sie ihn endgültig verlassen."

Eine ganze Weile kaute Rickling auf den Lippen. Seine Muskeln waren nicht mehr der Rede wert, aber auf sein Gedächtnis musste er sich verlassen können, und Kramer unterschätzte ihn nicht. Endlich begann der Dicke zögernd: "Ich glaube, ich erinnere mich. Baldur, Baldur, der Name - ich hab's. Ein Mörder, der..."

"Totschläger", verbesserte Kramer höflich.

"Ja, ja, er hatte sich mit seinem Bruder wegen einer Frau gestritten und die dann nachher umgebracht, sicher, ja, das war doch eine Fabrik am Kanal..."

"Selatan Fußbodenbeläge."

"Genau. Es dämmert. Dann wurde er entlassen und erschien - so war's: Er kam abends oft in ein Lokal. In die Kerze. Und dort freundete er sich mit einer Bedienung an, Moment mal, wie hieß die bloß noch, so ein komischer Vorname, wie ein Filmstar damals - verflixt -Sonja. Sonja - tja, und wie weiter?" Betrübt zwinkerte er. "Wissen Sie, mit den Nachnamen - warum hab' ich mir die Mühe gemacht, eine Bedienung am Heiligabend irgendwo abzuholen?"

Weil Rickling auf dem richtigen Weg wandelte, erwiderte Kramer nichts.

"Es muss doch einen Grund - die Kerze - Sonja Wachsmann." Beifallheischend strahlte er Kramer an, der ihm auch den Gefallen tat und bewundernd mit der Zunge schnalzte: "Toll, Herr Rickling."

"Bin ich gut? Sonja Wachsmann - die Kerze. Eine nette Frau, jetzt funkt's wieder ohne Störung, gelernte Verkäuferin, aber mit dem Verdienst - also kam sie zu mir, ich bot ihr die Kerze an, und dort hat sie gute Arbeit geleistet, doch, ich erinnere mich genau. Als sie kündigte, weil ihr Freund nicht wollte, dass sie dort länger bediente, war ich ziemlich betrübt" - seine Hängebacken wackelten rhythmisch - "und hab' ihr angeboten, wenn sie sich's anders überlegen sollte, hätte ich immer einen Job für sie. Ja, und dann rief sie gegen Weihnachten an, es klappte nicht mit ihrem Luba, ob ich..."

"Luba?"

"Ja, so nannte sie ihn, Ludwig Baldur, Luba. Der entlassene Mör...Häftling."

"Ah so." Jeder Mensch hatte seine schwache Seite, und Rickling vermisste Streicheleinheiten. "Ihr Gedächtnis möchte ich haben, Herr Rickling."

"Nicht schlecht, was? Ich hab' sie abgeholt, richtig, die Helga in den Lederhosen schippte Schnee, und Sonja hat am Heiligabend in der Kerze ausgeholfen."

"Nur ausgeholfen? Ist sie nicht länger bei Ihnen geblieben?"

"Doch, doch, aber ein oder zwei Jahre später hat sie - Moment, das haben wir gleich." Vor Begeisterung riss er fast die Schublade aus dem Schreibtisch, wühlte heftig und förderte ein zerfleddertes Notizbuch ans Licht, in dem er so heftig blätterte, dass die Seiten einrissen.

"Na, wer sagt's denn? Hier ist es - Kitty Mehring. Mit Kitty hat sie damals in der Kerze gearbeitet, und von Kitty hab' ich noch die Adresse - Bismarckstraße 122."

Ehrlich begeistert drückte Kramer ihm zum Abschied fest die Hand, und Rickling grinste geschmeichelt.

Die Frau in der Tür musterte ihn unfreundlich und schien es nicht als Empfehlung zu betrachten, dass er ihre Adresse von Peter Rickling erhalten hatte.

"Aha, vom fetten Peter", kommentierte sie trocken.

"Er meinte, Sie würden sich noch an Sonja Wachsmann erinnern."

"Und warum sollte ich?"

"Weil ich einen Mann namens Ludwig Baldur suche, mit dem Sonja Wachsmann mal befreundet war."

"Luba?", fragte sie, zum ersten Mal etwas interessiert.

"Vermutlich, ich kenne den Spitznamen nicht."

"Luba kenne ich - kannte ich."

"Dann können Sie mir weiterhelfen?"

Mit der Antwort ließ sie sich viel Zeit, und deswegen betrachtete er sie auch offen. Wahrscheinlich war sie Mitte vierzig, recht groß und eine Spur füllig, großer Busen und vollschlanke Taille; den Rest verbarg ein weiter, langer Rock. Dafür saß der dünne Pullover umso strammer. Dass sie ein hübsches Gesicht hatte, erkannte man nicht auf den ersten Blick, davon lenkte ihre harte, leicht abschätzige Miene ab. Keine Professionelle, aber eine erfahrene Frau, die viel gesehen und erlebt hatte, jedenfalls keine, die sich leicht um den Finger wickeln ließ. Sie hatte lange, glatte, kastanienbraune Haare mit einem rötlichen Schimmer.

"Kommen Sie rein!", murmelte sie endlich unwirsch. "Viel Zeit hab' ich aber nicht."

"Vielen Dank, Frau Mehring."

"Um Gottes willen, erinnern Sie mich bloß nicht mehr an den verflossenen Fiesling. Ich heiße Kitty."

"Rolf."

Sobald sie sich gesetzt hatte, schien sie es nicht mehr eilig zu haben.

"Kennen Sie die Kerze?"

"Nein, ich hab' nur gesehen, dass es eine Oben-Ohne-Bar ist."

"Ja, leider. Damals war es eine ganz normale Bar, viele Kerzen und drei Bardamen mit tiefen Ausschnitten und strammen BHs. Ein angenehmes Arbeiten, doch. Ich war die Walküre, Sonja das kleine Mädchen, und die - die - wie hieß sie bloß noch? - die Verruchte, das lief sehr gut, wir haben uns prima verstanden. Bis Luba aufkreuzte. Der suchte was zum Bumsen, ich hab' ihn vor die Tür gesetzt, und als er wieder auftauchte, benahm er sich ordentlich. Doch, ordentlich und großzügig. Kein angenehmer Zeitgenosse, mir hat er gar nicht imponiert, aber Sonja fing bald Feuer. Zwei oder drei Wochen später kündigte sie und zog zu Luba. Was mir und dem fetten Peter überhaupt nicht gepasst hat - Peter war damals übrigens noch nicht fett."

Wenn sie lachte, gefiel sie ihm.

"Die Neue, der Ersatz für Sonja, taugte nichts, so eine Zicke, die sich entweder furchtbar zierte, wenn ihr einer in den Ausschnitt schielte, oder versuchte, die Männer auszunehmen, es gab am laufenden Meter Ärger. Bis Peter Rickling anrief, Sonja brauchte einen Job, ob ich was dagegen hätte, wenn sie wieder in die Kerze käme."

"Was Ihnen recht war."

"Und ob! Wir haben uns - na ja, doch, angefreundet. Dann kam der damals halbfette Peter auf die Idee, aus der Kerze einen Rotlicht-Schuppen zu machen, Sonja und ich haben gekündigt, und sie hat sich einen neuen Job gesucht."

"Wissen Sie zufällig, wo?"

"Nicht nur zufällig, mein Lieber. Sie ging nach Bad Zerlingen, ins Hotel Merkur, und übernahm dort die Bar."

"Ach du meine Güte, wo liegt Bad Zerlingen?"

"Fragen Sie mich etwas Leichteres! Nach der Postleitzahl zu schließen irgendwo in der Nähe von Stuttgart."

"Hotel Merkur - das ist sicher?"

"Bombensicher." Sie konnte umwerfend grinsen. "An der Bar hat sie einen Mann kennengelernt, einen Geschäftsmann, der wohl häufiger in dem Hotel übernachtete, und den hat sie geheiratet."

"Ein happy end", kommentierte er spöttisch, aber sein Ton gefiel ihr wohl nicht.

"Haben Sie was dagegen?"

"Nein, warum sollte ich?"

"Dann sparen Sie sich Ihre Gedanken. Sonja war eine anständige Frau, wie Ihr Männer das ausdrückt, und eine gute Hotelbar ist nicht der Ort..."

"Geschenkt!", unterbrach er sie energisch.

"Hoffentlich!"

"Bestimmt. Wissen Sie zufällig noch, wie der Mann hieß, den Sonja geheiratet hat?"

"Nicht nur zufällig", murrte sie wieder und presste die Lippen zusammen.

"Hören Sie, Kitty, ich will Sonja doch nur befragen, ob sie eine Ahnung hat, wo ich Ludwig Baldur heute finden kann."

"Ich glaube nicht, dass sie gern an Luba erinnert wird."

"Warum nicht? Er war ein Freund, mit dem es nicht geklappt hat. Nicht mehr und nicht weniger."

Bevor sie antwortete, drückte sie die Zigarette mit unnötiger Kraft aus. "Na schön, warten Sie einen Moment!"

Als sie ins Zimmer zurückkam, legte sie ihm wortlos eine Heiratsanzeige hin. Helmut Markowski - Sonja Markowski, geborene Wachsmann. Hamburg, Twietenredder 19. Trauung am 26. März 1980. Während er die Angaben in sein Notizbuch übertrug, betrachtete sie ihn unschlüssig, und als er unerwartet hochschaute, zuckte sie ärgerlich die Achseln: "Sie wohnt dort immer noch. Ab und zu telefonieren wir miteinander."

"Dann haben Sie auch die Nummer...?"

"Sie sind ein Quälgeist."

"Aber ein netter!“, beharrte er, und so recht konnte er ihr schmales Lächeln nicht deuten. "Sie haben eben noch eine Kollegin erwähnt, die wohl die Verruchte spielte. Können Sie sich noch an ihren Namen erinnern?"

"Muss das sein...?"

"Muss nicht, aber es wäre schön."

Eine halbe Minute fixierte sie ihn aufgebracht, dann seufzte sie tief und ging wieder aus dem Zimmer. Ihren bösen Blick nahm er nicht so ernst, die meisten Menschen sträubten sich anfangs, erzählten dann aber gern aus ihrem Leben.

"Hier. Das war sie..." Zwei Schwarz-Weiß-Fotos, in der Bar mit viel Zuviel Blitzlicht aufgenommen, die drei Frauen sahen in die Kamera, als gehe es zur Hinrichtung, und dazu passten die kalkweißen, kontrastarmen Gesichter. Er lächelte in sich hinein: Was damals als leicht verrucht und verboten galt, lockte heute keinen Zwölfjährigen mehr. Allein diese Frisuren!

"Das war sie... sie sprach Dialekt und hatte richtig etwas Last mit dem Hochdeutschen... die Kunden mochten sie, weil sie ungeheuer was vertrug, ohne... damals nannte sie sich Lindy. heute heißt sie wieder Lilo, Lilo Schultheiß."

"Wissen Sie, wo ich sie finden könnte?"

"Aber ja!" Das Lachen klang nicht sehr fröhlich. "Sie hat gut geheiratet, einen wesentlich älteren Mann, der bald gestorben ist und ihr eine Menge hinterlassen hat. Daraufhin hat sie wieder ihren Mädchennamen angenommen."

"Kennen Sie die Anschrift?"

"Irgendwo Im Rosengarten."

Keine schlechte Adresse. "Aber Sie haben keinen Kontakt mehr zu ihr?"

Jetzt sprach ihr Blick Bände. "Nein. Ich bin Vergangenheit - verstehen Sie? -und sie legt viel Wert auf ihren guten Ruf."

"Ich habe kapiert."

"Na, hoffentlich."

Sein Glück blieb ihm treu, Sonja Markowski, geborene Wachsmann, nahm nach dem zweiten Läuten ab, und als er seine Geschichte erzählt hatte, blieb sie lange stumm. Weil es keinen Zweck hatte, sie zu drängen, träumte er in den dämmrigen Lichtschacht hinaus, die meisten Angestellten waren schon gegangen, nach 19 Uhr hatte er fast das ganze Bürogebäude für sich alleine. Bei "Anielda. Zukunftsfragen auf wissenschaftlicher Basis" hatte er unter der Tür gegenüber noch einen Lichtstreifen gesehen.

"Ach du meine Güte - Luba." Sie sagte es halb verwundert, halb atemlos. "Und sein Bruder Joachim sucht ihn?"

"Ja. Der Bruder ist schwer krank, wissen Sie."

"Ja, ich erinnere mich. Nein, Herr Kramer, tut mir Leid, ich weiß auch nicht, wo Luba jetzt steckt."

"Wann haben Sie denn zum letzten Mal von ihm gehört?"

"Das ist lange her, bestimmt sieben Jahre. Wenn nicht länger. Damals hat er mir einen Brief geschrieben, der aber mehrere Monate unterwegs war, ja, das war eine komische Geschichte, alle möglichen Leute hatten den Brief an die nächste Adresse weitergeschickt."

"Frau Markowski, haben Sie den Brief noch?"

"Ja", gestand sie, aber sehr zögernd, und er drückte sich die Daumen: "Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir den Brief oder eine Kopie zu schicken?"

"Den Brief. Oder eine Kopie", wiederholte sie langsam.

"Bitte!"

Ihr Seufzer verwunderte ihn, aber nach langem Zögern ließ sie sich seine Anschrift diktieren.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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