Читать книгу Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten - Horst Bieber - Страница 7

Erster Freitag

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Die Halle war so düster wie eine Grabkapelle und auch so kalt. Entlang der Wände standen Bodenvasen aus grauem Ton mit unnatürlich strammen Plastikblumen, vornehmlich fahlweißen Lilien. Es roch scharf nach Desinfektionsmitteln, und die grauen Steinfliesen glänzten vor tückischer Glätte und Sauberkeit. Irgendwo murmelte eine weinerliche Stimme monoton immer wieder dieselben, unverständlichen Sätze.

Vorsichtig ging Kramer auf das kleine Fenster in der linken Wand zu. Dahinter saß eine magere Frau in einem weißen Kittel und Häubchen an einem Tisch und sortierte Post. Als er sich räusperte und an das Glas klopfte, schaute sie unwillig hoch. Ihr faltiges Gesicht war verkniffen und vor Abneigung hässlich. Dass sie den Arm ausstrecken und das Fensterchen öffnen musste, nahm sie ihm persönlich übel.

"Ja? Sie wünschen?"

"Guten Morgen", antwortete er betont, doch ihre Mundwinkel senkten sich nur für einen Moment. "Ich bin mit Herrn Joachim Baldur verabredet."

"Ihr Name?"

Darauf lächelte er nur spöttisch. Aus dem kleinen Raum wehte es ihn säuerlich an, und er sah, wie sich ihre Hand um den Brief krallte.

"Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen."

"Entschuldigen Sie bitte, habe ich mich verirrt? Das ist doch das Seniorenheim Abendfrieden?"

"Natürlich ist das hier Haus Abendfrieden! Was soll der Blödsinn?"

"Ach, einen Augenblick habe ich befürchtet, das sei die Justizvollzugsanstalt. Weil Sie mich nach meinem Namen gefragt haben. Das ist dort so üblich."

Unter ihren Fingern knisterte der Brief bedrohlich, sie warf ihn auf den Tisch. Eine hektische Röte schoss ihr ins Gesicht, aber weil er ihrem Blick nicht auswich, griff sie plötzlich nach dem Telefon und hackte wütend auf die Tasten.

"Herr Baldur? Ihr Besuch ist da. Ja."

Sie knallte den Hörer hin und fauchte: "Er kommt gleich runter. Warten Sie dort!" Ihr Finger deutete überall hin.

"Der Friede des Abends verzehrt den Hass und die Hast des Tages und stimmt auf die Freuden der Nacht ein", deklamierte er weihevoll. "Ein alter chinesischer Spruch, ich finde ihn schön, Sie nicht auch?"

Statt einer Antwort knallte sie das Fensterchen zu, und Kramer schlidderte, die Mundwinkel eingeklemmt, auf zwei einsame Stühle nahe der Treppe zu.

Während er Stufe für Stufe bewältigte, musste sich Joachim Baldur mit beiden Händen am Treppengeländer festhalten. Er war groß und hager, mehr als mager, beinahe ausgemergelt, und tiefe Furchen auf seinem ohnehin schmalen, knochigen Gesicht zeigten jedem, der es nur sehen wollte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Das weiße Haar war dünn geworden, die fleckige Pergamenthaut an den schmalen, kraftlosen Fingern schien durchsichtig, und als er mit trüben Augen in Kramers Richtung lächelte, zitterten seine blutleeren Lippen.

"Herr Kramer?"

"Ja, das bin ich. Guten Tag, Herr Baldur."

"Guten Tag. Ich freue mich, dass Sie so schnell gekommen sind."

Seine Stimme war einmal voll und tief gewesen, und obwohl er jetzt leise sprach, fast flüsterte, klang noch etwas von früherem Charme und ehemaliger Festigkeit durch.

"Wir gehen am besten in den Garten. In diesem Mausoleum erfrieren auch Gesunde. Oder verfallen in Depressionen."

Eine Schwingtür mit Milchglasscheiben führte in den Park hinter dem Gebäude, aber den düsteren Eindruck der Halle konnten auch Wärme und Helligkeit draußen nicht so schnell verscheuchen. Auf grünen Holzbänken saßen alte Leute fest eingepackt in der Sonne, regungslos wie Mumien. Andere tasteten sich an Stöcken und Rollatoren voran. Bis auf die Vögel, das Schlurfen auf dem Kies und das leise permanente Rauschen der Autobahn auf der anderen Seite des Tales herrschte eine bedrückende Stille.

"Echte Blumen", kicherte Baldur unvermittelt, und Kramer schmunzelte anerkennend: Denselben Gedanken hatte er eben auch gehabt. Gepflegt war der Park, kein Zweifel, aber auch steril bis auf den letzten Quadratzentimeter perfekt geschorenen Rasens. Unzugänglich, und daran waren nicht nur die schweigenden Benutzer schuld.

"Setzen wir uns? Meine Beine gehorchen nicht mehr so, ich muss leider an den Rückweg denken."

"Gerne, wie Sie wollen."

Nach zwei Minuten atmete Baldur wieder normal. Im Schatten der Buche war es auszuhalten, und von dem Brunnen vor ihnen, in dem ein zittriger Wasserstrahl sich gerade über die Umrandung erhob, wehte etwas Feuchte zu ihnen herüber.

"Ich möchte Sie engagieren, Herr Kramer. Sie sollen etwas für mich erledigen, das ich - nun ja-, das ich nicht mehr schaffe. Der Körper will nicht mehr, und dummerweise hat der auch verdammt viel Einfluss auf den Geist, ich ermüde so rasch, dass es mich selbst beschämt."

Geduldig lehnte Kramer sich zurück. Er hatte keine Eile, und er würde hier, das stand fest, einige Zeit brauchen.

"Sie sollen meinen Bruder Ludwig für mich finden. Ich muss ihn - ich möchte ihn noch einmal sprechen, bevor ich zur letzten Reise aufgefordert werde. Was bald der Fall sein wird." Fast belustigt schaute er auf Kramer, der Block und Kugelschreiber hervorholte. "Es wird aber eine lange Geschichte."

"Das macht nichts, Herr Baldur."

"Ich bin 1940 geboren, zwei Jahre vor meinem Bruder Ludwig."

Nur mit Mühe verbarg er seine Bestürzung. Dann war Joachim Baldur 74 Jahre alt, aber er hätte ihn ohne Zögern auf zehn, fünfzehn Jahre älter geschätzt.

"Sie denken jetzt, der ist für etwas über 70 etwas arg klapprig, wie?"

"Sie sind krank."

"Ja, seit drei Jahren weiß ich es, aber der Herrgott verschweigt mir leider, wieviele Monate er mir noch geben will. Trotz der Ärzte, die mich immer beruhigen wollen, hab' ich so das Gefühl, es eilt mittlerweile." Dem letzten Satz lauschte Baldur nach. "An manchen Tagen geht es ja noch, aber manchmal, so wie heute..."

"Erzählen Sie mir etwas über Ihren Bruder Ludwig?"

"Das ist eine komplizierte Geschichte. Eine traurige vor allem - zum Schluss wenigstens - wir haben uns gut verstanden, doch, das darf ich behaupten. Mein Vater hatte eine Fabrik aufgebaut, am Kanal, Selatan Fußbodenbeläge, vielleicht kennen Sie das Unternehmen."

"Nur vom Sehen, Herr Baldur."

"Wir arbeiteten beide in der Firma, ich hatte immer mehr Spaß an Zahlen und kümmerte mich deshalb um die finanzielle Seite. Ludwig hasste Bilanzen und hockte Tage und Nächte mit seinen Leuten im Labor, Vater wollte immer, dass er Chemie studierte, aber das war Ludwig zu langweilig oder zu theoretisch, er mixte lieber in seinen Tiegeln und Kesseln rum, und was immer rauskam - es war zäh, ließ sich gießen oder ausstreichen und aushärten."

"Also Fußbodenbeläge."

Baldur lachte kurz, was in einen heiseren Husten überging. Es hörte sich nicht gut an.

"Genau. Aber nicht nur, auch Kunstharze und Leime, ja, auch das, Selatan blühte, wuchs und gedieh. Zur Freude meines Vaters. Der liebte das Geld, oh ja, er hatte das Werk aufgebaut, sich sehr krumm legen müssen, und er war froh, dass sich seine beiden Söhne so gut verstanden. Nein, er war glücklich."

"Bis was geschah, Herr Baldur?"

"Ja, Sie haben's erraten. Bis irgendwann 1961, kurz vor dem Mauerbau, eine Laborantin aus Bitterfeld in den Westen floh und bei Selatan eine Stelle fand. Edith hieß sie, Edith Troy." Er buchstabierte den Namen. "Die rote Edith, sie hatte feuerrote Haare, müssen Sie wissen, und ein Temperament für zwei ..."

Zwei gebeugte alte Frauen schlurften Arm in Arm an ihrer Bank vorbei und warfen Kramer neugierige Blicke zu. Baldur wartete, bis sie außer Hörweite waren, und schniefte.

"Temperament und Schönheit und Witz und Energie - wir haben uns beide unsterblich in sie verliebt. Zwei ernsthafte, strebsame junge Männer, sehr moralisch erzogen, die plötzlich entdeckten, dass es noch etwas anderes gab als die Firma, als Gewinn oder Produktionserweiterung." Hinter aller Bitterkeit schwang Sehnsucht mit, und Kramer ließ sich viel Zeit mit seiner nächsten Frage.

"Wie hat Edith sich verhalten?"

"Sie konnte sich nicht entscheiden. Oder wollte nicht, ich weiß es nicht mehr. Bevor sie sich band, wollte sie ihr Leben genießen, damit hat sie uns hingehalten. Reisen, tanzen, flirten, alles nachholen, was sie bis dahin versäumt hatte, sie besaß ja Energie für zwei und Lebenshunger für drei."

"Wie alt war sie, Herr Baldur?"

"Als sie zu uns kam? - 25 Jahre." Er stöhnte leise und schöpfte drei-, viermal tief Luft. "Über ein Jahr ging das so, dann gerieten Ludwig und ich uns in die Wolle. Bis dahin hatte jeder gehofft, sie würde sich für ihn entscheiden, doch dann war klar: Sie hielt uns hin. Oder lachte uns aus. Dann, eines Tages, habe ich von Ludwig verlangt, er solle auf Edith verzichten, aber er begann zu schreien, warum er, ich sollte verzichten, nie würde er Edith hergeben, wir haben uns geprügelt, und ich, ich war etwas stärker als er, er rappelte sich auf und drohte, bevor Edith mich heiratete, würde er sie umbringen. Ja, lieber sollte sie sterben als meine Frau werden." Er sah Kramer von der Seite an, selbst erschrocken über den Hass, der sich in diesen Sätzen offenbarte.

"Wann war denn dieser Streit?"

"Den Tag werde ich nie vergessen. Am Montag, den 10. September 1962, zwischen 16.00 und 16.30 Uhr."

Baldur fuhr schwerfällig fort: "Zwischen 17.00 und 19.00 Uhr am selben Tag hat Ludwig dann Edith getötet."

"Ihr Bruder hat ...?"

"Er hat geleugnet, ja, bis zum letzten Moment, aber das Gericht hat ihn wegen Totschlags zu zwölf Jahren verurteilt. Am 17. Januar 1963, das war ein Donnerstag. Nach diesem Tag der Urteilsverkündung habe ich ihn nie wieder gesehen. Früher habe ich auch immer über den Satz gelacht: Der Kummer brach ihm das Herz. Kitschig, nicht wahr? Aber mein Vater starb sechs Monate nach dem Urteil, und ein halbes Jahr später habe ich die Firma verkauft. Denn die Arbeit machte keinen Spaß mehr, mir fehlte Ludwig. Ludwig und seine Erfindungen und seine verrückten Ideen, nein, es gab keinen Ersatz für ihn. Oder ich wollte ihn nicht wirklich finden. Anfang 1964 bin ich fortgegangen."

Sicherlich nicht als armer Mann, auch wenn die Hälfte der Verkaufssumme für den Bruder und Miterben Ludwig reserviert blieb.

"Ludwig hat die zwölf Jahre bis auf den letzten Tag absitzen müssen. Unser Anwalt, der auch seinen Anteil verwaltete, hat es mir geschrieben - nein, fragen Sie mich nicht, warum er nicht auf Reststrafen-Bewährung entlassen wurde, ich weiß es nicht und wollte es auch nie wissen. Ich hatte Ludwig aus meinem Leben gestrichen. Doch als dann mein Arzt ..."

Schwer atmend brach er ab. Kramer wartete geduldig, bis Baldur weitersprechen konnte: "Suchen Sie meinen Bruder und sagen Sie ihm, Joachim würde ihn gern sprechen. Ich bin kein armer Mann, am Geld soll es nicht scheitern, und das einzige, was ich mir nicht mehr kaufen kann, ist Zeit, Herr Kramer."

Danach versank er in Schweigen, und als Kramer ihn endlich anschaute, sah er, dass Baldur die Augen geschlossen hatte. Die Lippen presste er fest zusammen, als kämpfe er einen Schmerz nieder, den er niemandem zeigen wollte.

"Einverstanden, Herr Baldur. Ich komme morgen wieder."

"Ja...ja..., ich danke Ihnen. Morgen."

An der Schwingtür blieb er stehen und drehte sich nach Baldur um. Ein Paar, merklich jünger als die Heimbewohner, ging schnell auf die Bank zu, als habe es nur darauf gewartet, dass Kramer endlich abzog; sie setzte sich neben Baldur, der sich nicht bewegte, und begann hastig auf ihn einzureden, während der Mann drohend nach links und rechts schaute, als wolle er jeden Störenfried einschüchtern, besonders zwei alten Frauen, die sich aber nicht abschrecken ließen und ihn regelrecht anrempelten, als sie auf ihrem ewigen Rundkurs an der Bank vorbeitorkelten. Doch der Kranke reagierte nicht auf die Worte der Frau, sie hielt inne, musterte Baldur zornig und stand langsam auf. Gegen den Schmerz und die Mattigkeit war sie machtlos, auch ihr Begleiter zuckte ungehalten die Achseln.

Kramer wunderte sich, das Paar war ihm vorher nicht aufgefallen, aber als es sich zum Ausgang wandte, drückte er schnell die Schwingtür auf. Die beiden hatten nicht so ausgesehen, als unterhielten sie sich gern mit Baldur.

In der Halle fröstelte er und achtete nicht auf die Schwester hinter dem Fensterchen, die ihm böse nachblickte. Aber weil Neugier nun einmal zu seinen unheilbaren Berufskrankheiten zählte, trödelte er eine Zeit auf dem Parkplatz, halb hinter seinem Auto versteckt, und schielte zu dem Paar hinüber, das ihn nicht bemerkt hatte und nun in einen Kleinwagen stieg. Mann und Frau mochten Anfang bis Mitte fünfzig sein, und so unauffällig er war, so sehr beeindruckte sie ihn: energisch und von einer herben Attraktivität, die nichts mit den Lebensjahren zu tun hatte. Neben ihr wirkte der kleinere, dickliche Mann grau, unscheinbar und bedeutungslos, und Kramer schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihn duldete, weil sie ihn beherrschte und jederzeit wegschicken konnte.

Dagegen leugnete der Kleinwagen mit dem Lattenburger Kennzeichen weder Alter noch Schwäche.

Bis in die Stadt brauchte er zwanzig Minuten, in der Gegenrichtung schlich schon der Berufsverkehr, und irgendwann einmal würde er sich auch eine Viereinhalbtage-Woche leisten dürfen. Werlebach war in den letzten Jahren gewachsen, schon längst kein Dorf mehr, und ein Sterbeheim wie Haus Abendfrieden konnte seine Plätze wohl füllen. Schließlich verfügte es über die richtige Entfernung zur Stadt Tellheim: Nicht so weit, dass die Insassen den Vorwurf erheben konnten, man habe sie in die Pampa abgeschoben, aber auch nicht nah genug, um jeden Tag zum Besuch dorthin zu fahren. In dem Park hätte er es nicht viel länger ausgehalten, und bei dem Gedanken, dort einmal zu landen, weil sich kein Mensch um ihn kümmerte, lief es ihm kalt über den Rücken.

Regine März, von ihren Freunden und Bewunderern "Gina" genannt, betrachtete ihn halb vorwurfsvoll, halb schwermütig, die Hände gefaltet, und seufzte leise. Das konnte sie hervorragend, einen Mann ohne Worte in die Schranken zu weisen, und es gab viele Männer, die sie abwehren musste, beruflich ohnehin und privat wohl noch häufiger.

"Komm, sei nett!", lockte er. "Nur zehn Minuten, das Gericht macht doch jetzt Mittagspause."

"Pause ist genau das richtige Wort, lieber Rolf. Auch ein Anwalt braucht seine Ruhe."

"Dann warte ich hier auf einem harten Stuhl, verzehre mich in Sehnsucht nach dir und hoffe, dass er eine lange Erholungszeit benötigt."

Das hatte er nur halb gelogen. Gina war eine wunderschöne Blondine mit großen, blauen Augen und der seltenen Gabe, melancholisch zu lächeln und dabei noch schöner auszusehen. Er wusste, dass sie tüchtig war, zuverlässig und fast grenzenlos belastbar, er hatte noch nie erlebt, dass sie nervös oder gar hektisch wurde, in der Arbeit ertrank oder keine Zeit für einen Besucher der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Christian Bülow besaß. Auf die offizielle und altmodische Bezeichnung "Bürovorsteherin" legte sie großen Wert, und er rechnete es sich zur Ehre an, dass er sie Gina nennen und duzen durfte.

"Du bist ein Quälgeist", murmelte sie und stand auf.

"Erzähl' ihm, dass ich gerade bei Baldur gewesen bin."

Doch auf diese Neuigkeit reagierte Dr. Christian Bülow gar nicht begeistert.

"Sie meinen - bei Joachim Baldur?"

"Ja, Sie haben mich doch empfohlen?"

Nach zehn Sekunden Bedenkzeit griente Bülow schräg: "Nein, so kann man das nicht sagen. Mein Vater hat den Bruder Ludwig verteidigt, und als Joachim hier erschien und sich nach seinem Bruder erkundigte, konnte ich ihm nicht sagen, wo der sich aufhielt."

"Was er Ihnen nicht geglaubt hat."

"Nei - ein. Dabei war es die reine Wahrheit. Und nur weil er nicht lockerlässt, mich immer wieder einmal anruft, habe ich gestern vorgeschlagen, er solle doch einen Privatdetektiv engagieren. Dabei fiel mir Ihr Name ein."

"Wofür ich mich herzlich bedanke."

"Bitte, bitte, gern geschehen." Bülow rieb sich die Augen. "Das ist ein alter und unglücklicher Fall, abgeschlossen und gern vergessen. Reiner Zufall, dass ich die Akten noch im Keller gefunden habe."

Darauf wollte Kramer lieber nicht antworten. Möglich, dass sich ein Anwalt nicht gern an verlorene Prozesse erinnerte, auch nicht an die seines Vaters, aber von Bülow Junior wusste er aus eigener Erfahrung und von Bülow Senior hatte er sich erzählen lassen, dass sie neugierige Menschen waren, eine Eigenschaft, die er zumindest am Sohne rückhaltlos guthieß, weil sie ihm ab und zu lukrative Aufträge bescherte.

Als Bülow ihn nachdenklich anschaute, erlaubte Kramer sich ein schwaches Lächeln: "Trotzdem wage ich die Behauptung, dass Sie schon gern wüssten, wo sich Ludwig Baldur heute aufhält."

"Ach, man soll nur lügen, wenn's sich lohnt. Ja, das wüsste ich schon gern."

"Deshalb haben Sie auch die alten Akten studiert."

"Habe ich, ja."

"So dass Sie genau wissen, an welchem Tag Ludwig Baldur aus welcher Haftanstalt an welche Adresse entlassen worden ist."

Kopfschüttelnd fischte Bülow aus einem Aktenstapel ein einzelnes Blatt: "Sie und Ihre Hartnäckigkeit."

Viel hatte er nicht aufgeschrieben: Ludwig Baldur - entlassen am 15. September 1974 aus der JVA Zeilimburg - Limbacherweg 18.

"Warum hat er die zwölf Jahre bis auf den letzten Tag abbrummen müssen?"

Bevor er antwortete, goss sich Bülow Kaffee ein, warf eine Süßstofftablette in die Tasse und rührte sinnlos lange um.

"Also gut. Er war ein schwieriger Häftling. Renitent, aufsässig, an der Grenze zur Gewalttätigkeit. Viele werden ruhig oder auch apathisch, aber er randalierte und stänkerte bis zur letzten Stunde."

"Gab es einen Grund für dieses Verhalten?"

"Er wollte sich mit einem Justizirrtum nicht abfinden."

"War es denn einer?"

Endlich legte der Anwalt den Löffel zur Seite. "Ich weiß es nicht, Herr Kramer. Auch mein Vater, der ihn damals verteidigte, wusste es nicht. Ludwig Baldur war ein - wie formuliere ich es? - ein schwieriger Mandant. Bis zu seiner Festnahme eher ein ruhiger, etwas versponnener Typ. Nicht weltfremd, aber mit den Gedanken immer irgendwo anders. Nach der Festnahme - also, von einer Minute auf die andere wurde er ein anderer Mensch, unbeherrscht, laut, rechthaberisch, empört, unhöflich, ungeduldig..."

"Also genau das, was der Vorsitzende einer Großen Strafkammer schätzt?"

"Ja, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Was immer Ludwig an Chancen in der Verhandlung hatte - es wurde schließlich ein reiner Indizienprozess -, das machte er sich durch sein Auftreten zunichte."

Zweifellos war das nur die Hälfte von dem, was Bülow gerade dachte. Seinem Vater war es nicht gelungen, einen aufsässigen Mandanten zur Vernunft zu bringen, und einen Prozess nur deshalb zu verlieren, weil der Mandant nicht mitspielte und die Ratschläge seines Anwaltes missachtete, musste lange Zeit schmerzen.

"Ich verstehe. Und diese Adresse, Limbacherweg 18 - können Sie mir dazu etwas sagen?"

"Ja. Eine schöne Jugendstilvilla, der alte Baldur hatte sie für seine Söhne gekauft und umgebaut. Als er starb, erbte Joachim die eine Hälfte, und er hat Ihnen sicherlich erzählt, dass er sechs Monate später die Firma verkauft hat."

"Ja. Ohne Ludwig kam er nicht klar."

"Joachim hat sich sehr anständig verhalten. Seine Hälfte der Villa hat er wenig später verkauft und dafür gesorgt, dass die andere Hälfte seinem Bruder Joachim erhalten blieb. Ludwig hatte also bei seiner Entlassung eine feste Adresse, aber dort hat es ihn nicht gehalten. Sechs oder sieben Monate später hat er seine Hälfte ebenfalls verkauft, und wohin er dann gegangen ist, weiß keiner."

"Bei seiner Entlassung war er ein reicher Mann, nicht wahr?"

"Oh ja. Sein Anteil aus dem Firmenverkauf war gut angelegt, dazu der Erlös der Villenhälfte, nein, er war mehrfacher Millionär." Zögernd griff Bülow wieder in den Aktenstapel und reichte Kramer eine Photokopie. "Sein letztes Lebenszeichen an meinen Vater."

Sehr geehrter Herr Dr. Bülow,

wie ich Ihnen schon bei unserem letzten Gespräch sagte, werde ich verreisen. Vorerst nur verreisen, um zu sehen, in welchem Land der Erde ich mich niederlassen kann. In dem Unrechtsstaat Bundesrepublik auch noch Steuern zu zahlen, das übersteigt meinen Sinn für Humor. Für Ihre Mühe möchte ich Ihnen danken, und für den Ärger, den ich Ihnen oft bereitet habe, bitte ich um Entschuldigung. Wir werden uns nicht wiedersehen. Leben Sie wohl,

Ihr Ludwig Baldur.

Geschrieben am 8. Mai 1975. Langsam faltete er das Blatt und steckte es ein.

"Vielen Dank, Herr Rechtsanwalt."

Bülow nickte schwerfällig. Einen Groschen für seine Gedanken, überlegte Kramer amüsiert, aber er wusste, dass der Anwalt ihm schon mehr gesagt hatte, als er einem anderen anvertrauen würde. Doch als Kramer aufstand, winkte Bülow verlegen ab: "Einen Moment noch, Herr Kramer. Bitte. Vielleicht hilft es Ihnen - Ludwig ist sehr tief gefallen. Zu tief und zu schnell, um es zu verkraften. Die wenigen, die sich nach seiner Verhaftung noch als seine Freunde bekannten, haben ihn als glücklichen Idealisten bezeichnet - eine merkwürdige Definition, nicht wahr?"

"Ungewöhnlich, ja."

"Wenn sie stimmt, hat er mehr als andere Angeklagte verloren."

Wer formulierte da gerade? - der Vater oder der Sohn? Doch Bülow wich seinem Blick aus und trank endlich den kalt gewordenen Kaffee.

Gina seufzte ergeben, als er ihr eine bühnenreife Kusshand zuwarf und die beiden weiblichen Azubis unbändig loskicherten.

Die Innenstadt glühte, und selbst in dem alten verwinkelten Bürogebäude hatte sich eine miefige Schwüle eingenistet, gegen die kein Lüften und kein Durchzug ankamen. Der Aufzug knarrte so erbarmungswürdig, dass er lieber die Treppe hochlief. Irgendwann hatten die Eigentümer den Zeitpunkt verpasst, zu dem sich dieser Kaninchenbau noch wirklich renovieren ließ, jetzt konnten die Handwerker nur noch den Verfall aufhalten. Wer sich hier niederließ, dokumentierte inzwischen unfreiwillig, dass seine Geschäfte mäßig liefen. Hier wurde nicht das große Geld verdient, sondern sorgenvoll nachgerechnet, ob es kommenden Monat noch zu Miete und Rentenversicherung langte.

Die "Privatdetektei Rolf Kramer" machte keine Ausnahme.

Er riss das Fenster zum Lichtschacht auf, den die Verwaltung hartnäckig "Innenhof" nannte, um die Mieten zu treiben. Überall standen die Fenster weit auf, und der Schacht verstärkte die Geräusche aus den Büros.

Unzufrieden setzte er sich an den Computer und tippte herunter, was er von Joachim Baldur und Christian Bülow erfahren hatte. Weshalb er immer korrekte Akten anlegte und führte, hätte er nicht begründen können, vielleicht war es eine Angewohnheit aus seiner Kaufmannslehre, wahrscheinlicher aber der Wunsch, nie den Anschein von Achtsamkeit und Ehrbarkeit zu verletzen, den zu wahren er umso dringender verspürte, je massiver er bei seinen Recherchen gegen Gesetz und Anstand verstoßen musste. So tröstete er sich jedenfalls über viele mühevolle Stunden hinweg, in denen er wartete, auf Kunden, auf Leute, die er beschattete, auf Personen, von denen er sich Informationen erhoffte.

Das letzte der vier Büros auf dem linken Seitenflügel, erster Stock, Hofseite, belegte "Dr. Harald Posipil, Ahnenforschung". Kramer lachte belustigt auf, als er Posipils Arbeitsraum betrat. Entlang der Wände standen acht Ölbilder auf dem Boden, eines prächtiger als das andere, würdevolle Damen und Herren, die eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen, aber so aussahen, als würden sie die lieber leugnen.

"Großartig", lobte er spontan, und Posipil verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Findest du?"

"Und die Rahmen erst!"

"Ja, die sind wirklich alt. Soballa heißt die Familie, Oberschlesien, bessere Kreise, behauptet der Ururenkel."

"Was macht der?"

"Der macht in Gummi. Handschuhe, Kondome und Flaschendichtungen. Schwimmt in Geld und hat nun entdeckt, dass ihm die Vergangenheit fehlt."

"Hast du sie gefunden?"

"Teils - teils." Posipil grunzte ärgerlich. "Er hat Abschriften aus Kirchenbüchern mitgebracht. Ariernachweis seines Vaters im Dritten Reich, sagt er. Na ja, ich muss ja nicht alles glauben, was man mir so erzählt. Und Fotos hatte er auch dabei, weißt du, ich hab' lieber nicht so genau hingeschaut."

Man musste ihn schon lange kennen, um zu begreifen, dass Posipil kein Scharlatan war, sondern nur ein großer Zyniker. In seinem früheren Leben, wie er es selbstironisch abtat, war der promovierte Historiker ein ordentlicher Mensch gewesen, Beamter im Archivdienst des Landes, vielleicht etwas zu sehr in seine Arbeit versponnen. Denn eines Tages verließ ihn seine Frau wegen eines anderen Mannes, eines "richtigen Mannes", wie sie ihn in ihrem Abschiedsbrief kränkte. Der Schock warf Posipil aus der Bahn, er quittierte den Dienst, verkaufte sein Reihenhaus, gondelte durch die Südsee und tauchte eines Tages unvermutet wieder auf. Seitdem betrieb er Ahnenforschung, seriös, wenn es gewünscht wurde, phantasievoll, wenn er dafür bezahlt wurde. Mit verträumtem Gesicht hockte er vor seinem Computer und recherchierte in Datenbanken rund um die Welt herum, er kannte sich in Archiven, Dokumentationszentren, Bibliotheken und Behörden aus, war bei der Presse geduldet, unter Fachleuten anerkannt und bei Behörden eher gefürchtet, weil er wusste, wie man die Zugangssperren und Sicherungen amtlicher Dateien überlistete und sich dort so heimlich wie gründlich informierte. Gegen die Bezeichnung Hacker wehrte er sich. Weil er aber verlernt hatte, sich selber ernst zu nehmen, konnte ein Ururenkel Soballa bei ihm Bilder längst verstorbener und nie fotografierter Ahnen bestellen, auch das besorgte Posipil unbewegten Gesichts, und der nicht gestorbene Profi in ihm sorgte dafür, dass der Firnis auf den Ölportraits bei jeder Prüfung als alt durchging.

"Was kann ich für dich tun?"

"Am 17. Januar 1963 ist hier vom Landgericht ein Ludwig Baldur wegen Totschlags zu zwölf Jahren verurteilt worden. Alles über den Prozess, über Baldurs Bruder Joachim und das Opfer Edith Troy. Sie stammte aus Bitterfeld und ist 1961 kurz vor dem Bau der Mauer rübergekommen."

"Sehr eilig?"

"Nein. Es eilt wirklich nicht. Außerdem eine kleine Rundfrage: Wo ist Ludwig Baldur, Jahrgang 1942, heute gemeldet?"

"Okay." Posipil besaß ein Elefantengedächtnis, er musste nichts notieren.

Die "Handschelle" war eine gemütliche Kneipe in einer nicht für alle Gäste gemütlichen Nachbarschaft. In der nächsten Querstraße links lag das Amtsgericht, in der Querstraße rechts das Landgericht, und das Untersuchungs-Gefängnis am anderen Ende des Blocks verband die beiden Gebäudetrakte. Dank der Lage hatte sich Holger Weisbart, der Gerichtsreporter des Tageblatts, die "Handschelle" zum Stammlokal erkoren, nicht zur ungetrübten Freude der Wirtin, die an Holger zwar die Zeche schätzte, seine Artikel aber als verbrecherische Anschläge auf die deutsche Sprache, Syntax und Grammatik verabscheute. Aus Erfahrung gewitzt hütete sich Kramer, in den immer lautstarken Auseinandersetzungen Partei zu ergreifen, was meistens zur Folge gehabt hatte, dass zum Schluss beide vereint über ihn hergefallen waren.

Heute Abend schien Holger friedlich gestimmt, hockte noch nüchtern am Tresen und diskutierte mit Gudrun, der studierten Germanistin und "Handschellen"-Wirtin, die Vor- und Nachteile der Ehe in steuerrechtlicher, finanzieller und kriminologischer Hinsicht, wobei er für eine erhebliche Senkung der Gerichtsgebühren in Scheidungsfällen plädierte, um die spürbar wachsende Versuchung, diese Ausgabe durch gewisse drastische Methoden zu sparen, möglichst gering zu halten. Dass sich Gudrun bei seinen Worten immer wieder an die Stirn tippte, galt zwischen ihnen nicht als Beleidigung, sondern wurde als Kurzform der Verständigung akzeptiert.

"Weinschorle, Rolf, wie immer?", unterbrach sie rüde Weisbarts Monolog.

"Wie immer, Gudrun."

"Sieh da, unser Nick Knatterton. Wie läuft das Geschäft, was flüstert die Unterwelt, wo hast du die ganze Zeit gesteckt?"

"Das Geschäft geht schlecht, die Unterwelt schweigt, ich hatte auswärts zu tun."

"Na prima. Ich bin einsam, Gudrun versteht mich wieder nicht, und mein Chefredakteur hat mir wieder eine Gehaltserhöhung abgeschlagen."

"Das hat er nicht persönlich gemeint, sondern dabei voller Fürsorge an deine Leber gedacht."

"So ähnlich geruhte er sich in der Tat zu äußern, aber seine Worte klangen nicht so gewählt."

"Also ein Grund zum Trinken?"

"Immer. Zum Wohl."

An Weisbarts Ton musste man sich erst gewöhnen. Zwar trank er viel, aber der Alkohol hinderte ihn nicht daran, pünktlich und ausdauernd in den Gerichtssälen zu hocken. Dort war er mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund, nicht unbedingt beliebt, aber respektiert, nach mehr als zwanzig Jahren Berufserfahrung erkannte Weisbart so gut wie jeder Vorsitzende, was von Aussagen zu halten war, wo sich eine Revision ankündigte, wer in die Berufung ging. Weisbarts Herz schlug wohl für den Strafprozess, aber er war einer der wenigen begabten Schreiber, die einem Laienpublikum die Feinheiten und Eigenarten eines komplizierten Zivilprozesses verständlich machen konnten. Außerdem kannte er Gott und die Welt, hatte Zugang zu allen Juristen und Polizisten, beutete seine Bekannten gnadenlos aus, wenn er eine Story witterte, konnte nichts für sich behalten und hielt seinen Freunden die Treue. Seit Kramer ihm zu mehreren Exklusivgeschichten verholfen hatte, bei denen Weisbart strikt die versprochene Vertraulichkeit gewahrt hatte, bezeichnete Holger ihn im nüchternen Zustand als Freund und ab dem fünften, sechsten Glas als seinen besten Freund.

Die Horst Bieber Krimi Sammlung 2021: Krimi Paket 8 Romane auf 1500 Seiten

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